In den 1920er Jahren kratzte Toni Simon ihr Erspartes zusammen und eröffnete im Essener Arbeiterviertel Segeroth ein kleines Café, das sie „Café 4711“ nannte. Die Stadtväter von Essen waren davon nicht begeistert. Sie verweigerten Toni die Konzession zum Alkoholausschank und verboten auch das abendliche Tanzen im Café. Doch Toni war 42 und hatte die Verheerungen des Ersten Weltkriegs überstanden. Sie hatte den Sturz des Kaisers erlebt und den Einzug der Demokratie in Deutschland. Sie ließ sich nicht einfach von anderen Leuten vorschreiben, wie sie ihr Leben zu leben hatte. Also wurde in ihrem Café Bier ausgeschenkt und heimlich getanzt. Das Bier gab es in Teetassen. Wenn ein Polizist hereinkam, mussten die Gäste schnell austrinken. Zu später Stunde, wenn weit und breit kein Schutzmann auf Streife zu sehen war, legte Toni eine Schallplatte aufs Grammophon oder schaltete das Radio ein. Tische und Stühle wurden zur Seite gerückt und es wurde getanzt, Frauen mit Männern, Männer mit Männern oder Frauen mit Frauen, ganz wie es ihnen gefiel. Das Café 4711 zog eine bestimmte Kundschaft an; Menschen, die gemäß ihrem tatsächlichen Geschlecht etwas trinken oder Kontakte knüpfen wollten, oder die mit jemandem desselben Geschlechts flirten und tanzen wollten. Sie nippten an ihren Teetassen mit Bier und lasen die aktuellen Ausgaben der Homosexuellenmagazine, die mit der Post aus Berlin kamen, etwa „Freundschaft“ (für Männer) oder „Die Freundin„ (für Frauen). Toni selbst freute sich immer auf „Die Welt der Transvestiten“, eine mehrseitige Rubrik im hinteren Teil der „Freundin“.
Manche Menschen nahmen jedoch bald Anstoß an Tonis Café – Menschen, denen eine solche Lebensweise ein Dorn im Auge war, und davon gab es in den 1920er Jahren einige. Der „Essener Anzeiger“ wetterte gegen das „übelberüchtigte“ Café und behauptete, das dortige Treiben sei so skandalös, dass man es mit Rücksicht auf „das Schamgefühl unserer Leser“ nicht näher beschreiben könne. Ein Café, wie der „Essener Anzeiger“ weiter schimpfte, „wo die ‚Kellnerin‘ ein Mann ist“.
In der Weimarer Zeit gab es auch in Deutschland, wie in den meisten Ländern Gesetze gegen diese „Unsittlichkeit“. Paragraf 183 des Strafgesetzbuchs gegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ und Paragraf 360, der „groben Unfug“ verbot, wurden gegen Menschen verwendet, die in den Augen der Polizei „Kleidung des anderen Geschlechts“ trugen, also Kleidung, die nicht ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht entsprach.
Queere Presse
Dennoch bot Deutschland gegen Ende der zwanziger Jahre mehr als jedes andere Land queeren und trans Menschen die Möglichkeit, ihr Leben so zu leben, wie sie es für richtig hielten. Kein anderes Land auf der Welt hätte die Zeitschriften erlaubt, die Toni gerne las – „Freundschaft“, „Die Freundin“, „Die Welt der Transvestiten“ und noch Dutzende weitere wie „Das 3. Geschlecht“, „Die Insel“ oder „Garçonne“. Die „Freundschaft“ erschien erstmals 1919, nachdem mit der Revolution die Zensur abgeschafft worden war. Im Kaiserreich waren, wie in den meisten anderen Ländern der damaligen Zeit, Druckerzeugnisse zensiert worden, ganz zu schweigen von Filmen und sogar Grammophonplatten, sowohl aus politischen Gründen als auch zum Schutz der „Sittlichkeit“. Für die Revolutionärinnen und Revolutionäre von 1918 war die Zensur ein Instrument der Unterdrückung, daher wurde sie abgeschafft. Konservative Kreise sollten diesen Schritt allerdings schon bald bereuen, weil unter anderem auch Homosexuelle die neue Medienfreiheit nutzten, um sich zu organisieren.
Im Gefolge der Revolution entstand eine ganz neue Medienkultur, beginnend mit „Freundschaft“, einer Zeitschrift für und von schwulen Männern, die in Berlin und anderen großen Städten am Kiosk verkauft oder bei einem Abonnement per Post verschickt wurde. Aufgrund der Kriegsrationierung war Papier nach wie vor knapp, und auf den Straßen tobten noch die blutigen Schlachten der ersten Jahre der Republik, doch „Freundschaft“ verkündete den Anbruch einer neuen Zeit der sexuellen Freiheit. Die Zeitschrift forderte die Aufhebung des Paragrafen 175 und den Zugang zum öffentlichen Dienst für alle Menschen, die man heute als queer bezeichnen würde. Die Macher des Magazins standen für eine neue Form der organisierten Homosexualität und hatten sich im Deutschen Freundschaftsverband zusammengeschlossen. Sie taten sich mit gleichgesinnten Frauen zusammen, mit denen sie sich abends in einem Ballhaus in der Berliner Möckernstraße trafen.
Die neu gewählte Regierung bemühte sich, die Situation in den Griff zu bekommen. Die Filmzensur wurde wieder eingeführt, nachdem Magnus Hirschfeld und Richard Oswald den Stummfilm Anders als die Andern herausgebracht hatten – der erste Film, der das Thema Homosexualität offen behandelte. 1926 verabschiedete der Reichstag das sogenannte Schund- und Schmutzgesetz (die offizielle Bezeichnung lautete „Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften“), doch im Einklang mit dem gegen Zensur gerichteten Ethos der damaligen Zeit war das Gesetz nicht sehr streng. Es verhängte Einschränkungen für die queere Presse, die zwar lästig, aber nicht existenzbedrohend waren. Auf „Freundschaft“ folgten schon bald weitere Magazine für homosexuelle Männer, und ab 1924 „Die Freundin“ für Lesben, die als Beilage auch „Die Welt der Transvestiten“ enthielt, die vermutlich erste Zeitschrift weltweit für und von trans Personen.
„Der Angeklagte in Frauenkleidern“
Durch die Lektüre von „Die Welt der Transvestiten“ erfuhr Toni – wie viele andere –, welche Rechte trans Menschen in der Weimarer Republik besaßen. Zuvor musste Toni jedoch noch Schlimmes durchmachen: Das Unheil nahm seinen Lauf, als Wachtmeister H. das Café 4711 aufsuchte.
Wachtmeister H. von der Essener Polizei – sein voller Name wird in der Presse nicht genannt, es liegen lediglich Initialen vor – schien von den Forderungen nach einer Schließung des Cafés als einer Brutstätte der Unsittlichkeit inspiriert worden zu sein. In Berlin wurden queere Kneipen, Nachtclubs und Cabarets höchst selten von der Polizei kontrolliert, machten ganz offen Werbung in Zeitungen und wurden sogar in Reiseführern genannt. Niemand versuchte, ihnen die Schanklizenz oder die Tanzerlaubnis zu entziehen. In Essen war das anders: Wachtmeister H. ging gegen Toni vor, weil in ihrem Café ohne Genehmigung getanzt, Kleidung des anderen Geschlechts getragen und Alkohol ausgeschenkt wurde. Im Spätsommer oder Herbst 1929 zeigte er sie dreimal wegen des Tragens von Frauenkleidern an, weshalb sie sich schließlich wegen „groben Unfugs“ vor Gericht verantworten musste.
Am 15. August 1929 erschien Toni Simon zur Verhandlung beim Amtsgericht Essen. Zweifellos war sie nervös, während sie darauf wartete, dass ihr Fall verhandelt wurde. Als sich der Vorsitzende schließlich erhob und ihren Namen rief, ging Toni nach vorne und blieb respektvoll stehen, doch der Vorsitzende schien sie nicht zu bemerken.
„Wo ist denn der Angeklagte?“ fragte der Vorsitzende, „rufen Sie ihn herein!“
Niemand rührte sich. Der Blick des Richters fiel auf Toni, die nun in der Mitte des Gerichtssaals stand, in dem es totenstill geworden war. Doch er schien sie immer noch nicht wahrzunehmen, schien nicht zu begreifen.
Toni war natürlich als Frau gekleidet bei Gericht erschienen. Dank der Lektüre von „Die Welt der Transvestiten“ wusste sie, dass eine Person nur wegen „groben Unfugs“ verurteilt werden konnte, wenn sie in der Öffentlichkeit für Aufruhr gesorgt hatte. Doch das war bei Toni nie der Fall gewesen. Sie ging, wohin sie wollte, stets als Frau gekleidet, und niemand nahm je Notiz davon.
„Simon“, sagte sie zu dem immer noch verwirrten Vorsitzenden. „Das bin ich.“
Durch den Gerichtssaal ging ein Raunen. Erregtes Flüstern erhob sich. Zeitungsreporter machten sich wie wild Notizen, und oben auf der Galerie reckten die Leute die Hälse, um besser sehen zu können. Schließlich fand der verblüffte Vorsitzende die Stimme wieder und mahnte energisch zur Ruhe. Dann wandte er sich an Toni: „Wie können Sie sich unterstehen, in dieser Aufmachung hier im Gerichtssaal zu erscheinen?“
„Nun, weil [ich mich] in Frauenkleidern wohler fühl[e] als in Männerkleidung“, erklärte Toni. Sie wollte noch mehr sagen, wie sie später in „Die Freundin“ schrieb: „Ich trage dieselbe nicht zum Spaß, um hierdurch groben Unfug zu verüben. Es ist mir eine unbedingte Notwendigkeit, die Kleidung zu tragen
(…). Mein Seelenleben ist dermaßen von der Kleidung abhängig, so daß der Körper von Tag zu Tag mehr zusammenschrumpft. Wenn man Selbstmordgedanken hegt und immer müde ist, legt man dann wieder Damenkleidung an, so merkt man sofort, wie sich der Körper wieder strafft und aufgefrischt wird und wieder neuer Lebensmut einzieht. Genau wie eine Blume ohne Wasser zusammenschrumpft und nach Erhalt des Wassers sich wieder erholt, so gehts es meinem Körper mit der Frauenkleidung.“
Doch der Richter schnitt ihr das Wort ab. Das Gericht wollte die Anhörung nicht fortsetzen, weil die Angeklagte Frauenkleidung trug. Toni wurde wegen „Ungebühr“ im Gerichtssaal zu einer Ordnungsstrafe von 100 Mark verurteilt, damals eine enorme Summe.
Am nächsten Tag berichteten die Zeitungen hämisch über Tonis Auftreten vor Gericht und schilderten bis ins kleinste Detail ihr Erscheinungsbild, selbst ihr Parfüm – Lavendel – wurde vermerkt. Sie stellten sie als groteske Figur und Hochstaplerin dar. Ihre Füße seien auffallend groß und ihre Stimme männlich. Sie forderten, dass die Polizei das Café 4711 schließen solle. Eine Zeitung druckte eine völlig überzogene Karikatur, wie Toni sich im Gerichtssaal mit Parfüm besprüht, während die Richter wütend zusehen, begleitet von beleidigenden Versen.
Doch Toni ließ sich nicht so leicht einschüchtern. Sie wandte sich an Frauen, die sie als ihre Freundinnen betrachtete, obwohl sie sie nie getroffen hatte: die trans Frauen von Berlin, über die sie in „Die Welt der Transvestiten“ gelesen hatte. In einem Brief an die Zeitschrift bat sie um Unterstützung, nachdem sie ihre Geschichte mit humorvoller Distanz geschildert hatte.
Ihre Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Das Magazin brachte eine Antwort, den Brief einer weiteren Leserin, Liane Franke aus Oberbayern. Liane war ebenfalls eine trans Frau und zeigte sich nicht nur sehr angetan von Tonis Mut, sondern nannte ihr auch einen rechtlichen Ausweg: Personen wie sie konnten bei der Polizei einen Erlaubnisschein beantragen, mit dem sie Frauenkleidung in der Öffentlichkeit tragen durfte. Der Richter in Essen habe keine Ahnung, befand Liane. „Daß Sie als Dame auf der Straße nie auffielen, beweist doch nur, daß Sie eben ganz Frau sind.“
Toni befolgte Lianes Ratschläge. Am 7. November 1929 erschien sie wieder vor Gericht, doch dieses Mal war die Lage anders. Toni legte ein ärztliches Gutachten vor, das sie nach der damaligen Terminologie als „Transvestit“ auswies. Der Arzt riet ihr darin dringend, im Interesse ihrer geistigen Gesundheit Frauenkleidung zu tragen. Sie hatte zwar noch keinen Erlaubnisschein, doch das Gutachten war dafür eine wichtige Voraussetzung. Zusammen mit ihrer eloquenten Erklärung, warum sie Frauenkleidung trug, die das Gericht dieses Mal bereitwillig anhörte, konnte das Gutachten das Gericht überzeugen. Der Staatsanwalt plädierte auf Freispruch, und das Gericht schloss sich ihm an. „Man müßte die Leute eben verstehen lernen, es sind Menschen, die anders sind, als die anderen“, verkündete der Richter laut Tonis Schilderung der Verhandlung, die in „Die Welt der Transvestiten“ abgedruckt wurde. „Da die Polizei heute so großzügig denkt und diesen Leuten sogar einen Transvestitenschein ausstellt, so könnte auch das Gericht nicht umhin und müßte den Angeklagten freisprechen.“ In Essen war das eine Sensation und laut Toni eine „große Reklame für uns Transvestiten. Jetzt weiß jede Person in Essen und den Nachbarstädten, was ein Transvestit ist.“
Umgang mit Trans- und Intergeschlechtlichkeit
Die polizeiliche Erlaubnis zum Tragen von Kleidung des anderen Geschlechts hatte in Europa eine lange Tradition, bevor sie in der Weimarer Republik Furore machte. Die erste Genehmigung geht auf die Zeit Napoleons zurück: Im Jahr 1800 gab die Pariser Polizeipräfektur eine Verordnung heraus, laut der es Frauen erlaubt war, im Interesse ihrer Gesundheit Männerkleidung zu tragen. Der Pariser Polizei war bekannt, dass bereits einige Bürgermeister und lokale Polizeidienststellen Frauen das Tragen von Männerkleidung erlaubt hatten, nun wollte man ein zentralisiertes Verfahren für die Genehmigungen. Offensichtlich mussten viele Frauen bei ihrer Arbeit Männerkleidung tragen, es gab aber wohl auch einige, die schlicht als Männer lebten, obwohl ihnen bei der Geburt ein anderes Geschlecht zugewiesen worden war.
Um 1908 beantragte ein junger Mann aus Hamburg bei der Berliner Polizei die Erlaubnis, Männerkleidung zu tragen. Er hatte fast sein ganzes bisheriges Leben als Mädchen beziehungsweise Frau verbracht, obwohl er sich in allen wesentlichen Aspekten als Mann fühlte. Erst ein Jahr zuvor hatte er begonnen, auch als Mann zu leben. Allem Anschein nach war er der erste Deutsche, der zur Polizei ging, um sich eine entsprechende Erlaubnis zu holen, zumindest erinnerte man sich nicht daran, dass es schon einmal einen solchen Fall gegeben hätte – die Zeitungen, die darüber berichteten, sprachen von einem nie dagewesenen Vorfall.
Dabei waren der Berliner Polizei ungewöhnliche Situationen im Zusammenhang mit Geschlecht und Gender durchaus vertraut – selbst im Kaiserreich zeigte man sich in Berlin außerordentlich tolerant gegenüber den dortigen homosexuellen Subkulturen. Und so riet die Polizei dem jungen Mann, den führenden Experten in solchen Dingen aufzusuchen, den Arzt Magnus Hirschfeld, der in Charlottenburg eine Praxis leitete. Hirschfeld war der Kopf einer bahnbrechenden Bewegung, die sich für die Rechte Homosexueller in Deutschland einsetzte, oder in eigenen Worten, für die „Emanzipation der Homosexuellen“. Bereits seit den 1890er Jahren trat er für die gesellschaftliche und rechtliche Tolerierung von Homosexuellen ein. Seine eigene sexuelle Orientierung hielt er zwar geheim, doch wie seine engen Freunde wussten und seine Feinde vermuteten, war er selbst schwul.
Kurz zuvor hatte Hirschfeld mit einem ähnlichen Fall zu tun gehabt. Damals hatte er einem jungen Menschen namens Karl M. Baer geholfen, bei dem Intergeschlechtlichkeit diagnostiziert wurde. Bei der Geburt als weiblich identifiziert und als Mädchen aufgewachsen, erlebte Baer in der Pubertät körperliche Veränderungen, die für die männliche Pubertät typisch sind, und fühlte sich von frühester Kindheit an als Junge. Für den Umgang mit Intergeschlechtlichkeit, die in der Menschheitsgeschichte weithin anerkannt und lange vor dem Aufkommen der modernen westlichen Medizin bekannt war, gab es schon seit längerem rechtliche und medizinische Ansätze.
Der Fall des jungen Mannes aus Hamburg, mit dem sich Hirschfeld 1908 befasste, war grundlegend anders: Die körperliche Untersuchung ergab keine Hinweise auf Intergeschlechtlichkeit. Damit war der rechtliche Weg versperrt; aus juristischer wie gesellschaftlicher Sicht gab es einen Unterschied zwischen Trans- und Intergeschlechtlichkeit. Dennoch hatte der junge Hamburger den starken Wunsch, als Mann zu leben. Tatsächlich lebte er bereits so und wollte nur eine polizeiliche Erlaubnis, damit er nicht verhaftet werden konnte. Vielleicht hatte er sogar Baers Buch gelesen und wusste daher, dass manche Jungen, die versehentlich als Mädchen großgezogen worden waren, nach der Pubertät als Männer leben durften.
Nachdem der junge Mann aus Hamburg seine Situation erklärt hatte, war Hirschfeld entschlossen, ihm zu helfen, und schlug vor, gemeinsam zur Polizei zu gehen, um über seinen Antrag zu sprechen. Hirschfeld hatte Beziehungen zur Berliner Polizei, da er sich seit langem dafür einsetzte, weniger hart gegen die Homosexuellen in der Stadt vorzugehen, und das mit einigem Erfolg. Er kannte sogar einen vor kurzem pensionierten Polizeibeamten, der sich gerne als Frau kleidete und in dieser Aufmachung Masseusen besuchte.
Hirschfelds „Transvestit“: Verwirrende Nomenklatur
Hirschfeld verfasste 1910 ein Buch über Menschen wie den jungen Mann aus Hamburg und prägte dafür eine neue Bezeichnung: „Transvestiten“. Und er schlug vor, sie mit entsprechenden Bescheinigungen auszustatten, genau wie es die französische Polizei bereits tue.
Hirschfelds Wortschöpfung „Transvestiten„ sorgte von Anfang an für Verwirrung, da sie zu implizieren schien, dass die betreffenden Personen sich zwar wie das andere Geschlecht kleideten, aber nicht primär mit dem Geschlecht identifizierten, das ihnen bei der Geburt verwehrt worden war. Doch die meisten betroffenen Personen lebten so weit wie möglich als das Geschlecht, das ihnen nicht zugewiesen worden war. Einige beschwerten sich damals bei Hirschfeld, dass sein Begriff nicht durchdacht sei – ihnen missfiel vor allem die Unterstellung, dass sie sich aus oberflächlichen erotischen Gründen so kleideten oder dass es ihnen nur um die Kleidung und nicht um ihr inneres Wesen ging. „Von einigen Transvestiten ist bemängelt worden (und nicht mit Unrecht, wie ich, nachdem ich so viele von ihnen kennen lernte, zugeben muß), daß im Untertitel meines Buches von ‚Verkleidungstrieb‘ die Rede ist“, schrieb Hirschfeld 1926, „weil es sich bei ihnen nicht um eine Verhüllung, sondern Enthüllung ihrer Eigenart handle.“
Hirschfeld hatte schon 1910 Zweifel und überlegte, ob er einen anderen Begriff verwenden sollte: „Will man mehr dem Umstande Rechnung tragen, dass es sich nicht um ein blosses Verkleiden handelt, sondern mehr um einen geschlechtlichen Verwandlungstrieb, so käme wohl in erster Linie als Ableitungswort das griechisch-deutsche Metamorphose in Betracht.“
„Metamorphose“ oder „geschlechtlicher Verwandlungstrieb“ wäre jedoch näher an der Lebensrealität von Menschen wie dem jungen Mann aus Hamburg oder Toni Simon gewesen. Heute würden sich viele von ihnen wahrscheinlich als „transgender“ bezeichnen. Sie wollten sich nicht nur gelegentlich in der Kleidung des Geschlechts zeigen, das ihnen bei der Geburt nicht zugewiesen worden war, vielmehr ging es ihnen darum, damit zu bekräftigen, dass sie diesem Geschlecht angehörten. Oder wie Liane Franke an Toni Simon geschrieben hatte: „[D]aß Sie als Dame auf der Straße nie auffielen, beweist doch nur, daß Sie eben ganz Frau sind.“
Weimar als plurale Demokratie
Das Besondere an der Weimarer Zeit war nicht, dass es trans Personen gab – sie hatte es schon zuvor gegeben, vermutlich bereits zu jeder Zeit und an jedem Ort, an dem es Menschen gab. Es ging auch nicht um deren rechtliche Anerkennung: Die polizeilichen Bescheinigungen gab es schon vor der Weimarer Republik. Das gilt übrigens auch für die Transgender-Medizin – geschlechtsangleichende Operationen fanden bereits vor dem Ersten Weltkrieg statt.
Das Besondere war, dass die Weimarer Republik trans Personen grundsätzlich als vollwertige Mitglieder der staatsbürgerlichen Gemeinschaft betrachtete, auch wenn dem mitunter nachgeholfen werden musste. Menschen wie Toni Simon konnten öffentlich ihre Rechte als Bürger in einer demokratischen Gesellschaft geltend machen. Menschen wie der Richter in Essen hörten ihnen zu, denn auch wenn sie trans Personen nicht mochten und mit deren Tun nicht einverstanden waren, erkannten sie doch an, dass man in einer Demokratie gewisse persönliche Freiheiten hat, selbst über sein Leben zu bestimmen. In den Jahren der Weimarer Republik erteilten immer mehr Polizeibeamte Genehmigungen an immer mehr Menschen. Die Republik erlaubte Namensänderungen, auch wenn die Antragstellenden ihre Namen von einer kurzen Liste staatlich genehmigter Namen wählen mussten. Zudem brachte die Demokratie einen neuen, entscheidenden Vorteil: die freie Presse.
Natürlich hatte auch die Weimarer Republik ihre Konservativen, die sich auf einen Kreuzzug für die christliche Moral begaben. Sie verfolgten die Transgender-Magazine und die gesamte queere Presse mit Argwohn und zerrten die Redakteure vor Gericht. Ein wichtiger Fall wurde bereits 1921 verhandelt, als die Redaktion der „Freundschaft“ wegen Obszönität angeklagt wurde. Im Kaiserreich wäre die Zeitschrift gebrandmarkt und verboten worden. Doch in der Republik ging der Fall bis hinauf zum Reichsgericht, das entschied, dass Berichte über Homosexualität nicht zwangsläufig obszön seien, solange sie nicht einen überwiegend erotischen Charakter hätten.
Gegen Ende der Weimarer Zeit wussten viele Menschen über die „Transvestiten“ Bescheid. Wer bei einem Berlinbesuch im 1931 erschienenen Stadtführer „Führer durch das ‚lasterhafte‘ Berlin“ blätterte, stieß auch auf die Beschreibung der einschlägigen Berliner Lokale und auf den Satz: „Sie haben wohl schon etwas von Transvestiten gehört.“
Gewalt und Repression ab 1933
So wie das NS-Regime die Reste der ersten deutschen Demokratie zügig demontierte, zerstörte es auch die Welten, die sich trans Personen aufgebaut hatten. „Rechtlich hat sich die Lage der Trten. [Transvestiten] in den Jahren nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus bei uns geklärt“, schrieb der Gerichtsmediziner Hermann Ferdinand Voss 1938. „Mußten sie, wenn sie wegen ihrer Neigung meist mit dem Aergernisparagraphen in Konflikt gekommen waren, nach Abbüßung ihrer Strafen früher immer wieder auf freien Fuß gesetzt werden, so erscheint das heute nicht immer notwendig. Früher konnte sich die Gesellschaft nicht schützen, da sie die Betreffenden nicht einwandfrei als für minder zurechnungsfähig und als unbedingt anstaltsbedürftig erklären konnten. Heute jedoch bietet sich die Möglichkeit, die Betreffenden eventuell in Sicherungsverwahrung zu nehmen oder auch eventuell zu kastrieren oder durch zeitweise ‚entsprechende Internierung‘ sie so zu beeindrucken, daß sie es vorziehen, ihre Neigung zurückzustellen. Ihre asoziale Haltung, häufig gepaart mit kriminellen Handlungen rechtfertigt drakonische Maßnahmen von Seiten des Staates.“
Voss und viele andere Anhänger des Faschismus sahen das Problem darin, dass man in der Weimarer Demokratie nicht hart genug durchgreifen durfte, während man in einem autoritären Staat gegen die vermeintliche Bedrohung durch trans Personen vorgehen konnte. So etwa mit Zwangskastration oder der Inhaftierung in einem Konzentrationslager – denn das war mit den NS-Bezeichnungen „Sicherungsverwahrung“ und „entsprechende Internierung“ gemeint. Zeitschriften mussten eingestellt werden. Studierende verwüsteten Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft, das auf Anordnung der Regierung geschlossen wurde, viele Bücher und Aufsätze Hirschfelds landeten im Feuer der Bücherverbrennungen. Genehmigungen, sich in der Öffentlichkeit so zu kleiden, wie es dem eigentlichen Geschlecht entsprach, wurden widerrufen, mitunter sogar von denselben Beamten, die sie in der Weimarer Republik erteilt hatten.
Kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten entzog die Polizei auch Toni Simon die Erlaubnis, Frauenkleidung zu tragen. Ihr Café wurde geschlossen. Toni konnte nicht hinnehmen, wieder als Mann leben zu sollen, daher verließ sie Essen. In Stuttgart wurde sie unter anderem wegen Verstoßes gegen das „Heimtückegesetz“ verurteilt, ein NS-Gesetz, mit dem Kritik am Regime geahndet wurde, und musste ins Gefängnis. Der erneuten Verhaftung durch die Stuttgarter Gestapo konnte Toni entkommen. Andere trans Frauen wie Liddy Bacroff aus Hamburg hatten weniger Glück; sie kamen ins KZ und wurden dort ermordet.
Prekäre Freiheiten, demokratische Zukünfte?
Vielleicht übertreibe ich etwas, wenn ich die Weimarer Republik als „erste Transgenderrepublik“ bezeichne. Die Befreiung, die Weimar trans Personen bot, ist nicht mit dem weitaus solideren rechtlichen Schutz und der größeren sozialen Akzeptanz zu vergleichen, die sie gegen Ende des 20. Jahrhunderts in vielen Ländern erreicht haben. Namensänderungen und Genehmigungen, in der Öffentlichkeit Kleider des anderen Geschlechts zu tragen, waren schwer zu erlangen, und die Freiheit, die sie boten, war trivial im Vergleich zu einer tatsächlichen rechtlichen Transition, das heißt der Möglichkeit, die Geschlechtsbezeichnung in allen Ausweisdokumenten zu ändern, ohne weitreichende Anforderungen (wie teils ungewollte Operationen, die in Deutschland bis 2011 nötig waren) zu erfüllen, und jeden beliebigen Namen zu wählen – auch wenn Toni natürlich ein schöner Name ist.
In der Weimarer Republik war Gerechtigkeit für trans Personen – ihre faire und respektvolle Behandlung durch Staat und Gesellschaft – an die Demokratie gebunden, und wenn das eine fiel, fiel auch das andere. Rechte für trans Personen sind der Kanarienvogel im Kohlebergwerk der Demokratie. Wenn der Kanarienvogel in Gefahr ist, ist das ein Alarmsignal: Der ansteigende Autoritarismus bedroht am Ende nicht nur Minderheiten, sondern auch Millionen andere – so wie die unkontrollierte Polizeigewalt in der NS-Zeit Unterdrückung und Gewalt für viele, viele Menschen brachte, weit über die Transgender-Gemeinschaften hinaus.
Aus dem Englischen übersetzt von Heike Schlatterer, Pforzheim.