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Streitpunkt Queer | bpb.de

Streitpunkt Queer Essay

Sarah Pines

/ 15 Minuten zu lesen

Nicht nur im globalen Kulturkampf sorgt das Konzept der Queerness für Aufruhr – auch feministische Bewegungen streiten seit Jahrzehnten darüber. So mancher feministische Ansatz verkennt dabei die Theorien, auf die er sich bezieht.

Droht in den USA – und von dort vielleicht in die westlichen Gesellschaften hinüberschwappend – nach „linkem Gesinnungsterror“ um Geschlecht und Sexualität nun die Cancelei aller Errungenschaften der Geschlechtertheorie „von rechts“. Oder handelt es sich um die notwendige Zensur einer schon längst aus den Fugen geratenen Ideologie? Diese Fragen sind derzeit noch nicht abschließend zu beantworten ist, doch so viel ist klar: Schon länger tobt in den USA, wie auch in westlichen Gesellschaften insgesamt, der Kulturkampf um Geschlecht und sexuelle Identität, zwei inzwischen weit auslegbare Begriffe, an die sich kollektive Ängste vor Verlust der nationalen Identität, der Hegemonie des Westens, oder traditioneller Familienstrukturen koppeln – und dies umso mehr vor dem Hintergrund der Radikalisierung von Individualitäten im digitalen Zeitalter. Heute findet die Auslegung des Geschlechtsbegriffs nicht nur im Hinblick auf nicht-heteronormative Sexualitäten, Frauenrechte oder alternative Lebensmodelle statt, sondern zugespitzt auf Transgender und Queerness als legitime identitäre Kategorien.

Die gegenwärtige Debatte ist erhitzt und aggressiv: Aus Sicht queerer Gendertheorie tyrannisiert eine heteronormative Mehrheit von ihr abweichende Identitäten; aus Sicht der Kritiker dieser Theorie verachtet eine tonangebende Minderheit ebendiese Mehrheit. Doch sind die Fronten verwobener, als dass sie allein auf die Dichotomie „progressiv“ versus „konservativ“ zu reduzieren wären. Innerhalb des Feminismus konzentriert sich der Kulturkampf um das Geschlecht auf Fragen nach der möglichen oder unmöglichen Verortung von Transfrauen innerhalb der feministischen Bewegung. Ferner wird die Deutungshoheit über das „Geschlecht“ und damit zusammenhängend über die Begriffe „Frau“, „Mann“ und „Identität“ vom gesamten politischen Spektrum instrumentalisiert: Die Linke streitet mit „rechten Radikalfeministinnen“, der Kirche, und denen, die an die bürgerliche Kernfamilie glauben; die konservative Rechte mit „Progressiven“ beziehungsweise „Gender-Ideologen“. Darüber hinaus tobt ein Streit zwischen TransaktivistInnen, dem Konservatismus und dem Feminismus alter Schule, aber auch innerhalb der Transgemeinschaft selbst.

Gesellschaftlich gilt oder galt zumindest seit den 1990er Jahren zunehmend die Prämisse: Transgender – das Auseinanderklaffen beziehungsweise die Unvereinbarkeit von biologischem Geschlecht und erfahrener geschlechtlicher Identität – ist eine innere, intime Realität, die die Gesellschaft akzeptieren und entsprechend danach handeln muss. In den USA ist dies nun vorbei.

Queer in den USA

Unverzüglich nach Amtsantritt hat Donald Trump die bisherigen Errungenschaften der Geschlechtertheorie pauschalisierend und unterkomplex infrage gestellt. Diese sei, so das Dekret 14168, eine „zerstörerische Kraft“, die die biologischen Realitäten des weiblichen und männlichen Körpers leugne. Transfrauen sei fortan der Zugang zu „intimate single-sex spaces and activities designed for women“ zu verwehren. Frauenschutzräume wie Frauenhäuser oder Umkleidekabinen sollen so nur noch biologischen Frauen vorbehalten sein, vermeintlich, um sie vor sexuellem Missbrauch und Nötigung durch Männer, auch wenn diese sich als Frauen identifizierten, zu schützen. Künftig erkennen die USA nur noch die zwei biologischen Geschlechter an: Mann und Frau. In Pässen ist nur noch die Angabe des biologischen Geschlechts (sex) erlaubt.

Ferner legt das Dekret „Protecting Children From Chemical and Surgical Mutilation“ fest: Regierungsgelder für geschlechtsangleichende Operationen und hormonelle Behandlungen von Minderjährigen mit Pubertätsblockern, die bisher an Versicherungen, Krankenhäusern und Universitäten ausgeschüttet wurden, werden gestrichen. Am 5. Februar 2025 unterzeichnete Trump schließlich ein nächstes Dekret: Transfrauen ist fortan die Teilnahme am Frauensport verboten. Hierüber gab es in der amerikanischen Gesellschaft seit Jahren Streit; der Zugang zu Frauensport insbesondere an öffentlichen Universitäten soll künftig nur biologischen Frauen vorbehalten sein.

Es bleibt abzuwarten, ob so der Geschlechterkampf sein Ende findet. Denn so viel ist ebenfalls sicher: In den letzten Jahren hat der Streit um das Geschlecht, um Weiblichkeit, Männlichkeit, Transgender oder Queerness ideologische Züge angenommen; sowohl „von links“ als auch „von rechts“. Die (linksprogressive) Infragestellung der Validität körperlicher Realitäten und biologischer Gegebenheiten und die Definition von Geschlecht und/oder Sexualität als innere, wie auch immer diffuse Wahrheit hatten nicht nur den Ton der Debatte verschärft, sondern auch das eigentliche Ziel der Geschlechtertheorie verraten: den Schutz der Vulnerablen. Und nichts ist mehr en vogue als Queerness. Queer-Sein durchzieht alle Bereiche der Gesellschaft: Es gibt nicht nur queere Menschen, sondern auch queere Haustiere und queeres Verreisen, queere Kleidung, queeres Essen und Kosmetik, queere Haarschnitte, Museen, Sexspielzeuge, Autos und mehr.

Gefühlte Wahrheiten

Wer gilt in westlichen Gesellschaften als Mann, wer als Frau? Ist eine verlässliche Identifikation über biologische Realitäten hinweg, die allein auf dem Gefühl der Aussagenden beruht, überhaupt möglich und angemessen? Was bedeutet es, wenn queere Menschen eindeutige Zuschreibungen ganz verweigern? Ist das überhaupt problematisch – und wenn ja, warum? Eigentlich wurde die Geschlechtertheorie, die aus den Frauenstudien des Feminismus zweiter Welle hervorging, zum Schutze von Minderheiten geschaffen, wie Judith Butler, Koryphäe der Queer Studies, unlängst und in höchst kritischer Antwort auf Trumps Geschlechterpolitik, in der „London Review of Books“ schrieb. Doch schon länger haben sich die Geschlechtertheorie und die mit ihr zusammenhängenden Queer Studies von ihrem emanzipatorischen Kern entfernt. Queer ist – so empfinden es Kritiker – zu einer Kategorie kultureller Aneignung durch eine vornehmlich weiße Mittelschicht geworden, die eine essenzialistische Sexualität zum Lebensstilaccessoire erhebt und nun ihrerseits heteronormativen Sex pathologisiert.

Dass biologische Tatsachen durch Ideen, Gefühle und Sprache verändert, gar negiert werden können, ist heute die Hauptprämisse der Geschlechtertheorie. Von Kritikern hingegen wird sie gemeinhin als der Punkt beschrieben, an dem die einst bitter nötige Revision der Machtverhältnisse, nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch hinsichtlich zwischenmenschlicher Beziehungen, in die Ideologie kippt. Zumindest in den USA wurde ein Klima des Ressentiments geschaffen, das Menschen gegeneinander aufbrachte, die Gesellschaft spaltete und mit Begriffen wie Queerness die Erfolge der Homosexuellenbewegung in Zweifel gezogen hat.

„Queer“ ist geläufige Sammelbezeichnung für sexuelle Identitäten und steht für das Q der LGBTQ-Bewegung; nicht alle Menschen, die sich als homosexuell, trans oder intersex bezeichnen, würden sich auch als queer bezeichnen. In vorindustrieller Zeit bedeutete Queerness ausschließlich „Seltsamkeit“ oder „Verschobenheit“, bezeichnete ab der Mitte des 19. Jahrhunderts abschätzig homosexuelle oder „verweiblichte“ Männer. Im Zuge der sexuellen Revolution der 1960er Jahre, und verstärkt seit den Stonewall-Unruhen in New York City im Juni 1969, als die LGBTQ-Bewegung ihren Ausgang nahm, wird unter Queerness die Ablehnung heteronormativer Werte und (sexueller) Praktiken sowie binärer Geschlechterverhältnisse verstanden. Queer ist demnach weder männlich noch weiblich, weder heterosexuell noch homosexuell. Queer ist nicht-binäre Geschlechterfluidität, ist weder-noch und darin sowohl-als-auch, ist lesbisch, schwul, bi, trans, pan, aromantic, a-gender oder nichts von allem, ohne Abschluss, ohne Grenzen. Als solches markiert „queer“ einen der Höhepunkte des kapitalistischen Spiels ewiger Austauschbarkeit: Jeder kann alles sein und alles begehren, alles kann gekauft werden, alles ist immer irgendwie zu haben – für die, die es sich leisten können.

Feministische Ursprünge und Querelen

Gedacht war es anders. Als das „Combahee River Collective“, ein Zusammenschluss lesbischer, afroamerikanischer Feministinnen in den 1970er Jahren in Boston den Begriff „Identitätspolitik“ erfand, ging es ihnen darum, Zusammenhänge verschiedener Systeme der Unterdrückung zu analysieren, um Pathologisierungen von Sex und Sexualität politisch und gesellschaftlich zu überwinden, gerade im Hinblick auf schwarze Frauen in prekären Verhältnissen. Bis heute sind queere oder transgender Insassen amerikanischer Gefängnisse fast ausschließlich schwarz und prekär. Auch außerhalb des Karzeralsystems sind sich als queer oder transgender identifizierende people of color disproportional häufig einem System regulierender und disziplinierender Überwachung unterworfen: durch das Gesundheits- und Bildungswesen, Sozialdienste, gemeinnützige Vereine. Die Soziologen Owen Daniel-McCarter, Erica Meiners und R. Noll kommen zu dem Ergebnis, dass die „self-advocacy“ von queeren people of color „is often marked (…) as disruptive and predatory“, weiße Queerness hingegen nicht oder nur selten.

Nichtsdestotrotz: Queer begann als Teil eines begrifflichen tool kits, das Rassifizierungen und Diskriminierungen sexuellen Begehrens kritisch durchleuchten und bekämpfen sollte. Queerness zerlegte Identitäten in Spielformen der Lacanschen jouissance, war anarchische Sexpositivität, Performanz von Lust, Denkweise und nötiger Widerstand gegenüber kultureller Homogenisierung, und eben nicht, wie heute, identitätspolitische Kampfansage und Gesinnungsethik, die, zumindest in den USA (und trotz Donald Trumps berechtigter oder unberechtigter Kampfansage gegen sämtliche Institutionen penetrierende Diversitätsmaßnahmen) noch lange nicht geschlechtsreife Kindergarten- und Schulkinder sexualisiert, indem sie diesen abverlangt, auf Fragebögen ihre präferierten Pronomen zu nennen (he, she oder they) oder sich wie auch immer als nicht-binär zu „outen“.

Auch für Judith Butler bedeutete Queerness, wie 2021 im britischen „Guardian“ bekräftigt, zu keiner Zeit eine „Identität“, sondern „a way of affiliating with the fight against homophobia“, ein „movement opposed to the policing of identity“, das gegen öffentliche wie häusliche Gewalt, gegen die Diskriminierung und Pathologisierung von Homosexualität vorging, und für das Recht auf ein befreites, sicheres Leben im eigenen Körper einstand. „I’m not queer, I am disembodied“, schrieb bereits der Schriftsteller William Burroughs. Ähnlich formuliert es der Literaturkritiker Lee Edelman: „queerness could never constitute an authentic or substantive identity, but only a structural position determined by the imperative of figuration; for the gap, the non-coincidence“. Queerness nicht als Haltung, sondern als Identität verstanden, so Edelman, verkörpere zunehmend einen hedonistischen und antisozialen Narzissmus, der nun seinerseits eine Sozialpolitik der Ausgrenzung – gegenüber Heterosexualität – betreibe.

Wie wurde also aus Queerness, die das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verteidigte, ein identitätspolitischer Modebegriff? Durch eine doppelte Fehlinterpretation der Texte, die Queerness (und Transgender) als legitime identitäre und nicht-körperliche Kategorien begründen sollten, in denen diese Begründung aber nie angelegt war. 1986 formulierte die Historikerin Joan Wallach Scott eine Kritik an die ihrer Ansicht nach eintönige Unterkomplexität mit der sich die „Frauenstudien“ seit den späten 1960er und 1970er Jahren des weiblichen Geschlechts annahmen formuliert. „Geschlecht“ beziehungsweise „Gender“, so Scott, beziehe sich zwar auf die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau, bezeichne ferner geschlechtliche Differenz und stereotype Geschlechterrollen, sei aber in sich ein machtpolitischer Begriff, dessen Bedeutung sich permanent ändere und verschiebe und historischem Wandel unterliege.

„Man wird nicht als Frau geboren“

Rufen wir uns an dieser Stelle den berühmten Satz der französischen Philosophin Simone de Beauvoir in Erinnerung: „Man ist nicht als Frau geboren, man wird es („On ne naît pas femme: on le devient“). Viele kennen den Titel des Werkes, dem dieser Satz entstammt, doch nur wenige werden das fast 1000-seitige feministische Großwerk „Le Deuxième Sexe“ in Gänze gelesen haben. In der gegenwärtigen Debatte um Identität und Geschlecht spielt der Satz die Rolle des Totschlagarguments – birgt er nicht die Logik, jeder könne Frau werden, auch diejenigen, die biologisch Nicht-Frau sind? Mitnichten. Wohl keinen Satz haben die Geschlechtertheorien, und aus ihnen hervorgehend die Queer Studies, nachlässiger angewandt.

De Beauvoir war, was den Geschlechterbegriff anging, konservativ und führte die existenzialistische Philosophie ihres Lebenspartners Jean-Paul Sartre fort, ohne einen neuen Feminismus begründen zu wollen. Bereits zu Beginn ihres Buches empfiehlt sie, den Feminismus beiseite zu lassen, denn dort würde nur gestritten: „La querelle du féminisme a fait couler assez d’encre, a présent elle est à peu près close. N’en parlons plus.“ De Beauvoirs berühmtester Satz ist ohne Sartres ebenso berühmten Satz „Die Existenz geht der Essenz voraus“ („l’existence précède l’essence“) nicht zu denken. Sartre vertrat den Gedanken apriorischer Willensfreiheit, aus der heraus wir Handlungen wählen, die uns zu dem machen, was wir sind. Kein Gott, kein Unterbewusstes und keine Produktionsverhältnisse bestimmen unser Leben, sondern unser Wille: Wir werden über die Summe unserer „Entscheidungen“ zur „Essenz“ unserer selbst, werden, was wir ausgesucht haben, zu sein.

Unsere Biologie allerdings bleibt. „Das andere Geschlecht“ ist ein Buch für Frauen, nichts darin verneint die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau. De Beauvoir schreibt: „la division des sexes est en effet un donné biologique“. Zwischen der „Natur“ der Frau, ihrer Anatomie (die sich von der des Mannes unterscheidet), und ihrem Willen herrscht im Kontext der Gesellschaft und ihren Anforderungen ein dialektisches Spannungsverhältnis: Die Frau wird biologisch als Frau geboren, dann wird sie die Frau, die sie sein möchte (wenn sie es wagt, zu wählen), auch wenn sie Konventionen sprengt. „Emanzipation“ bedeutet für de Beauvoir demnach das Prinzip der freien Wahl, gesellschaftlichen Vorstellungen von Weiblichkeit wie „Jungfrau“, „verheiratete Frau“, „Mutter“, „Prostituierte“ zu entsprechen oder sie zu durchbrechen. Dem Mann kann sie sich annähern – aber nicht, um „Mann“ zu werden, sondern – hier greift das sozialistische Gedankengut, das sie vertrat –, um wie der Mann zu arbeiten und finanziell unabhängig zu werden. Als gleichwertige Kameradin des Mannes.

Auf diesen berühmten Satz, sowie auf Scotts Aussage von der Subjektivität des Frauseins, gründete Judith Butler (unter anderem) ihre Gendertheorie, die, missinterpretiert und verzerrt, nicht nur zur Grundlage der heutigen Transgenderbewegung wurde, sondern auch Mantra der Queer Studies. Was macht in westlichen Gesellschaften Frauen zu Frauen und Männer zu Männern: das Geschlecht als soziales Konstrukt oder das Geschlecht als biologische Realität? Seit dem Erscheinen von Butlers Buch „Gender Trouble“ veranlasst diese Frage Streit: „Rechtskonservative“ kritisieren „linke Genderfanatiker“ für die Leugnung körperlicher Realitäten von Mann und Frau und die Reduktion geschlechtlicher Unterschiede auf den Körper als nicht spezifizierte Fläche, auf die allein die Gesellschaft Geschlechterregeln ritze. Dagegen der Vorwurf der Gendertheorie an „Rechtskonservative“: Fortpflanzungsorgane, Hormone oder genetische Veranlagung reichten nicht aus, um daraus verschiedene Begabungen, Eigenschaften und Tätigkeitsbereiche von Mann und Frau abzuleiten (platt formuliert: Prädestinieren Eierstöcke eine Frau zur Hausfrau und Emotionalität, Hoden einen Mann zur Arbeit und Rationalität?).

Doch Butler ging es nicht um die Leugnung körperlicher Unterschiede von Mann und Frau, sondern um die interessantere Frage: Warum werden bestimmte körperliche Gegebenheiten von Mann und Frau so lange beständig wiederholt, besprochen, dargestellt (Männer weinen nicht, sind bessere Handwerker, Frauen neigen zur Hysterie, können schlecht Autofahren, et cetera), bis manche zur Norm wurden, hingegen nicht, die stattdessen als „abweichend“ oder „unnatürlich“ gelten? In westlichen Gesellschaften ist der weiße Mittelklassemann mit gesichertem sozialem, kulturellem und ökologischem Kapital weiterhin Männlichkeitsmaßstab und zugleich Hassobjekt sämtlicher Geschlechterbewegungen.

Fallstricke des Sozialkonstruktivismus

In der Folge stellten die Geschlechterstudien, in Fehldeutung von de Beauvoir, und unter Umgehung der biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau allein die soziale und kulturelle Konstruiertheit von Geschlecht in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Dem Beispiel folgten die Queer Studies.

1990 hatte Teresa de Laurentis an der University of California, Santa Cruz die erste Queer-Theory-Konferenz organisiert. Insgesamt markieren die 1990er Jahre den Beginn der Queer Studies, des queeren Aktivismus, und der beginnenden Institutionalisierung von Homosexuellen- und Transgenderrechten. Akademikerinnen wie Gloria Anzaldúa, Gayle Rubin oder Eve Kosofsky Sedgwick argumentierten klug und auf Grundlage von Michel Foucaults vierbändiger „Geschichte der Sexualität“ (1976). Dort schreibt Foucault, dass „homosexuality appeared as one of the forms of sexuality when it was transposed from the practice of sodomy onto a kind of interior androgyny, a hermaphrodism of the soul. The sodomite had been a temporary aberration; the homosexual was now a species.“ Sexualität, so der Gedanke der frühen Queer Studies, ist keine dauerhafte Essenz, sondern kontingentes Produkt der Geschichte und Positionierung außerhalb der Norm – wie der Sadomasochismus.

Eine zentrale Frage queerer Theoriebildung war, ob Homosexualität und damit auch Hetero- und Bisexualität körperlich gegeben oder rein sozial konstruiert sind. 1995 schrieb David Halperin: „Queer is (…) whatever is at odds with the normal, the legitimate, the dominant. There is nothing in particular to which it necessarily refers. It is an identity without an essence.“ Queer wurde aus Sicht derjenigen, die auf körperlichen Wahrheiten beharrten, zunehmend zum alles und nichts, zur rein relationalen, wabernd undefinierten Position in Opposition zum Rest, die sich an der eigenen Lust ergötzt. Die Queer Theory hatte begonnen, sich im Wald des sozialen Konstruktivismus zu verlaufen, wo sie, ebenso wie die Geschlechtertheorie, bis heute herumirrt. Die Prämisse: Wir sind rein gesellschaftlich generierte Wesen, die Kategorien, anhand derer sich „Identität“ bestimmt, sind nie naturgegeben, können es unmöglich sein.

Wenn Geschlecht und Sexualität aufgrund rein gesellschaftlicher Konstruiertheit zur inneren Wahrheit werden, steht die (konservative) Kritik bereits parat und fällt leicht. Woher wissen wir, dass ein biologischer Mann, der sagt, er sei eine Frau, auch wirklich eine Frau ist? Woher wissen wir, dass queer das ist, was es sich zu definieren weigert? Nur von den Aussagenden selbst. Geschlecht wird als Gefühl begriffen, als subjektiv gelebte Erfahrungen, oder es löst sich in der Queerness ganz auf, verflüssigt sich, ist, aus Sicht der Kritiker der heutigen Geschlechtertheorie, eine Form der Ideologie geworden, die versucht, sich die Aura der Wissenschaftlichkeit zu verleihen, dabei aber immer wieder versagt, versagen muss. Der Tenor der Kritik: Eine (queere) Geschlechtertheorie, die die sozialen Bedingungen geschlechtlicher Machtverhältnisse untersucht, ist nicht ideologisch. Wenn aber die Biologie ausgeklammert wird und hinter soziale Aspekte zurücktritt, wenn Aussagen reichen, um Identitäten zu begründen, befinden wir uns im Bereich der Ideologie.

Teile der feministischen Bewegung äußern die Sorge, dass normale pubertäre Ängste – etwa Unwohlsein über die wachsende Brust oder die erste Menstruation – auf die ein burschikoses Tomboy-Verhalten oft nur eine vorübergehende Gegenwehr ist, junge Mädchen unnötig und fälschlich von ihrem Frausein entfremde, indem diese von ihrem erzieherischen oder elterlichen Umfeld vorschnell „trans“ oder „nicht-binär“ gelabelt werden. Im Hinblick auf Queerness schreibt Annamarie Jagose: „Queer may exclude lesbians and gay men whose identification with community and identity marks a relatively recent legitimacy, but include all those whose sexual identifications are not considered normal or sanctioned“.

Anders formuliert: Queerness entsexualisiert die Identität an dem Punkt, an dem es doch gerade um Sexualität gehen muss. Sex – gemeint sind an dieser Stelle einvernehmliche, körperliche Begegnungen – ist kompliziert und ambivalent, nie ganz schön, nie ganz schlecht, weder rein „gut“ noch rein „böse“. Hier hat die Homosexuellenbewegung, die sich heute in Teilen von Queerness und der Transgenderbewegung abgrenzt, über Geschlechtergrenzen und Präferenzen hinaus gelehrt, dass Sex und die Art und Weise, in der Menschen einander sexuell begegnen, zu den tiefsten, komplexesten und kostbarsten Erfahrungen der menschlichen Existenz gehören. Die Art des Umgangs mit Sex und Sexualität zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte verrät viel, wenn nicht alles über die Gesellschaft, Kultur und Politik, die das Denken und Verhalten prägen.

Unklare Zukunft der Geschlechter

Toleranz oder Bekenntniszwang, Sicherung von Minderheitenrechten oder die Erhebung der Standards von Minderheiten zur Norm für die Mehrheit: Vor der Rigorosität einer auf die Spitze getriebenen Identitätspolitik, die diejenigen vernachlässigt, um die es eigentlich gehen sollte, warnte die Politologin Wendy Brown bereits in den 1990er Jahren, als die Begriffe „queer“ und „queerness“, die Judith Butler um das Verb „queering“ ergänzt hatte, gegenüber den Gender Studies, aus denen heraus sie entstanden waren, größere Eigenständigkeit erlangt hatten. Brown schrieb, eine „Identität“ zu haben, könne bedeuten, sich auf totalitäre und regulierende Art und Weise abzugrenzen, und sich dadurch nolens volens erneut Kategorien wie „Rasse“ und Sexualität zu unterwerfen, deren Dichotomien und Vereinfachungen man doch eigentlich überwinden wollte.

Zurück in die USA, wo der Kulturkampf um Geschlecht und Identität die Gesellschaft weiter polarisiert. Ist eine Rückkehr zu dem alten, binären Geschlechtermodell möglich? Wahrscheinlich nicht. Was die Geschlechterpolitik der neuen US-Regierung angeht, ist die amerikanische Gesellschaft allerdings gespalten. Nahezu einhundert Prozent der Republikanischen Wähler begrüßen sie; am 6. März 2025 sprach sich überraschenderweise auch der Demokratische Gouverneur von Kalifornien, Gavin Newsom, gegen eine Teilnahme von Transfrauen am Frauensport aus. Nun ist von Verrat an demokratischen Idealen die Rede. Insgesamt sind der mediale Aufschrei und die nationale und internationale Empörung über die amerikanische Geschlechterpolitik verständlich und groß. Zentren für LGBTQ-Rechte, Interessenverbände, Menschenrechtsgruppen klagen gegen die Dekrete der Trump-Regierung, in verschiedenen Bundesstaaten stoppen Bundesrichter vorübergehend alle oder ausgewählte Maßnahmen. Der langfristige Ausgang des Streits um das Geschlecht bleibt dabei unklarer denn je.

ist promovierte Literaturwissenschaftlerin. Sie arbeitet als freie Journalistin und Autorin und lebt in New York.