Um „Gender“ und „Queer“ ranken sich Mythen und Phantasien. Beide Begriffe sind seit Jahren im Feuilleton und in der Popkultur präsent, etwa als Elemente kulturkämpferischer Polemiken, als Teil konkreter policies, als funkiges Ornament zahlreicher Serien, Bücher, Filme oder Partyreihen. Von einem regelrechten „Krieg der Gendersterne“
Gender und Sexualität, die zentralen Themen der Gender und der Queer Studies, sind ebenso zentrale Aspekte unserer Wirklichkeit: individuell wie strukturell, historisch wie gegenwärtig, subjektiv wie objektiv, bei der Arbeit und im Privaten, körperlich und geistig, bewusst wie unbewusst. Und das bedeutet auch: An den Gender Studies beteiligten sich idealiter alle, faktisch fast alle wissenschaftlichen Disziplinen. „Studies“, wie in Gender oder Queer Studies (aber etwa auch European oder Disability Studies), sind selber keine eigenen Disziplinen im engeren Sinne, sondern dynamische Felder, die sich um spezifische Probleme beziehungsweise Phänomene herum kristallisieren, und an denen – je nach Thema – verschiedene Fächer teilnehmen.
„Krake“ Gender Studies
Diese Situation führt dazu, dass die Gender Studies wie die Queer Studies amorph und omnipräsent wirken können. Tatsächlich findet man vor allem erstere beinahe überall in der Wissenschaft: in Lektürelisten und Publikationen, von der Archäologie bis zur Zoologie, als Professuren(teil)denomination in Soziologie, Medizin, Germanistik, Philosophie, Erziehungswissenschaft oder Architektur. Ein bisschen Gender, manchmal auch mehr, ist in vielen Forschungs- und Lehrkontexten enthalten. Doch wird die Quantität und vor allem die institutionelle Verankerung der Gender Studies in der Öffentlichkeit meistens weit überschätzt. Bei genauerem Hinsehen sind heute circa 0,5 Prozent der Professuren im deutschsprachigen Raum entsprechend denominiert, und die eh gar nicht so vielen Zentren für Gender Studies sind meist kleine Einheiten mit überaus prekärer Finanzierung. Es gibt zahlreiche Koordinationsstellen an deutschen Universitäten und auch diese sind vielfach ohne Ressourcen ausgestattet. Mit einem evidenzbasierten, systematischen und nüchternen Blick bleibt von der medial bisweilen arg dramatisierten angeblichen Dominanz und Unausweichbarkeit der Gender Studies nicht viel übrig.
Die Queer Studies sind im deutschsprachigen Raum weitaus weniger präsent und etabliert als die Gender Studies – so gibt es hierzulande nur einen entsprechenden Studiengang.
Was teilen Gender und Queer Studies?
Gender Studies befassen sich mit Geschlechterfragen, Queer Studies hingegen mit Sexualität und Begehren. Beide Felder teilen einige Grundmotive und -annahmen, sie verhandeln allerdings verschiedene Themen – mit einer, zugegebenermaßen, größeren Schnittmenge.
Gender meint Geschlecht beziehungsweise Geschlechtlichkeit. Grob und im Allgemeinen lassen sich die Bezeichnungen „Gender Studies“ und „Geschlechterforschung“ synonym verwenden. Es gibt eine andauernde Debatte über diese Bezeichnungen und auch darüber, ob gender auch biologische, natürliche, chromosomale, anatomische, neuronale, also somatische Aspekte einschließt oder gerade nicht, da im Englischen ja der Begriff sex diese adressiert. Die Trennung von sex und gender sowie deren Verklammerung ist eine der chronischsten und charakteristischsten Diskussionen im Feld der Gender Studies selbst.
Zunächst sollte aber bedacht werden, dass das „Gender“ in „Gender Studies“ nicht notwendigerweise biologische oder körperliche Aspekte ausblendet – und wenn doch, dann vielfach aus guten, forschungsbasierten Gründen. Will man etwa die Darstellungen von Müttern im Film erforschen, so sind strikt biologische Aspekte eher nicht von Belang. Werden geschlechtliche beziehungsweise sexualisierte Gewalterfahrungen oder Gesundheits-/Erkrankungsthemen beforscht, spielen körperliche, biologische Aspekte durchaus eine Rolle. Damit ist ein weiteres Grundelement der Gender Studies aufgerufen: Es sind keineswegs nur Frauen drin, wo „Gender“ draufsteht. Gender Studies befassen sich seit jeher mit allen Geschlechtern und Geschlechtlichkeiten, insbesondere auch deshalb, weil gender als relationaler Begriff verstanden wird – als Begriff, der nur innerhalb anderer Begriffe verstehbar und nutzbar ist (etwa „Frau“ als „Nicht-Mann“). Es stimmt allerdings, dass es in den Gender Studies faktisch deutlich mehr um Frauen und Weiblichkeit geht als um Männer und Männlichkeit, und sowieso mehr als um nicht-binäre Formen oder transgeschlechtliche Wirklichkeiten. Letztere gewinnen zunehmend an Relevanz in der Forschung, ebenfalls begleitet von intensiven Kontroversen.
Doch die (auch in der Forschung selbst-)kritische Befragung der Geschlechterbinarität ist keineswegs eine neumodische Erscheinung: Bereits seit den späten 1980er Jahren wird die Binarität von Geschlecht in der Frauenforschung, dann in den Gender Studies selbst als „essentialistisch“ moniert.
Das ist ein Punkt, der lebensweltlich und im politischen Raum immer wieder missverstanden wird beziehungsweise schwer nachzuvollziehen ist. Vielfach wird, auch entgegen eigener Erfahrungen, eine entweder/oder-Eindeutigkeit vermutet und gewünscht, die die Wissenschaft nicht liefern kann, wenn sie sich mit komplexen biosozialen Phänomenen auseinandersetzt. Und genau damit befassen sich die Gender Studies seit jeher: wie im ganz trivialen, normalen, selbstverständlichen Alltag der meisten Menschen Geschlecht verstanden, gedeutet, erlebt und verhandelt wird. Zwischen Judith Butlers „Gender Trouble“, „doing gender“ und der „Kontingenz“ sozialer Kategorien bringen die Gender Studies immer wieder ans Licht, wie komplex, voraussetzungsreich, variabel und eigensinnig Geschlecht im Alltag ist.
Während die Gender Studies vor allem die soziale Konstruktion von Geschlecht analysieren, zielt die Queer Theory auf die Enteigentlichung und kritische Befragung von Sexualität und Begehren. „Queer“ bedeutet hier nicht nur „nicht heterosexuell“, sondern bezeichnet eine Perspektive, die normative Vorstellungen von Sexualität (und auch Geschlecht) als Element sozialer Ordnung untersucht:
Gegen Eigentlichkeitsbehauptungen
Diese kritische Begriffs- und Selbstbefragung und das entsprechende skeptische Staunen der Öffentlichkeit teilen die Gender Studies mit vielen Disziplinen, auch mit den Queer Studies. So wie Geschlechtlichkeit weitaus vielfältiger und unklarer ist als meist angenommen, sind es auch Sexualität beziehungsweise Begehren. Auch die Queer Studies weisen die Idee einer angeblich eigentlichen, richtigen, von sozialen und kulturellen Bedingungen völlig unabhängigen „natürlichen“ Sexualität zurück und erforschen vielmehr, was dafür gehalten wird, von wem, wann, wo und mit welchen Mitteln. Dass beide Felder, Gender wie Queer Studies, betont anti-essenzialistisch agieren – manche sagen „kritisch“, „reflexiv“ oder „(de)konstruktivistisch“ –, ist kein Zufall. In beiden Feldern gibt es eine wohlbegründete, aber nicht immer ausbuchstabierte, Skepsis gegenüber Eigentlichkeitsbehauptungen. Denn diese haben sich politisch und forschend immer wieder als empirisch implausibel und als Ideologien erwiesen, die Ungleichheit, Gewalt, Entrechtung, Kriminalisierung und Abwertung legitimiert haben. Die Gender und Queer Studies sind in dieser Hinsicht „Verunsicherungswissenschaften“, sie irritieren alltägliche Vorurteile.
Das ist im Übrigen eine normale Diskrepanz zwischen Forschung und Alltagswissen – etwa, wenn sich Laien mit Physikern, Biologinnen, Philosoph*innen, Statistikern oder Juristinnen unterhalten. Wir „Normalmenschen“ denken uns alles Mögliche und machen so unsere Erfahrungen, wir informieren uns im Netz oder schauen eine Doku – und meinen, wir wüssten, wie es sich verhält (mit der Schwerkraft, der Krankheit, der Mehrsprachigkeit, dem Recht, der Genetik oder eben mit Geschlecht und Sexualität). Doch immer und unausweichlich müssen wir Laien uns von Forschenden eines Besseren belehren lassen, und zwar zu Recht. Genau das aber provoziert das bisweilen ungute Gefühl, sich belehren lassen zu müssen, auch noch über die eigenen Erfahrungen, Gedanken und Gefühle. Es ist verständlich, dass dies nicht immer angenehm ist oder als richtig erfahren wird.
Zudem nutzen populistische Mobilisierungen diese strukturelle Asymmetrie des Wissens und das komplexe Wechselspiel zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, um antiwissenschaftliche und/oder anti-intellektuelle Affekte zu schüren und um diese politische relevant zu machen. Da werden dann die „normalen Menschen mit ihren normalen Leben und normalen Problemen“ als Antagonismus gegen „die Genderistas in ihren Elfenbeintürmen, die überalimentiert von unseren Steuergeldern massenhaft Lehrstühle besetzen und unserer Jugend das Hirn mit wokem Quatsch waschen“ positioniert. „Anti-Gender“ und auch anti-queere Mobilisierungen nutzen vielfach die verständlichen Ressentiments, die manche Menschen oder Gruppen gegenüber Wissenschaft haben, um diese als überflüssige, elitäre, ideologische Veranstaltung zu diskreditieren, weil sie sich davon erhoffen, sich selbst als Vertreter*innen der „normalen“ Menschen behaupten zu können.
Prekäre Distanz und lernende Verbundenheit
In beiden Feldern wird in lernender Verbundenheit und zugleich kritischer Distanz zu aktivistischen Konstellationen und sozialen Bewegungen geforscht. Die Queer Studies sind entstanden aus den zunächst Homosexuellen, dann gay und später schwul-lesbischen, schließlich „queeren“ Bewegungen und Mobilisierungen, insbesondere in den USA seit den 1950er Jahren.
Die Diskussionen über Nähe, Distanzierungen, Normativität und Wissenschaft sind gerade in den Gender Studies legendär, sie begleiten das Feld nicht nur, sondern prägen es geradezu – und, wenn man sich auf diese Auseinandersetzungen in ihre Breite und Nachhaltigkeit einlässt, lässt sich an ihnen eine enorme Reflexivität erkennen. Die Gender Studies lassen sich in diesem Sinne als „heiße epistemische Kultur“
Auch in den Queer Studies werden Diskussionen um Nähe oder Distanz zu queer politics und zu Subkulturen ausdrücklich und durchaus kontrovers geführt, und auch in diesem Feld ist das weniger ein destruktives Problem, sondern produktive Reflexivität. Insofern ist die Polemik um Gender Studies als (woke) Ideologie oder als nicht-wissenschaftlicher Aktivismus nicht völlig abwegig. Tatsächlich gibt es wichtige Stränge in den Gender Studies, die sich Normen und Utopien wie Feminismus, Geschlechtergerechtigkeit, dem Kampf gegen Sexismus und geschlechtsspezifische Gewalt verpflichtet sehen; andere wiederum möchten das ganze „heteropatriarchale binäre Gender-System“ abschaffen.
Naturalisierungsskepsis und Naturreformulierung
Gender und Queer Studies teilen grundsätzlich „naturalisierungskritische“ Perspektiven, was die eben skizzierte politische Thematik intensiviert und zugleich verkompliziert. Sie sind beide entstanden aus sozialen Bewegungen, in denen die Kritik an allzu simplen „Biologie-ist-Schicksal“-Ideologien zentral war und ist. Die großen Folgen des „kleinen Unterschieds“
Ein zentrales Anliegen beider Felder ist es, vermeintlich natürliche Ordnungen auf ihre soziale Konstitution und Konstruktion hin zu befragen, also aufzuzeigen, wie das, was als „natürlich“ erscheint, kulturell gedeutet und gesellschaftlich gemacht ist. „Wie natürlich ist Geschlecht?“
Dabei teilen Gender und Queer Studies eine mit der skizzierten Naturalisierungsskepsis zusammenhängende wissenschaftskritische Grundhaltung. Das meint nicht, dass damit Wissenschaft als Antiwissenschaft betrieben würde. Vielmehr beherbergen beide Felder Wissenschaftsgeschichte, kritische Epistemologie und Wissenschaftssoziologie wie -ethik. Diese erforschen Forschung: Sie untersuchen, wie etwa in historischen Perioden Objektivität verstanden oder Naturwissenschaft betrieben wurde und was als objektive Wissenschaft galt, tatsächlich aber (zumindest auch) normativ getränkt oder partikularistisch verzerrt war. Insbesondere (wissenschafts-)historische Perspektiven auf die Geschichte der Wissenschaften von der Geschlechterdifferenz sind in den Gender Studies grundlegend;
Was die Gender und Queer Studies in dieser Hinsicht betreiben – wissenschaftliche Wissenschaftskritik beziehungsweise kritische Wissenschaftsforschung – ist im Übrigen undramatischer Teil von Normalwissenschaft. Insbesondere in Philosophie und Geschichte ist die (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit Methoden, Objektivitätsannahmen sowie erkenntnistheoretischen Grundfragen von Erkenntnis und Wahrheit elementarer Bestandteil der eigenen Forschung. Wissenschaft ist nicht nur die Entdeckung von Evidenz und Fakten, sondern auch die methodisch kontrollierte und nach bestimmten Rationalitätsstandards formulierte Reflexion.
Sex/Gender – Natur/Kultur?
Die Unterscheidung zwischen sex als biologischem und gender als sozialem Geschlecht ist gewissermaßen die Geburtsstunde der Geschlechterforschung. Ursprünglich diente diese Differenzierung seit den späten 1960ern, vor allem in den 1970er Jahren wesentlich dazu, essenzialistische, biologisch begründete Vorstellungen von sozialen Aspekten von Geschlecht zu hinterfragen. Studien konnten zeigen, dass Geschlechterdifferenzen nicht „natürlich“ gegeben, sondern sozial hergestellt sind: Durch Praxis, Normen und Traditionen wird Geschlecht „getan“ – „doing gender“ ist das entsprechende Paradigma, das die Geschlechtersoziologie, empirisch gesättigt seit 1967 kennt.
Das ist erkenntnistheoretisch kein Aufreger, sondern trivial, denn auch biologische Erkenntnisse, etwa in Genetik oder Neurowissenschaft, entstehen niemals außerhalb gesellschaftlicher Vorstellungen von Geschlecht – das ist schlechterdings unmöglich. Auch das „biologische Rohmaterial“ sex wird durch einen kulturell geprägten Blick auf Geschlecht (gender) gesucht, gesehen, identifiziert, bezeichnet, gedeutet.
So produktiv die ursprüngliche analytische Trennung von sex und gender war, so wenig plausibel ist sie auch. Denn, so sehr sex durch gender konstituiert ist, so ist auch gender gebunden und geformt von sex. Hormone, Anatomie, Chromosomen, epigenetische Prozesse und dergleichen sind geschlechtlich relevante Aspekte und Wirklichkeiten. Sie haben ihren Eigensinn, der nicht in Praxis, Deutungen oder Text aufgeht. Heute weicht also die strikte Trennung von gender und sex zunehmend einer Perspektive, die beide Kategorien als wechselseitig konstitutiv versteht. Geschlechtlichkeit ist weder rein biologisch noch rein sozial – sex und gender sind untrennbar miteinander verwoben und bedingen sich gegenseitig. Geschlecht ist, so betrachtet, eine biosoziale Tatsache.
Diese Diskussion ist vielfach ausgesprochen produktiv, insbesondere wenn sie multidisziplinär geschieht, wie etwa im Bereich Public oder Global Health.
Komplexe Wirklichkeit, komplexe Begriffe
Last but not least sei verwiesen auf die sowohl in den Gender wie den Queer Studies relevante Annahme, dass weder Geschlecht noch Sexualität/Begehren an und für sich alleine existieren. Beides sind soziale Differenzen, und als solche sind sie beide immer mit anderen sozialen Differenzen verbunden, von anderen Differenzen also mit-konstituiert. Geschlecht ist gewissermaßen überall, dabei nirgends in Reinform. In den Gender Studies wird Gender intersektional verstanden, also als stets verbunden mit weiteren „Achsen der Differenz“.
Kurzum: „Die“ Weiblichkeit oder „die“ Männlichkeit, gar „die“ Frau gibt es realiter in der sozialen Wirklichkeit nicht, sondern immer nur kontextspezifisch. Aus Sicht der Gender Studies gibt es demnach auch keine ahistorische, außersoziale Eigentlichkeit von Geschlecht, auch nicht als biologisches Faktum. Es stimmt aber eben nicht, dass darum Biologie oder „Natur“ in den Gender Studies geleugnet würden. Vielmehr werden beispielsweise epigenetische oder hormonelle Dimensionen von Geschlecht auch abhängig von Alter, Lebensumständen und Ressourcen betrachtet.
Wenn derzeit einzelne Landesregierungen in Deutschland das „Gendern“ verbieten, so ist das aus Sicht der Gender Studies ausgesprochen interessant. Denn wir wissen: „Gegendert“ wird immer, unausweichlich, sowieso, so oder eben anders.