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Umkämpfte Anerkennung | bpb.de

Umkämpfte Anerkennung Sexuelle Orientierung als Asylgrund

Katharina Schoenes

/ 16 Minuten zu lesen

Seit den 1980er Jahren ist die Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung als Asylgrund anerkannt. Doch trotz unbestreitbarer Fortschritte gibt es nach wie vor erhebliche Leerstellen und Missverständnisse in gerichtlichen Entscheidungsprozessen.

Weltweit sind Menschen auf der Flucht, weil sie wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden. In 61 Ländern stehen einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen gleichgeschlechtlichen Partner*innen unter Strafe, in einigen können sie sogar mit dem Tode bestraft werden. In vielen weiteren Staaten ist Homosexualität zwar legal, queere Menschen werden dort aber dennoch ausgegrenzt und stigmatisiert. Die Anfänge des asylrechtlichen Schutzes für Menschen, denen wegen ihrer sexuellen Orientierung Verfolgung droht, reichen bis in die 1980er Jahre zurück. Damals setzte sich im angelsächsischen Raum zunächst in der Rechtsprechung die Ansicht durch, dass homosexuelle Menschen eine „bestimmte soziale Gruppe“ im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention bilden können. In der Bundesrepublik entschied das Bundesverwaltungsgericht erstmals 1988 in einem Grundsatzurteil, dass Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung ein Asylgrund sein kann. Seither hat sich das Flüchtlingsrecht weiterentwickelt. Heute wird die sexuelle Orientierung sowohl in der EU-Qualifikationsrichtlinie als auch im deutschen Asylgesetz als Verfolgungsgrund angeführt.

Wie viele Asylanträge jährlich von schwulen, lesbischen, bisexuellen und queeren Geflüchteten gestellt werden, wird in Deutschland nicht statistisch erfasst. Auch auf europäischer Ebene existiert keine solche Statistik, lediglich eine Schätzung aus der 2011 veröffentlichten Studie „Fleeing Homophobia“. Die Autor*innen vermuteten damals auf Basis von Zahlen aus Belgien, dass in der EU jährlich rund 10000 Asylanträge von queeren Geflüchteten gestellt werden. Sie wiesen aber ausdrücklich darauf hin, dass es sich dabei nur um eine grobe Schätzung handele und mehr Forschung benötigt werde. Insbesondere ab 2014/15 kamen deutlich mehr Asylsuchende in die EU, weshalb davon auszugehen ist, dass auch die Zahl der queeren Geflüchteten angestiegen ist. Gleichzeitig hat diese Gruppe in den vergangenen Jahren in der politischen Debatte wie auch in der Forschung mehr Sichtbarkeit erlangt. Folgt man der Anthropologin Mengia Tschalaer, sind Arbeiten zu queer asylum in den 2010er Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen. Zudem begannen Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftliche Initiativen, auf die besonderen Bedarfe von queeren Geflüchteten hinzuweisen und sich für deren Belange, etwa einen besseren Gewaltschutz in Unterkünften, einzusetzen.

Vor diesem Hintergrund erscheint es heute vielen wie eine lange dagewesene Selbstverständlichkeit, dass Deutschland und andere westliche Staaten Menschen aufnehmen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung fliehen mussten. Blickt man etwas weiter in die Geschichte zurück, gerät diese Gewissheit allerdings schnell ins Wanken. Denn dann zeigt sich: Viele der genannten Staaten verfolgten, stigmatisierten und kriminalisierten (männliche) Homosexualität selbst bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein. In der Bundesrepublik kam es erst 1994 im Zuge der Rechtsangleichung der beiden deutschen Staaten zu einer vollständigen Entkriminalisierung von männlicher Homosexualität. Weibliche Homosexualität wurde in Deutschland zwar zu keiner Zeit mit einem eigenen Strafrechtsparagrafen belegt, aber lesbische Frauen wurden dennoch über Jahrzehnte ausgegrenzt, diskriminiert oder für anormal erklärt.

Dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften in Deutschland und vielen weiteren Ländern fortschreitend normalisiert und rechtlich mit heterosexuellen Partnerschaften gleichgestellt wurden, ist somit ein vergleichsweise junges Phänomen. Erst um die Jahrtausendwende hat sich die Bundesrepublik als queerfreundliche Nation neu erfunden. Die Schaffung dieses neuen Selbstbilds ging zugleich mit neuen gesellschaftlichen Ausschlüssen einher. Feindlichkeit gegenüber LGBTIQ-Personen wurde nun vermehrt rassifizierten oder anderweitig marginalisierten Gruppen innerhalb westlicher Staaten oder ganzen Gesellschaften im Globalen Süden zugeschrieben. Mit dem angeblichen Schutz queerer Menschen wurden in den 2000er Jahren sowohl Verschärfungen des Aufenthaltsrechts als auch Militärinterventionen gerechtfertigt. Die Theoretikerin Jasbir Puar hat hierfür den Begriff des Homonationalismus geprägt. Gemeint ist ein Nationalismus, der eigene Überlegenheits- und Machtansprüche daraus ableitet, dass er beansprucht, die Emanzipation der Homosexuellen verwirklicht zu haben.

Dieser kurze Abriss vermittelt einen ersten Eindruck davon, dass die Geschichte der Homosexualität vielschichtig und eng mit anderen Machtverhältnissen verwoben ist. Das Wissen darum ist hilfreich, will man analysieren, wie in Asylverfahren über sexuelle Orientierung als Fluchtgrund entschieden wird. Denn Spuren dieser Geschichte spiegeln sich in heutigen Asylentscheidungen und ihren Begründungen wider.

Institutionelles Misstrauen

Dass es grundsätzlich möglich ist, aufgrund von Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung Flüchtlingsschutz zu bekommen, heißt nicht, dass dies einfach ist. Vielmehr gilt sowohl allgemein als auch für die Asylverfahren queerer Personen, dass die Asylbehörden und die Gerichte argwöhnisch prüfen, ob „wirklich“ eine Verfolgungsgefahr besteht – oder ob die Betreffenden womöglich eine ausgedachte Fluchtgeschichte erzählen, um sich ein Aufenthaltsrecht zu „erschleichen“. Menschen im Asylverfahren stehen meist keine objektiven Beweise wie Ermittlungsakten oder Haftbefehle zur Verfügung, mit denen sie ihre Erfahrungen belegen könnten, auch gibt es im Regelfall keine Zeug*innen. Um glaubhaft zu machen, dass ihr Anliegen begründet ist, müssen die Asylsuchenden in der mündlichen Anhörung daher genau beschreiben, welche Tatsachen zu ihrer Flucht geführt haben. Für Personen, die als Fluchtgrund ihre sexuelle Orientierung geltend machen, geht das damit einher, dass sie detailliert über ihre Biografie, ihr Coming-out und auch über intime Beziehungen Auskunft geben müssen.

Welche Geschichten Entscheider*innen für glaubwürdig erachten, hängt wiederum stark mit kollektiv verankerten, normativen Vorstellungen von Sexualität zusammen, wie zahlreiche Untersuchungen herausgearbeitet haben. Häufig werden Geflüchtete an Erwartungen gemessen, die von heteronormativen und westlich-androzentrischen Identitätsmodellen von Homosexualität abgeleitet sind. Die australische Rechtswissenschaftlerin Jenni Millbank, die seit Ende der 1990er Jahre eine Fülle an Aufsätzen zum Asylgrund sexuelle Orientierung veröffentlicht hat, beschreibt beispielsweise, dass Geflüchtete im Asylverfahren regelmäßig nach Namen von Schwulenbars in australischen Städten gefragt würden, um ihre Vertrautheit mit der dortigen Schwulenszene zu testen. Wenn die Betreffenden auf solche Fragen nicht antworten könnten, werde ihre Homosexualität schnell in Zweifel gezogen. Darüber hinaus werde Homosexualität mit bestimmten (pop-)kulturellen Interessen oder einem maskulinen (bei lesbischen Frauen) beziehungsweise femininen (bei schwulen Männern) Auftreten in Verbindung gebracht. Eine intersektionale Betrachtungsweise, die anerkenne, dass es unterschiedliche Lebenserfahrungen und -realitäten queerer Personen gebe, die auch durch Faktoren wie Klasse, Geschlecht, „Rasse“ oder den Migrationsstatus geprägt werden, fehle oftmals. Ähnliche Muster lassen sich in Europa und Nordamerika feststellen.

Auch in der Bundesrepublik greifen Behörden und Gerichte auf normative Vorstellungen von Sexualität zurück, wenn sie über den Asylgrund sexuelle Orientierung entscheiden. Dies möchte ich im Folgenden anhand von drei Themen näher beleuchten. Ich beginne mit einer Analyse des sich verändernden Verständnisses von „homosexueller Identität.

Wandel und Beharren im Verständnis von Homosexualität

Als das Bundesverwaltungsgericht 1988 entschied, dass Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung ein Asylgrund sein kann, knüpfte das Gericht die Anerkennung zugleich an enge Voraussetzungen, besonders hinsichtlich der Erfahrung der Sexualität des Asylsuchenden. So ist in der Entscheidung davon die Rede, dass es sich „bei der homosexuellen Prägung des Klägers um eine schicksalhafte Festlegung des Sexualtriebs handelt, die (…) nicht mehr umkehrbar und damit unentrinnbar ist“. Es sei daher wahrscheinlich, dass „der Kläger trotz der bestehenden Strafnormen seinem unentrinnbaren Geschlechtstrieb auf absehbare Zeit mehr oder weniger zwangsläufig nachgeben werde“. Diese Setzung erwies sich als prägend für die Rechtsprechung der folgenden Jahre. Bis in die 2000er Jahre hinein überwog ein pathologisierendes Verständnis von Homosexualität. In Bescheiden und Urteilen wurde der Begriff der „irreversiblen“ Festlegung verwendet, um die Sexualität der Asylsuchenden zu charakterisieren. Regelmäßig wurden psychiatrische Gutachten eingeholt, um die sexuelle Orientierung der Geflüchteten zu „beweisen“. Und immer wieder kam die Vorstellung zum Ausdruck, dass insbesondere schwule Männer ihre „Triebe“ kaum kontrollieren könnten.

Ab Mitte der 2000er Jahre setzte sich dann ein stärker identitätsbezogenes Verständnis von Homosexualität durch. Nun war in den Entscheidungsbegründungen mit Blick auf die sexuelle Orientierung vermehrt die Rede von einer Identität, die für die Betreffenden so wichtig sei, dass sie nicht gezwungen werden dürften, darauf zu verzichten. Auf die Frage, ob sie theoretisch in der Lage wären, ihre Sexualität dauerhaft zu unterdrücken, kam es somit nicht mehr an. Das stellt aus einer menschenrechtlichen Sicht unbestritten eine Verbesserung dar. Nichtsdestotrotz wurden auch in den Folgejahren hohe Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer „identitätsprägenden Homosexualität“ gestellt.

Große Bedeutung erlangte dabei das Vorhandensein eines linearen sexuellen Identitätsnarrativs. Viele Entscheidungen deuten darauf hin, dass Richter*innen es für überzeugend halten, wenn die Asylsuchenden angeben, dass sie schon immer oder seit ihrer frühen Kindheit gespürt hätten, dass sie sich ausschließlich zu Menschen des gleichen Geschlechts hingezogen fühlten. Häufig beschreiben die Asylsuchenden weiter, diese anfänglichen Gefühle hätten sich dann im Laufe der Jahre weiterentwickelt und seien stärker geworden, bis es zu ersten sexuellen Erfahrungen und Beziehungen kam. Einige sprechen im Zusammenhang mit der Bewusstwerdung, „anders“ zu sein, von einem inneren Konflikt. Hinter der Betonung eines linearen Identitätsnarrativs steht das aus der Psychologie stammende Stufenmodell homosexueller Identitätsentwicklung, das über die Popkultur in Europa und Nordamerika Eingang in das Alltagswissen fand und Vorstellungen über den „richtigen“ Ablauf des Coming-out prägt. Kritisiert wird, dass solche Modelle Gefahr laufen, einen vermeintlich einzig richtigen Weg zu einer homosexuellen Identität vorzugeben. Probleme wirft dies für all jene auf, die sich nicht auf eine Identität oder ein Begehren festlegen lassen können oder wollen. Besonders bisexuellen Antragstellenden wird im Asylverfahren häufig die notwendige „Identitätsprägung“ abgesprochen, wenn es in ihrem Leben ein Nebeneinander unterschiedlicher Wünsche und Orientierungen gibt.

Als weiteres Indiz für eine „identitätsprägende Homosexualität“ gelten Paarbeziehungen. Besonders wenn Asylsuchende auf Ideale wie Treue, Bindung oder die Vorstellung einer einzigen großen Liebe des Lebens Bezug nehmen, kann das dazu führen, dass Richter*innen Empathie entwickeln und sich auf Fluchtgeschichten einlassen, anstatt diese als „konstruiert“ zurückzuweisen. Einerseits lässt sich also ein beachtlicher Wandel feststellen: In den frühen Entscheidungen wurde der homosexuelle Geflüchtete als pathologische Figur gezeichnet, die durch und durch von ihrem „Sexualtrieb“ bestimmt ist. Heute ist er eine Person mit einer besonderen Identität, die darauf hofft, im Zufluchtsland Deutschland Anerkennung und Sicherheit zu finden.

Andererseits gibt es eine relevante Kontinuität: So wird Homosexualität im gesamten Zeitraum mit einer stabilen, inneren Veranlagung in Verbindung gebracht. Darauf verweist sowohl das ältere Konzept der „irreversiblen Festlegung“ als auch die neuere Vorstellung der identitätsprägenden Homosexualität. Von Bedeutung für den Flüchtlingsschutz sind demnach nicht sexuelle Handlungen oder ein situatives gleichgeschlechtliches Begehren, sondern eine dauerhafte Prägung. Dies kann als Effekt der sexuellen Wissensordnung verstanden werden, die sich im 19. Jahrhundert in Westeuropa etablierte. Der Philosoph und Historiker Michel Foucault sprach von der Erfindung des Homosexuellen, um darauf hinzuweisen, dass sich zu dieser Zeit ein Wandel vom Tun zum Sein vollzog, also von der „Sodomie“ als einer verbotenen Handlung, die von jeder und jedem begangen werden konnte, hin zur Homosexualität als einer „Sondernatur“. Diese Verschiebung erfolgte im Kontext der Entstehung moderner Staatlichkeit, die mit neuen Formen der Bevölkerungskontrolle einherging. Von Bedeutung waren darüber hinaus die aufstrebenden Disziplinen der Medizin und Psychiatrie, die die Sexualität als Forschungsgegenstand entdeckten, sowie die Selbstkonzeptionen gleichgeschlechtlich begehrender Männer, die Homosexualität als natürliche Eigenschaft beschrieben, die ihnen ohne eigenes Zutun zugefallen sei, um gegen deren Kriminalisierung anzukämpfen.

„Diskretionsdenken“ und Dichotomie Öffentlichkeit/Privatheit

Ein zweites prägendes Thema in Entscheidungen zum Asylgrund sexuelle Orientierung ist das sogenannte Diskretionsdenken. Lange Zeit war es in Deutschland und anderen Staaten üblich, Asylanträge mit der Begründung abzulehnen, die Geflüchteten könnten ihre sexuelle Orientierung geheim halten beziehungsweise auf den engsten privaten Bereich beschränken und sich so selbst vor Verfolgung schützen. Dahinter verbarg sich die zynische Sichtweise, dass queere Menschen in den meisten Ländern „ganz gut“ leben könnten, solange sie bestimmte zumutbare Regeln der Diskretion beachteten. Konkret bedeutete das, dass von Geflüchteten erwartet wurde, einen wichtigen Teil ihrer Gefühlswelt, ihrer Persönlichkeit und teilweise auch langjährige Beziehungen vor ihrem gesamten sozialen und familiären Umfeld geheim zu halten. Auf dieser Grundlage wurden in den 1990er und 2000er Jahren eine Vielzahl von Asylanträgen abgelehnt.

Mittlerweile wurde diese Rechtsprechungslinie durch höchstgerichtliche Entscheidungen verworfen. Dennoch finden sich auch in jüngeren Asylentscheidungen Formulierungen, die der Diskretionslogik folgen – wenn auch verklausulierter. Beispielsweise stellten Gerichte auch nach dem „Ende der Diskretion“ mitunter fest, es gebe im Herkunftsland eine Schwulenszene, in der Asylsuchende „untertauchen könnten“, oder es sei möglich, Homosexualität im Herkunftsland in dem „von landesüblichen Umständen geprägten Rahmen“ auszuleben. In anderen Entscheidungen heißt es, dass nur bei „offensiv nach außen ausgelebter Homosexualität“ mit Übergriffen zu rechnen sei. Insbesondere die letzte Formulierung legt nahe, dass jene, die Opfer von queerfeindlichen Angriffen wurden, hieran eine Mitschuld tragen, weil sie ihre Sexualität zu offen zu erkennen gegeben oder gar damit provoziert hätten.

Viele Studien beschäftigen sich mit der Frage, warum das „Diskretionsdenken“ in den Asylentscheidungen so hartnäckig ist. Ich schlage vor, dies in Verbindung mit der Dichotomie von Öffentlichkeit und Privatheit zu analysieren, die sich in der westlichen Moderne als gesellschaftliches Ordnungsprinzip herausgebildet hat. Während diese Dichotomie in der feministischen Bewegung und Theoriebildung eine zentrale Rolle gespielt hat, gibt es weniger Auseinandersetzungen damit, dass sie auch auf einer „heteronormativen Logik“ basiert. Dies wird deutlich, wenn man sich näher mit der Geschichte der Entkriminalisierung von (männlicher) Homosexualität beschäftigt, die zugleich eine Geschichte der Privatisierung ist. Als das Strafrecht in Westdeutschland ab Ende der 1960er Jahre schrittweise liberalisiert wurde, galt Homosexualität vielen weiterhin als „moralisch verwerflich“. Es setzte sich aber die Sichtweise durch, dass „unsittliche Verhaltensweisen“ nicht mehr in den Regelungsbereich des Strafrechts fallen sollten, solange sie nicht „in die Öffentlichkeit ausstrahlen“. Legalisiert wurden somit sexuelle Handlungen im Privaten, nicht aber ein Recht auf Sichtbarkeit in der öffentlichen Sphäre. Diese blieb vielmehr mit Heterosexualität assoziiert, womit die grundsätzliche Hierarchie zwischen Hetero- und Homosexualität nicht infrage gestellt wurde.

Zugleich ist das Verhältnis von Homosexualität und Privatheit nicht frei von Widersprüchen. Weil Privatheit auch normativ bestimmt ist, können queere Menschen sich nicht ohne Weiteres „unauffällig“ dorthin zurückziehen. Umgekehrt hat eigentlich als privat oder intim definiertes Verhalten teilweise auch in öffentlichen Räumen Platz, wenn es nicht gegen dominante Geschlechter- und Sexualitätsnormen verstößt. Handlungen wie Händchenhalten, Küssen oder Umarmen erscheinen bei heterosexuellen Paaren unauffällig und privat, selbst wenn sie in der Öffentlichkeit stattfinden. Dagegen wird die bloße Existenz queerer Personen mitunter als „provozierend“ und somit politisch wahrgenommen. Die Beharrlichkeit des Diskretionsdenkens zeigt, dass die Frage, wie viel Sichtbarkeit queere Sexualität beanspruchen kann, nach wie vor umkämpft ist.

Asylverfahren und globale Machtverhältnisse

Im Asylverfahren geht es nicht nur um homosexuelle Identitäten und den vermeintlich richtigen gesellschaftlichen Ort für queere Sexualität. Zusätzlich wird immer auch über das Verhältnis zwischen den Herkunftsländern, dem Aufnahmestaat und den Asylsuchenden verhandelt sowie über die Frage, wer für die Ursachen von Flucht verantwortlich ist. Daraus resultieren wiederum spezifische Erwartungen an das Verhalten queerer Geflüchteter im „Zufluchtsstaat“.

Folgt man den Soziolog*innen Albert Scherr und Çiğdem Inan, besteht die Funktion des Asylsystems darin, einen kleinen Teil derjenigen, die weltweit auf der Flucht sind, einzugrenzen und ihnen ein Recht auf Aufnahme zuzusprechen – und auf diese Weise die Auswirkungen der herrschenden politischen und ökonomischen Verhältnisse zu bearbeiten, ohne sie grundsätzlich infrage zu stellen. Flucht wird entsprechend als Folge von Problemen gedeutet, die ihre Ursache in den Herkunftsländern der Geflüchteten haben. Nachwirkungen kolonialer Herrschaft und die internationale Arbeitsteilung werden aus dem Flüchtlingsbegriff ausgelagert. Die begrenzte Aufnahme von Geflüchteten dient zugleich der Legitimation der Staaten im Globalen Norden, für deren Selbstverständnis die Menschenrechte einen wichtigen Bezugspunkt bilden. Sie können sich von ihrer Verantwortung für globale Fluchtbewegungen freisprechen und sich als Retter inszenieren, die verfolgten Menschen Schutz gewähren. Weil Sexualpolitiken seit rund zwei Jahrzehnten ein Feld darstellen, auf dem diese Staaten ihre vermeintliche Fortschrittlichkeit und Überlegenheit gegenüber „weniger zivilisierten Ländern“ demonstrieren, gilt das in besonderer Weise für Asylverfahren queerer Personen.

Wie äußert sich das konkret? In vielen Entscheidungsbegründungen werden die Herkunftsländer der Asylsuchenden als absolut unfrei, homophob und repressiv beschrieben, umgekehrt finden sich darin Darstellungen, in denen Deutschland und die EU als „sicherer Hafen“ überzeichnet werden, in dem queere Menschen frei und sicher leben können – unabhängig von ihrer sonstigen Stellung in der Gesellschaft. Queerfeindliche Gewalt erscheint wie ein (kulturelles) Problem, das andere Staaten haben, Europa hingegen nicht. Unerwähnt bleiben die vielen Restriktionen, etwa die Residenz- und Lagerpflicht, denen Geflüchtete teilweise im Asylverfahren unterliegen, aber auch rassistische Polizeikontrollen, Armut sowie queerfeindliche Übergriffe als Probleme der deutschen Gesellschaft.

Darüber hinaus haben Richter*innen mitunter sehr genaue Vorstellungen davon, wie die Geflüchteten sich in Deutschland verhalten sollten. Das beinhaltet etwa die Verpflichtung, von ihren „neu gewonnenen Freiheiten“ Gebrauch zu machen und darüber Freude und Dankbarkeit auszudrücken, um zu beweisen, dass sie den Flüchtlingsschutz „verdient“ haben. Entsprechen Asylsuchende diesen Vorgaben nicht, was wahlweise daran festgemacht werden kann, dass sie keine*n Partner*in haben, ihre sexuelle Orientierung (teilweise) geheim halten oder kein Interesse daran haben, sich politisch für die Rechte queerer Menschen zu engagieren, reagieren Richter*innen teils mit Unverständnis oder geradezu beleidigt. Hinter der Erwartungshaltung dieser Richter*innen steht die Norm, nach der Flucht augenblicklich eine „befreite Sexualität“ nach westlichem Vorbild zu entwickeln und auf diese Weise den Überlegenheitsanspruch des „Zufluchtsstaats“ zu bestätigen. Wie der Anthropologe David A.B. Murray erläutert, kann dies als Erweiterung der bereits angesprochenen Identitätsentwicklungsnarrative verstanden werden: Demnach findet die queere Identitätsentwicklung ihren krönenden Abschluss in der Asylanhörung, in der die geflüchtete Person sich dem Aufnahmestaat anvertraut.

Ausblick

Es hat sich gezeigt, dass an queere Geflüchtete hohe Anforderungen gestellt werden, die dazu führen, dass viele von ihnen keinen Schutzstatus bekommen. Wie könnte die Qualität der Asylentscheidungspraxis verbessert werden? In der Forschung werden etwa neue Richtlinien genannt, um Beurteilungsspielräume einzuschränken, oder Schulungen, um „Vorurteile“ abzubauen und Entscheider*innen ein größeres Bewusstsein für die Vielfalt geschlechtlich-sexueller Lebensweisen zu vermitteln. Ich möchte davon abraten, allzu große Hoffnungen in solche Maßnahmen zu setzen. Das hat vor allem mit dem größeren Kontext zu tun, in dem Asylverfahren stattfinden. Darauf weist die Juristin Ines Rössl hin, wenn sie von den „verschwiegenen Fundamenten“ des Rechts auf Asyl spricht. Es ist die Kehrseite einer systematischen „Nicht-Berechtigung“, die die Mehrheit der Weltbevölkerung, insbesondere in den Ländern des Globalen Südens, von weltweiter Bewegungsfreiheit ausschließt. Die strengen Maßstäbe, die an eine „authentische homosexuelle Identität“ angelegt werden, sind folglich (auch) Ausdruck davon, dass auf dem Terrain des Asylverfahrens über den Zugang zu einem sicheren Aufenthaltsrecht in Europa verhandelt wird. Die Akribie, mit der individuelle Biografien und sexuelle Identitäten durchleuchtet werden, speist sich aus dem Bestreben, nicht „zu vielen“ Menschen Aufnahme zu gewähren und sparsam mit dem „knappen Gut Asyl“ umzugehen. Um zu einem anderen Umgang mit dem Asylgrund sexuelle Orientierung zu kommen, müssten daher auch damit zusammenhängende Machtverhältnisse diskutiert und problematisiert werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA) World, Legal Frameworks. Criminalisation of Consensual Same-Sex Sexual Acts, Externer Link: https://database.ilga.org/criminalisation-consensual-same-sex-sexual-acts.

  2. Vgl. Petra Sußner, Flucht – Geschlecht – Sexualität. Eine menschenrechtsbasierte Perspektive auf Grundversorgung und Asylberechtigung, Wien 2020, S. 14.

  3. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) 9 C 278/86, 15.3.1988.

  4. Der Beitrag basiert auf meiner 2023 erschienenen Dissertation: Katharina Schoenes, Asyl, Sexualität und Wahrheit. Gerichtliche Entscheidungen zum Asylgrund „sexuelle Orientierung“, Bielefeld 2023.

  5. Siehe Sabine Jansen/Thomas Spijkerboer, Fleeing Homophobia. Asylanträge mit Bezug zur sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität in Europa, Amsterdam 2011.

  6. Vgl. Mengia Tschalaer, Victimhood and Femininities in Black Lesbian Asylum Cases in Germany, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 15/2021, S. 3531–3548.

  7. Vgl. Margit Göttert, Über die „Wuth, Frauen zu lieben“. Die Entdeckung der lesbischen Frau, in: Feministische Studien 2/1989, S. 23–38.

  8. Vgl. Jin Haritaworn/Jennifer Petzen, Integration as a Sexual Problem. An Excavation of the German „Muslim Homophobia“ Panic, in: Koray Yılmaz-Günay (Hrsg.), Karriere eines konstruierten Gegensatzes: Zehn Jahre „Muslime versus Schwule“. Sexualpolitiken seit dem 11. September 2001, Münster 2014, S. 115–134, hier S. 117.

  9. Vgl. Nikita Dhawan, Homonationalismus und Staatsphobie: Queering Dekolonisierungspolitiken, Queer-Politiken dekolonisieren, in: Femina Politica 1/2015, S. 38–51, hier S. 38.

  10. Jasbir K. Puar, Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times, Durham 2007.

  11. Vgl. Didier Fassin, The Precarious Truth of Asylum, in: Public Culture 1/2013, S. 39–63, hier S. 54.

  12. Vgl. Jenni Millbank, From Discretion to Disbelief: Recent Trends in Refugee Determinations on the Basis of Sexual Orientation in Australia and the United Kingdom, in: The International Journal of Human Rights 2–3/2009, S. 391–414.

  13. BVerwG (Anm. 3).

  14. Vgl. Laurie Berg/Jenni Millbank, Constructing the Personal Narratives of Lesbian, Gay and Bisexual Asylum Claimants, in: Journal of Refugee Studies 2/2009, S. 195–223, hier S. 206f.

  15. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 2014 [1983], S. 47.

  16. Vgl. Zülfukar Çetin/Heinz-Jürgen Voß, Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität. Kritische Perspektiven, Gießen 2016, S. 47.

  17. Vgl. Schoenes (Anm. 4), S. 147f.

  18. Vgl. Gundula Ludwig, Überlegungen zur heteronormativen Grammatik des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit, in: Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (Hrsg.), Grenzziehungen von „öffentlich“ und „privat“ im neuen Blick auf die Geschlechterverhältnisse, Berlin 2017, S. 72–94, hier S. 73.

  19. Katharina Ebner, Religion im Parlament. Homosexualität als Gegenstand parlamentarischer Debatten im Vereinigten Königreich und in der Bundesrepublik Deutschland (1945–1990), Göttingen 2018, S. 290–292.

  20. Vgl. Brigitte Temel, (Re)Negotiating Heteronormativity – Lesben und die Verhandlung von Öffentlichkeit und Privatheit, in: Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (Anm. 18), S. 95–120, hier S. 102.

  21. Vgl. Albert Scherr/Çiğdem Inan, Flüchtlinge als gesellschaftliche Kategorie und als Konfliktfeld. Ein soziologischer Zugang, in: Thomas Eppenstein/Cinur Ghaderi (Hrsg.), Flüchtlinge: Multiperspektivische Zugänge, Wiesbaden 2017, S. 129–146, hier S. 143.

  22. Vgl. Nicola Lauré al-Samarai/Gaston Ebua, „Selbstorganisation braucht ein tiefes, kritisches Selbstverständnis“: Transnationale Konzepte und Praxen der Initiative The VOICE Refugee Forum, in: Kien Nghi Ha/Nicola Lauré al-Samarai/Sheila Mysorekar (Hrsg.), re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster 2007, S. 389–398, hier S. 393.

  23. Vgl. Eddie Bruce-Jones, Death Zones, Comfort Zones: Queering the Refugee Question, in: International Journal on Minority and Group Rights 1/2015, S. 101–127, hier S. 117.

  24. Besonders eindrücklich siehe Verwaltungsgericht München, M 2 K 13.30275, Urteil vom 29.11.2013.

  25. Vgl. David A.B. Murray, The (Not So) Straight Story: Queering Migration Narratives of Sexual Orientation and Gendered Identity Refugee Claimants, in: Sexualities 4/2014, S. 451–471, hier S. 453.

  26. Vgl. exemplarisch Moira Dustin/Nuno Ferreira, Improving SOGI Asylum Adjudication: Putting Persecution Ahead of Identity, in: Refugee Survey Quarterly 3/2021, S. 315–347.

  27. Ines Rössl, Wenn „Othering“ scheitert: Häusliche Gewalt als Fluchtgrund, in: Fremden- und Asylrechtliche Blätter (FABL) 1/2016, S. 1–14, hier S. 10.

  28. Vgl. Fassin (Anm. 11), S. 60.

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ist Sozialwissenschaftlerin und schreibt regelmäßig zu migrationspolitischen Themen. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen Migration, Rassismus und Rechtssoziologie.