Weltweit sind Menschen auf der Flucht, weil sie wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden. In 61 Ländern stehen einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen gleichgeschlechtlichen Partner*innen unter Strafe, in einigen können sie sogar mit dem Tode bestraft werden. In vielen weiteren Staaten ist Homosexualität zwar legal, queere Menschen werden dort aber dennoch ausgegrenzt und stigmatisiert.
Wie viele Asylanträge jährlich von schwulen, lesbischen, bisexuellen und queeren Geflüchteten gestellt werden, wird in Deutschland nicht statistisch erfasst. Auch auf europäischer Ebene existiert keine solche Statistik, lediglich eine Schätzung aus der 2011 veröffentlichten Studie „Fleeing Homophobia“.
Vor diesem Hintergrund erscheint es heute vielen wie eine lange dagewesene Selbstverständlichkeit, dass Deutschland und andere westliche Staaten Menschen aufnehmen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung fliehen mussten. Blickt man etwas weiter in die Geschichte zurück, gerät diese Gewissheit allerdings schnell ins Wanken. Denn dann zeigt sich: Viele der genannten Staaten verfolgten, stigmatisierten und kriminalisierten (männliche) Homosexualität selbst bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein. In der Bundesrepublik kam es erst 1994 im Zuge der Rechtsangleichung der beiden deutschen Staaten zu einer vollständigen Entkriminalisierung von männlicher Homosexualität. Weibliche Homosexualität wurde in Deutschland zwar zu keiner Zeit mit einem eigenen Strafrechtsparagrafen belegt, aber lesbische Frauen wurden dennoch über Jahrzehnte ausgegrenzt, diskriminiert oder für anormal erklärt.
Dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften in Deutschland und vielen weiteren Ländern fortschreitend normalisiert und rechtlich mit heterosexuellen Partnerschaften gleichgestellt wurden, ist somit ein vergleichsweise junges Phänomen. Erst um die Jahrtausendwende hat sich die Bundesrepublik als queerfreundliche Nation neu erfunden.
Dieser kurze Abriss vermittelt einen ersten Eindruck davon, dass die Geschichte der Homosexualität vielschichtig und eng mit anderen Machtverhältnissen verwoben ist. Das Wissen darum ist hilfreich, will man analysieren, wie in Asylverfahren über sexuelle Orientierung als Fluchtgrund entschieden wird. Denn Spuren dieser Geschichte spiegeln sich in heutigen Asylentscheidungen und ihren Begründungen wider.
Institutionelles Misstrauen
Dass es grundsätzlich möglich ist, aufgrund von Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung Flüchtlingsschutz zu bekommen, heißt nicht, dass dies einfach ist. Vielmehr gilt sowohl allgemein als auch für die Asylverfahren queerer Personen, dass die Asylbehörden und die Gerichte argwöhnisch prüfen, ob „wirklich“ eine Verfolgungsgefahr besteht – oder ob die Betreffenden womöglich eine ausgedachte Fluchtgeschichte erzählen, um sich ein Aufenthaltsrecht zu „erschleichen“.
Welche Geschichten Entscheider*innen für glaubwürdig erachten, hängt wiederum stark mit kollektiv verankerten, normativen Vorstellungen von Sexualität zusammen, wie zahlreiche Untersuchungen herausgearbeitet haben. Häufig werden Geflüchtete an Erwartungen gemessen, die von heteronormativen und westlich-androzentrischen Identitätsmodellen von Homosexualität abgeleitet sind. Die australische Rechtswissenschaftlerin Jenni Millbank, die seit Ende der 1990er Jahre eine Fülle an Aufsätzen zum Asylgrund sexuelle Orientierung veröffentlicht hat, beschreibt beispielsweise, dass Geflüchtete im Asylverfahren regelmäßig nach Namen von Schwulenbars in australischen Städten gefragt würden, um ihre Vertrautheit mit der dortigen Schwulenszene zu testen. Wenn die Betreffenden auf solche Fragen nicht antworten könnten, werde ihre Homosexualität schnell in Zweifel gezogen. Darüber hinaus werde Homosexualität mit bestimmten (pop-)kulturellen Interessen oder einem maskulinen (bei lesbischen Frauen) beziehungsweise femininen (bei schwulen Männern) Auftreten in Verbindung gebracht. Eine intersektionale Betrachtungsweise, die anerkenne, dass es unterschiedliche Lebenserfahrungen und -realitäten queerer Personen gebe, die auch durch Faktoren wie Klasse, Geschlecht, „Rasse“ oder den Migrationsstatus geprägt werden, fehle oftmals.
Auch in der Bundesrepublik greifen Behörden und Gerichte auf normative Vorstellungen von Sexualität zurück, wenn sie über den Asylgrund sexuelle Orientierung entscheiden. Dies möchte ich im Folgenden anhand von drei Themen näher beleuchten. Ich beginne mit einer Analyse des sich verändernden Verständnisses von „homosexueller Identität.
Wandel und Beharren im Verständnis von Homosexualität
Als das Bundesverwaltungsgericht 1988 entschied, dass Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung ein Asylgrund sein kann, knüpfte das Gericht die Anerkennung zugleich an enge Voraussetzungen, besonders hinsichtlich der Erfahrung der Sexualität des Asylsuchenden. So ist in der Entscheidung davon die Rede, dass es sich „bei der homosexuellen Prägung des Klägers um eine schicksalhafte Festlegung des Sexualtriebs handelt, die (…) nicht mehr umkehrbar und damit unentrinnbar ist“. Es sei daher wahrscheinlich, dass „der Kläger trotz der bestehenden Strafnormen seinem unentrinnbaren Geschlechtstrieb auf absehbare Zeit mehr oder weniger zwangsläufig nachgeben werde“.
Ab Mitte der 2000er Jahre setzte sich dann ein stärker identitätsbezogenes Verständnis von Homosexualität durch. Nun war in den Entscheidungsbegründungen mit Blick auf die sexuelle Orientierung vermehrt die Rede von einer Identität, die für die Betreffenden so wichtig sei, dass sie nicht gezwungen werden dürften, darauf zu verzichten. Auf die Frage, ob sie theoretisch in der Lage wären, ihre Sexualität dauerhaft zu unterdrücken, kam es somit nicht mehr an. Das stellt aus einer menschenrechtlichen Sicht unbestritten eine Verbesserung dar. Nichtsdestotrotz wurden auch in den Folgejahren hohe Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer „identitätsprägenden Homosexualität“ gestellt.
Große Bedeutung erlangte dabei das Vorhandensein eines linearen sexuellen Identitätsnarrativs. Viele Entscheidungen deuten darauf hin, dass Richter*innen es für überzeugend halten, wenn die Asylsuchenden angeben, dass sie schon immer oder seit ihrer frühen Kindheit gespürt hätten, dass sie sich ausschließlich zu Menschen des gleichen Geschlechts hingezogen fühlten. Häufig beschreiben die Asylsuchenden weiter, diese anfänglichen Gefühle hätten sich dann im Laufe der Jahre weiterentwickelt und seien stärker geworden, bis es zu ersten sexuellen Erfahrungen und Beziehungen kam. Einige sprechen im Zusammenhang mit der Bewusstwerdung, „anders“ zu sein, von einem inneren Konflikt. Hinter der Betonung eines linearen Identitätsnarrativs steht das aus der Psychologie stammende Stufenmodell homosexueller Identitätsentwicklung, das über die Popkultur in Europa und Nordamerika Eingang in das Alltagswissen fand und Vorstellungen über den „richtigen“ Ablauf des Coming-out prägt.
Als weiteres Indiz für eine „identitätsprägende Homosexualität“ gelten Paarbeziehungen. Besonders wenn Asylsuchende auf Ideale wie Treue, Bindung oder die Vorstellung einer einzigen großen Liebe des Lebens Bezug nehmen, kann das dazu führen, dass Richter*innen Empathie entwickeln und sich auf Fluchtgeschichten einlassen, anstatt diese als „konstruiert“ zurückzuweisen. Einerseits lässt sich also ein beachtlicher Wandel feststellen: In den frühen Entscheidungen wurde der homosexuelle Geflüchtete als pathologische Figur gezeichnet, die durch und durch von ihrem „Sexualtrieb“ bestimmt ist. Heute ist er eine Person mit einer besonderen Identität, die darauf hofft, im Zufluchtsland Deutschland Anerkennung und Sicherheit zu finden.
Andererseits gibt es eine relevante Kontinuität: So wird Homosexualität im gesamten Zeitraum mit einer stabilen, inneren Veranlagung in Verbindung gebracht. Darauf verweist sowohl das ältere Konzept der „irreversiblen Festlegung“ als auch die neuere Vorstellung der identitätsprägenden Homosexualität. Von Bedeutung für den Flüchtlingsschutz sind demnach nicht sexuelle Handlungen oder ein situatives gleichgeschlechtliches Begehren, sondern eine dauerhafte Prägung. Dies kann als Effekt der sexuellen Wissensordnung verstanden werden, die sich im 19. Jahrhundert in Westeuropa etablierte. Der Philosoph und Historiker Michel Foucault sprach von der Erfindung des Homosexuellen, um darauf hinzuweisen, dass sich zu dieser Zeit ein Wandel vom Tun zum Sein vollzog, also von der „Sodomie“ als einer verbotenen Handlung, die von jeder und jedem begangen werden konnte, hin zur Homosexualität als einer „Sondernatur“.
„Diskretionsdenken“ und Dichotomie Öffentlichkeit/Privatheit
Ein zweites prägendes Thema in Entscheidungen zum Asylgrund sexuelle Orientierung ist das sogenannte Diskretionsdenken. Lange Zeit war es in Deutschland und anderen Staaten üblich, Asylanträge mit der Begründung abzulehnen, die Geflüchteten könnten ihre sexuelle Orientierung geheim halten beziehungsweise auf den engsten privaten Bereich beschränken und sich so selbst vor Verfolgung schützen. Dahinter verbarg sich die zynische Sichtweise, dass queere Menschen in den meisten Ländern „ganz gut“ leben könnten, solange sie bestimmte zumutbare Regeln der Diskretion beachteten. Konkret bedeutete das, dass von Geflüchteten erwartet wurde, einen wichtigen Teil ihrer Gefühlswelt, ihrer Persönlichkeit und teilweise auch langjährige Beziehungen vor ihrem gesamten sozialen und familiären Umfeld geheim zu halten. Auf dieser Grundlage wurden in den 1990er und 2000er Jahren eine Vielzahl von Asylanträgen abgelehnt.
Mittlerweile wurde diese Rechtsprechungslinie durch höchstgerichtliche Entscheidungen verworfen. Dennoch finden sich auch in jüngeren Asylentscheidungen Formulierungen, die der Diskretionslogik folgen – wenn auch verklausulierter. Beispielsweise stellten Gerichte auch nach dem „Ende der Diskretion“ mitunter fest, es gebe im Herkunftsland eine Schwulenszene, in der Asylsuchende „untertauchen könnten“, oder es sei möglich, Homosexualität im Herkunftsland in dem „von landesüblichen Umständen geprägten Rahmen“ auszuleben. In anderen Entscheidungen heißt es, dass nur bei „offensiv nach außen ausgelebter Homosexualität“ mit Übergriffen zu rechnen sei.
Viele Studien beschäftigen sich mit der Frage, warum das „Diskretionsdenken“ in den Asylentscheidungen so hartnäckig ist. Ich schlage vor, dies in Verbindung mit der Dichotomie von Öffentlichkeit und Privatheit zu analysieren, die sich in der westlichen Moderne als gesellschaftliches Ordnungsprinzip herausgebildet hat. Während diese Dichotomie in der feministischen Bewegung und Theoriebildung eine zentrale Rolle gespielt hat, gibt es weniger Auseinandersetzungen damit, dass sie auch auf einer „heteronormativen Logik“ basiert.
Zugleich ist das Verhältnis von Homosexualität und Privatheit nicht frei von Widersprüchen. Weil Privatheit auch normativ bestimmt ist, können queere Menschen sich nicht ohne Weiteres „unauffällig“ dorthin zurückziehen. Umgekehrt hat eigentlich als privat oder intim definiertes Verhalten teilweise auch in öffentlichen Räumen Platz, wenn es nicht gegen dominante Geschlechter- und Sexualitätsnormen verstößt.
Asylverfahren und globale Machtverhältnisse
Im Asylverfahren geht es nicht nur um homosexuelle Identitäten und den vermeintlich richtigen gesellschaftlichen Ort für queere Sexualität. Zusätzlich wird immer auch über das Verhältnis zwischen den Herkunftsländern, dem Aufnahmestaat und den Asylsuchenden verhandelt sowie über die Frage, wer für die Ursachen von Flucht verantwortlich ist. Daraus resultieren wiederum spezifische Erwartungen an das Verhalten queerer Geflüchteter im „Zufluchtsstaat“.
Folgt man den Soziolog*innen Albert Scherr und Çiğdem Inan, besteht die Funktion des Asylsystems darin, einen kleinen Teil derjenigen, die weltweit auf der Flucht sind, einzugrenzen und ihnen ein Recht auf Aufnahme zuzusprechen – und auf diese Weise die Auswirkungen der herrschenden politischen und ökonomischen Verhältnisse zu bearbeiten, ohne sie grundsätzlich infrage zu stellen.
Wie äußert sich das konkret? In vielen Entscheidungsbegründungen werden die Herkunftsländer der Asylsuchenden als absolut unfrei, homophob und repressiv beschrieben, umgekehrt finden sich darin Darstellungen, in denen Deutschland und die EU als „sicherer Hafen“ überzeichnet werden, in dem queere Menschen frei und sicher leben können – unabhängig von ihrer sonstigen Stellung in der Gesellschaft. Queerfeindliche Gewalt erscheint wie ein (kulturelles) Problem, das andere Staaten haben, Europa hingegen nicht.
Darüber hinaus haben Richter*innen mitunter sehr genaue Vorstellungen davon, wie die Geflüchteten sich in Deutschland verhalten sollten. Das beinhaltet etwa die Verpflichtung, von ihren „neu gewonnenen Freiheiten“ Gebrauch zu machen und darüber Freude und Dankbarkeit auszudrücken, um zu beweisen, dass sie den Flüchtlingsschutz „verdient“ haben. Entsprechen Asylsuchende diesen Vorgaben nicht, was wahlweise daran festgemacht werden kann, dass sie keine*n Partner*in haben,
Ausblick
Es hat sich gezeigt, dass an queere Geflüchtete hohe Anforderungen gestellt werden, die dazu führen, dass viele von ihnen keinen Schutzstatus bekommen. Wie könnte die Qualität der Asylentscheidungspraxis verbessert werden? In der Forschung werden etwa neue Richtlinien genannt, um Beurteilungsspielräume einzuschränken, oder Schulungen, um „Vorurteile“ abzubauen und Entscheider*innen ein größeres Bewusstsein für die Vielfalt geschlechtlich-sexueller Lebensweisen zu vermitteln.