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Die Entdemokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse durch autoritäre Geschlechterpolitiken | bpb.de

Die Entdemokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse durch autoritäre Geschlechterpolitiken

Johanna Leinius Franziska Martinsen Inga Nüthen

/ 15 Minuten zu lesen

Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt sind Errungenschaften einer pluralen Demokratie. Die Ablehnung dieser Vielfalt ist ein Merkmal der autoritären Rechten – und birgt große Gefahren für die freiheitlich-demokratische Gesellschaft.

Der Begriff „queer“ war im anglo-amerikanischen Raum ein Schimpfwort, bevor queere Menschen ihn sich aneigneten, um deutlich zu machen, dass es in der Gesellschaft mehr als zwei Geschlechter und Heterosexualität gibt. Auch heute ist der Begriff – und die Lebensweisen und Personen, die mit dem Begriff bezeichnet werden beziehungsweise sich selbst so bezeichnen – gesellschaftlich umkämpft. Diese Kämpfe darum, wie Sexualität und Geschlecht gelebt werden und sein dürfen, sind Teil der Auseinandersetzung um die demokratische Gestaltung der Gesellschaft. Denn Sexualität und Geschlecht sind mehr als individuelle Fragen nach der eigenen Identität: Sie durchziehen gesellschaftliche Institutionen und strukturieren die gesellschaftliche Ordnung. Die Aushandlung der Geschlechterordnung ist entsprechend Ausdruck der demokratischen Verfasstheit einer Gesellschaft. Demokratie bedeutet nämlich nicht nur das institutionelle parlamentarische Verfahren zur Erlangung von Mehrheiten, sondern umfasst auch die gesellschaftlichen Prozesse, Handlungs- und Lebensweisen, die Pluralität anerkennen und Gleichheit einfordern. Einer in diesem Sinne verstandenen pluralen Demokratie – das ist das zentrale Argument unseres Textes – stehen autoritäre Geschlechterpolitiken entgegen. Wie Existenz- und Lebensweisen jenseits von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität in der Gesellschaft anerkannt oder abgewertet, er- oder bekämpft werden, sagt also viel über den Zustand einer Demokratie aus. Während die Ausweitung der Rechte und die Anerkennung von queeren Personen und queerem Leben als „Demokratisierung der Demokratie“ gelten können, stellen Ablehnung, Leugnung und Angriffe auf queeres Leben eine Entdemokratisierung der Demokratie dar.

Queerfeindlichkeit ist zentral für rechte, autoritäre Ideologien, wie sich an aktuellen Beispielen veranschaulichen lässt: 2025 hat das ungarische Parlament ein Verbot von Pride-Veranstaltungen verabschiedet, und in den USA wurden seit dem neuerlichen Amtsantritt Donald Trumps zahlreiche Gesetze zur Einschränkung der Rechte von trans* Personen erlassen. Im Sommer 2024 mobilisierten extrem rechte Gruppen vermehrt gegen CSD-Paraden im ländlichen Raum, aber auch in einigen Städten Deutschlands, und griffen Teilnehmende an. Solche aggressiven Verteidigungen einer vermeintlich natürlichen Geschlechterordnung richten sich gegen die demokratische Errungenschaft, dass Geschlechterverhältnisse gesellschaftlich verändert und ausgehandelt werden können. Sie leugnen damit die Kontingenz von Geschlechterverhältnissen – also die Tatsache, dass unser Verständnis und Erleben von Geschlecht nicht notwendigerweise so sein muss, wie es gemeinhin als „normal“ und „natürlich“ gilt. Rechte, autoritäre Geschlechterpolitiken sind nicht nur einen Angriff auf gesellschaftlich marginalisierte Gruppen, sondern wenden sich ganz grundsätzlich gegen eine plurale, demokratische Organisation der Gesellschaft und tragen zur Normalisierung des Autoritären allgemein bei.

Die Leipziger Autoritarismus Studie, die 2024 die Ergebnisse der zwölften Erhebung seit 2002 präsentiert hat, zeigt, dass antifeministische und sexistische sowie transfeindliche Weltbilder sich insbesondere im rechten politischen Spektrum nachweisen lassen. 49 Prozent derjenigen, die sich selbst politisch rechts außen verorten, haben ein geschlossen antifeministisches und 61 Prozent ein geschlossen transfeindliches Weltbild – bei denen, die sich links oder links außen verorten, sind dies knapp 25 Prozent. 71 Prozent der AfD-Wähler*innen weisen eine geschlossen transfeindliche Einstellung auf, im Vergleich zu 43 Prozent der SPD-, 39 Prozent der CDU/CSU- und 13 Prozent der Grünen-Wähler*innen.

Wir sehen: Geschlechter- und sexuelle Verhältnisse sind politisch. Wie wir Geschlecht, Sexualität und damit verbundene Lebensweisen verstehen und gesellschaftlich anerkennen, hat sich historisch entwickelt und könnte auch immer anders sein. Diese Kontingenz gilt es zu reflektieren. Dies kann erstens mit Blick auf die Geschichte geschehen: Wie haben sich die Verhältnisse der Geschlechter und unser Verständnis von Sexualität historisch und an unterschiedlichen Orten gewandelt? Welche Ereignisse, Kämpfe und Strukturen haben zu diesen Veränderungen geführt? Zweitens können wir fragen, warum bestimmte Körper, Beziehungen und Verhaltensweisen als natürlich gelten und andere nicht: Welche gesellschaftlichen Ideen und Machtverhältnisse prägen unsere Vorstellung von Geschlecht, Sexualität und Körpern? Drittens können wir daran anschließend fragen, was dies mit Macht und Herrschaft zu tun hat: Inwiefern wird die vermeintlich natürliche Geschlechterordnung herangezogen, um Ungleichheit zu rechtfertigen? Wer profitiert von einem angeblich biologisch eindeutigen Geschlechterkonzept?

Wie hängt dies genau mit unserem Verständnis von Demokratie zusammen? Zunächst ist Demokratie genuin mit einer Vorstellung von Gleichheit verbunden. Gleichheit und Demokratie gehören jedoch zu den „umkämpften Begriffen“ der politischen Theorie: Je nach Perspektive werden Gleichheit und Demokratie also anders verstanden. In diesem Beitrag nehmen wir die Position queerfeministischer Demokratietheorien ein. Für diese bedeutet Gleichheit nicht nur, dass die Verfahrensweisen zur Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen formal für alle gleich sein sollten. Sie betonen darüber hinaus die Notwendigkeit, den gleichen Zugang aller zur Ausgestaltung des menschlichen Zusammenlebens in einer Gesellschaft zu gewährleisten. Sie fragen unter anderem: Inwiefern begrenzen vergeschlechtlichte und sexuelle Normen, Praktiken und Kontexte die Möglichkeit, sich an den Auseinandersetzungen um die Gestaltung der politischen Gemeinschaft zu beteiligen? In ihrer Analyse sind es unter anderem die „Androkratie“, die Männerzentriertheit bestehender Demokratien und Demokratietheorien, aber auch andere Ungleichheitsverhältnisse, die die Teilnahmemöglichkeiten an der demokratischen Willens- und Entscheidungsfindung ungleich machen. Darüber hinaus stellen queerfeministische Demokratietheorien der Vorstellung individueller Autonomie eine Perspektive entgegen, die die grundsätzliche Verletzlichkeit und Abhängigkeit aller und damit die Notwendigkeit der Sorge füreinander und Solidarität miteinander berücksichtigt.

Das Geschlechter- und Demokratieverständnis der autoritären Rechten

Rechte, autoritäre Parteien und Gruppierungen glauben an eine hierarchisch und dichotom strukturierte Welt und vertreten autoritäre Geschlechterpolitiken. Das bedeutet, dass die Gesellschaft für sie aus einer geordneten Struktur besteht, in der klar identifizierbare Gruppen auf verschiedenen Ebenen ungleich miteinander verbunden sind: Der Mann ist der Frau und bestimmte Bevölkerungsgruppen sind anderen übergeordnet – dies wird mal religiös, biologisch oder sozialdarwinistisch, mal mit „Tradition“ begründet. Immer ist aber klar, dass man nur einer Kategorie zugehören können soll – Vermischung, Mehrdeutigkeit, Fluktuation und alles, was Queerness ausmacht, wird kategorisch abgelehnt. Male supremacy ist dabei eng mit white supremacy verknüpft: Männer, insbesondere weiße Männer, haben in dieser Vorstellung das Recht auf Dominanz und Kontrolle über andere.

Das rechtsautoritäre Weltbild ist zutiefst antidemokratisch. Denn es beruht auf der Annahme, dass Staat und Staatsvolk sich nicht durch Demokratie und Recht konstituieren, sondern auf einer organisch gewachsenen natürlichen Ordnung beruhen. Mit diesem Verständnis geht der Wunsch einher, weite Teile der individuellen Lebensführung und der kollektiven Lebensweisen der Kontingenz zu entziehen: Es sollen eben nicht unterschiedliche Weisen zu lieben und zu leben möglich sein, sondern wir sollen uns in eine vorgegebene hierarchische gesellschaftliche Ordnung einfügen, die auf der heterosexuellen Kleinfamilie beruht, in der Mann und Frau jeweils bestimmte Rollen und Aufgaben übernehmen. Hier ist die heterosexuelle Beziehung zwischen (einem) Mann und (einer) Frau mit dem Ziel, Kinder hervorzubringen, die einzig denk- und lebbare Form von Geschlecht und Sexualität – in der wissenschaftlichen Debatte bezeichnet man diese gesellschaftliche Norm als Heteronormativität.

Wenn rechte Influencerinnen, die sich auch als „Tradwives“ („traditionelle Ehefrauen“) bezeichnen, in den sozialen Medien Kochvideos und Familiengeschichten teilen und dabei dazu aufrufen, möglichst viele weiße Kinder zu bekommen, ist dies kein harmloser Trend, sondern Teil einer autoritären antidemokratischen Ideologie und Geschlechterpolitik. Dass Mutterschaft nicht unbedingt der Lebenszweck jeder Frau ist und dass Geschlechter jenseits der Binarität von weiblich und männlich und Sexualitäten jenseits der Heterosexualität existieren, bedeutet in diesem Weltbild einen Verstoß gegen die Gesellschaftsordnung. Eine Veränderung oder gar Auflösung hierarchisch-binärer Geschlechterverhältnisse ist nämlich – aus rechter Perspektive – eine existenzielle Bedrohung für das Überleben der als Abstammungsgemeinschaft gedachten Nation: Nach der Verschwörungserzählung des sogenannten „Großen Austauschs“ dienen Feminismus, Multikulturalismus und Queerness als Werkzeuge, um durch sinkende Geburtenraten und Einwanderung die weiße „Rasse“ auszulöschen.

In dieser Ideologie scheint es daher nicht nur legitim, sondern sogar notwendig, sich gegen Feminist*innen, queere, trans* und inter*Personen, ihre Verbündeten und Institutionen sowie gegen die Anerkennung von Pluralität, Differenz und Vielfalt zu stellen, auch – in der extremen Version des Rechtsterrorismus – mit vernichtender Gewalt. Antifeminismus fungiert oft als „Scharnier“ zur rechtsautoritären Ideologie, beispielsweise wenn geschlechtergerechte Sprache bekämpft wird oder Influencer auf Tiktok sich für weiße Männlichkeit stark machen.

Und doch gibt es schwule, lesbische und trans* Personen, die sich in rechtsautoritären Gruppierungen und Parteien engagieren. Wie ist dies möglich? Zumindest müssen sie eine „möglichst exakte Einpassung in ein ausschließlich binär gedachtes Geschlechtssystem unter der Prämisse der wesenhaften Unterschiedlichkeit von Frauen* und Männern*“ vornehmen. Das heißt, sie müssen sich selbst als „typischer Mann“ oder „typische Frau“ und als Verfechter*innen des traditionellen Familienmodells der heterosexuellen Kleinfamilie inszenieren – eines biologistischen, heteronormativen Idealbildes, an das sie aber nie ganz heranreichen werden. Ebenso versuchen sie, sich vom Queersein abzugrenzen und progressive feministische Forderungen vehement abzulehnen sowie ihre Gefährdung insbesondere durch migrantisierte Männer, und damit rassistische Narrative, zu betonen. Gleichwohl ist ihre Position in rechten Gruppen prekär und ihnen droht konstant der Entzug der Legitimität.

Charakteristischerweise sind rechtsautoritäre Ideologien auf Ungleichheit und Ausschluss ausgerichtet – Demokratie meint hier eben nicht gleiche Rechte für alle und gleiche Teilhabe an demokratischen Aushandlungsprozessen. Noch weniger beinhalten diese Ideologien ein substanzielles Demokratieverständnis, das auch die materiellen und strukturellen Hürden zur Teilnahme an demokratischen Verfahren abbauen will. Im Gegenteil meinen die Wortführer*innen dieser Ideologien, zu wissen, was der „Wille des Volkes“ sei, der angeblich in etablierten demokratischen Prozessen nicht zum Ausdruck kommen könne: einerseits, weil „das Volk“ nationalistisch-biologisch definiert wird und explizit nicht alle, die in Deutschland leben, miteinschließt. Andererseits, weil angenommen wird, dass es eine imaginierte Elite gibt, die die Geschicke des Landes zu Ungunsten „des Volkes“ manipuliert – eine Erzählung, die oft antifeministisch, antisemitisch und queerfeindlich angereichert ist. An dieser Stelle zeigt sich erneut: Antifeministische und queerfeindliche Einstellungen korrelieren mit antidemokratischen Grundhaltungen – wer queeres Leben bedroht, bedroht auch eine plurale, demokratische Gesellschaft.

Geschlechtliche und sexuelle Differenz in pluralen Demokratien

Antifeministische und queerfeindliche Einstellungen sowie rechtsautoritäre und rechtspopulistische Kampagnen bedrohen sowohl die plurale demokratische Gesellschaft mit ihren vielfältigen Lebensformen als auch den demokratischen Rechtsstaat selbst. Denn um ein demokratisches Miteinander zu gestalten und den Rechtsstaat gegen autoritäre Vereinnahmungen zu verteidigen, ist es wichtig, Demokratie nicht auf das Prinzip der Mehrheit zu reduzieren. Ebenso wichtig ist es, ihren kontingenten Charakter anzuerkennen. Grundsätzlich bezeichnet „Demokratie“ staatliche Herrschafts- und Regierungsordnungen, in denen das Prinzip der Volkssouveränität durch die Grundrechte der Verfassung geschützt und begrenzt wird. In dieser formalen Bestimmung erschöpft sich jedoch nicht das, was das menschliche Zusammenleben zu einem demokratischen macht. Ein weites Verständnis von Demokratie fasst diese als Lebensform und Subjektivierungsweise auf und verweist darauf, dass gegenwärtige liberale Demokratien nicht frei sind von Gewaltverhältnissen – es also einer Demokratisierung der Demokratie bedarf. Ein solch prozessuales Verständnis versteht eine differente und plurale Natur als Wesensmerkmal politischer Gesellschaften und erkennt an, dass für die Realisierung demokratischer Verhältnisse die gesellschaftliche Anerkennung und die materiellen Bedingungen des (Über-)Lebens aller erkämpft werden müssen.

Queerfeministische Demokratietheorien gehen vom „Faktum der Pluralität“ aus, nämlich „der Tatsache, daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen“, und das bedeutet viele verschiedene Menschen, in einer Gesellschaft leben. Die Unterschiedlichkeit zwischen ihnen ist also eine Voraussetzung und Bedingung dafür, Demokratie zu gestalten und zu institutionalisieren. Im Unterschied zu autokratischen Systemen, die immer auf einer Homogenisierung und (in der Regel gewaltförmigen) Unterdrückung von Verschiedenheit basieren, kann nur eine plurale demokratische Gesellschaft mit ihrem Versprechen einer emanzipativen Gleichheit und Gleichberechtigung der Diversität der Menschen gerecht werden, die über ihre Geschicke selbst entscheiden. Umgekehrt stellt die Pluralität der Gesellschaft die institutionelle Ordnung des demokratischen Rechtsstaates vor die Herausforderung, die bestehenden strukturellen Ungleichheiten und Gewaltverhältnisse sowie plurale Lebensweisen innerhalb der Gesellschaft zu adressieren und nicht nur in die parlamentarischen und administrativen Strukturen, sondern auch in inklusive, plurale zivilgesellschaftliche Gestaltungsprozesse zu überführen. Die Forderungen nach Demokratisierung der Verhältnisse, nach Gleichheit und der Schaffung der Bedingungen für ein (Über-)Leben aller Menschen finden auch Ausdruck in Versammlungen, Demonstrationen und Protesten.

Aufgrund gesellschaftlicher Dynamiken ist die plurale Demokratie fortwährend von Ungewissheit und Unsicherheit geprägt. Zum einen sind dies Unsicherheit produzierende, gesellschaftlich gemachte Entwicklungen wie der Klimawandel, globale Finanzkrisen, Kriege oder Pandemien. Zum anderen liegen die Ungewissheit und Unsicherheit in den unweigerlichen, fortwährenden Veränderungen durch Demografie, Migration, Arbeitsmarktprozesse und im institutionellen Wechsel von Regierung und Parteiengefüge selbst. Ungewissheit und Unsicherheit sind also eine unausweichliche Facette des Umstands, dass unsere soziale und politische Welt auf keinen festen oder „letzten“ Gründen aufruht, sich also immer im Wandel befindet. Und nur deshalb, und dies ist die Pointe, ist sie demokratisch gestaltbar: Würde die Gesellschaft, wie es rechte Akteur*innen häufig fantasieren, die Hierarchien einer göttlichen oder natürlichen Ordnung widerspiegeln, wäre unsere Welt zwar erwartungssicher, aber kaum demokratisch gestaltbar. Dies gilt auch für die Geschlechterverhältnisse – sie sind gestaltbar und umkämpft.

Ein weiteres Kennzeichen plural verfasster Demokratien besteht darin, dass sie sowohl die Freiheit und Gleichheit aller gewährleisten als auch gesellschaftlich Marginalisierte schützen. Ein Beispiel: Das Prinzip der Meinungsfreiheit besagt, dass verschiedene, auch kontroverse, Meinungen geäußert werden können: Alle, unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem Bildungsstand, dürfen sagen, was sie denken, meinen und glauben. Dies ist ein Kerncharakteristikum der Demokratie, deren historische Errungenschaft genau darin liegt, ein allgemeines Recht auf Meinungsfreiheit gegen feudale, klassistische, rassistische, androzentrische, sexistische und queerfeindliche Strukturen erkämpft zu haben. Doch die Meinungsfreiheit findet ihre Grenze dort, wo die Grundrechte von Menschen verletzt, Ausgrenzung und Gewalt zum politischen Programm erhoben werden – wenn also das Streben nach Gleichheit bedroht wird.

Das antidiverse Geschlechterverständnis autoritärer Politiken stellt nicht nur die Grund- und Menschenrechte queerer Menschen infrage. Es behauptet auch die vermeintlich unumstößliche Natürlichkeit (oder auch Gottgegebenheit) einer binären Geschlechterordnung und entlarvt sich damit als nicht- beziehungsweise antidemokratisch: Mit der Diffamierung queerer Lebensformen als Gefahr für Familie und Gesellschaft verkehren rechte Akteur*innen das Gleichheitsversprechen des demokratischen Rechtsstaates in sein Gegenteil, indem sie wissenschaftlich widerlegte geschlechtliche und sexuelle Natürlichkeitsvorstellungen reaktivieren und zementieren. Sie wenden sich damit gegen die genuine Aufgabe demokratischer Gestaltung, Ungewissheit mit stets reflektier- und revidierbaren Politiken zu begegnen und somit der Kontingenz und Umkämpftheit gesellschaftlicher Verhältnisse gerecht zu werden. Das rechte Phantasma, eine fixierbare (Geschlechter-)Ordnung zu installieren, um Stabilität und Komplexitätsreduktion zu erreichen, verfängt und trägt zum Zuspruch zu rechten Parteien bei. Umgekehrt gilt auch: Wenn eine kritische Masse an Demokratiefeindlichkeit innerhalb einer Gesellschaft erreicht wird, besteht eine erhöhte Gefahr, dass antifeministische, queer-, trans- und homofeindliche Politik salonfähig wird sowie rassifizierte Geschlechterbilder reaktualisiert werden.

Kontingenz der Geschlechterverhältnisse anerkennen

Dass Antifeminismus und Queerfeindlichkeit aktuell so präsent sind, zeigt, wie sehr eine plurale, demokratische Gestaltung der Gesellschaft unter Druck steht. Mit Blick auf ein queerfeministisches Verständnis von Demokratie wird deutlich, dass eine plurale Demokratie nicht einfach ein beliebiges Nebeneinander von Positionen bedeuten kann, sondern dass sie sich als eine Arena begreifen muss, in der Differenzen und Ungleichheit sichtbar gemacht werden – als Teil gesellschaftlicher Aushandlung über eine bessere Zukunft für alle. Statt die Stillstellung von (unvermeidlichen) Konflikten durch eine Mehrheitspolitik anzustreben, muss die demokratische Gesellschaft sich ihrer Widersprüche und Anfeindungen stellen – dazu gehört auch, die Vorstellung von „Normalität“ zu problematisieren. Demokratie bedeutete dann nicht, Konflikte aufzulösen, sondern sie im besten Falle produktiv auszutragen. Aus einer queerfeministischen Perspektive lässt sich daher unserer Ansicht nach dafür plädieren, die Offenheit und Veränderlichkeit dieser Konflikte zu betonen und sie als Quelle für Solidarität und Allianzen zu nutzen. Es geht nicht darum, einen endgültigen Konsens zu erreichen, sondern darum, die vergeschlechtlichten Macht- und Ungleichheitsverhältnisse zu befragen. Ein queerfeministisches Verständnis von Demokratie betont dabei die Veränderbarkeit dieser Auseinandersetzungen und die Notwendigkeit, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in ihrer Wandelbarkeit und Erweiterung nicht nur als selbstverständlich zu nehmen. Auch sind nach wie vor bestehende Ungleichheiten, die eine emanzipative Gleichberechtigung und Selbstbestimmung verhindern, kritisch zu prüfen und für gleiche Rechte aller zu kämpfen. Die Aushandlungen über die Gestaltung der Gesellschaft füllen die „Leerstelle“ der Macht in Demokratien immer wieder aufs Neue und immer wieder anders. Demokratie ist nach dieser Auffassung keine ein für alle Mal fixierte statische Regierungs- und Herrschaftsform, sondern ein „bleibender Auftrag“.

Diesen Auftrag ernst zu nehmen bedeutet, Angriffe auf queeres Leben als Angriffe auf die demokratische Gestaltung der Gesellschaft zu verstehen. Rechte Akteur*innen erachten ausschließlich die Rechte und Lebensweisen einer bestimmten, völkisch definierten und männlich-heterosexuell konnotierten Gruppe als schützenswert. Sie leugnen die Wandelbarkeit der Geschlechterverhältnisse, die in einer fixierten, stillgestellten Form der Absicherung von Hierarchien und Ungleichheit dienen sollen: Die biologisierende Unterscheidung in zwei grundsätzlich verschiedene Geschlechter soll Ungleichheit – etwa in der Bezahlung, der Aufgabenverteilung, der sexuellen Lebensweisen und der gesellschaftlichen Teilhabe – „rechtfertigen“, um sie zu verfestigen. Die Aufgabe demokratischer Gesellschaften besteht jedoch darin, Geschlechterverhältnisse zu demokratisieren, das heißt, zum Gegenstand des Politischen zu machen und ihre Kontingenz anzuerkennen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Volker Woltersdorff, Queer Theory und Queer Politics, in: Utopie kreativ 10/2003, S. 914–923.

  2. Vgl. Michael Warner, Fear of a Queer Planet, in: Social Text 29/1991, S. 3–17.

  3. Gundula Ludwig, Demokratie und die Kolonialität der Gewalt. Konstitutive Verwobenheiten und aktuelle Verdichtungen, in: ZPTh – Zeitschrift für Politische Theorie 2/2021, S. 218–237, hier S. 234.

  4. Vgl. Patricia Graf/Silke Schneider/Gabriele Wilde, Geschlechterverhältnisse und die Macht des Autoritären, in: Femina Politica 1/2017, S. 70–87.

  5. Vgl. Oliver Decker et al., Vereint im Ressentiment. Leipziger Autoritarismus Studie 2024, Gießen 2024.

  6. Vgl. Fiona Kalkstein/Gert Pickel/Johanna Niendorf, Antifeminismus und Antisemitismus – eine autoritär motivierte Verbindung?, in: Decker et al. (Anm. 5), S. 161–180, hier S. 170. Eine „geschlossene“ Einstellung bedeutet, dass die Befragten mehrheitlich den im Fragebogen zu dem Themenfeld vorgegebenen Aussagen zustimmen und man daher eine konsolidierte Einstellung zu dem Thema annehmen kann.

  7. Vgl. ebd., S. 169.

  8. Vgl. Gerhard Göhler/Matthias Iser/Ina Kerner (Hrsg.), Politische Theorie. 25 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden 2011².

  9. Vgl. Christine M. Klapeer, Perverse Bürgerinnen. Staatsbürgerschaft und lesbische Existenz, Bielefeld 2014; Quaestio (Hrsg.), Sexuelle Politiken. Politische Rechte und gesellschaftliche Teilhabe, Berlin 2000.

  10. Birgit Sauer, Staat, Demokratie und Geschlecht – aktuelle Debatten, in: Gender-Politik-Online, August 2003, S. 1–22.

  11. Vgl. Ludwig (Anm. 3); Judith Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Frankfurt/M. 2016.

  12. Vgl. Graf/Schneider/Wilde (Anm. 4); Juliane Lang, Familie und Vaterland in der Krise. Der extrem rechte Diskurs um Gender, in: Sabine Hark/Paula-Irene Villa (Hrsg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld 2015, S. 167–182.

  13. Weiß schreiben wir klein und kursiv, um zu markieren, dass das Wort als „Analysekategorie für unterdrückende Machtverhältnisse“ genutzt wird. Siehe Natasha A. Kelly, Weil wir weitaus mehr als nur „Frauen“ sind!, in: dies. (Hrsg.), Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte, Münster 2019, S. 9–16, hier S. 16. Weißsein wirkt dabei als gesellschaftliche, unsichtbare Norm, die Privilegien (re-)produziert. Vgl. Denise Bergold-Caldwell, Schwarze Weiblich*keiten. Intersektionale Perspektiven auf Bildungs- und Subjektivierungsprozesse, Bielefeld 2020, S. 106ff.

  14. Vgl. Greta Jasser/Ann-Kathrin Rothermel, Die Manosphere. Männlichkeit(en), Misogynie und Rechtsextremismus, in: Fabian Virchow et al. (Hrsg.), Handbuch Rechtsextremismus, Wiesbaden 2024, S. 1–14, hier S. 7.

  15. Vgl. Michel Domal/Heike Mauer, Das Politisierungsparadox. Warum der Rechtspopulismus nicht gegen Entpolitisierung und Ungleichheit hilft, in: Femina Politica 1/2018, S. 22–24, hier S. 29.

  16. Vgl. Woltersdorff (Anm. 1), S. 922.

  17. Vgl. Ashley A. Mattheis, #TradCulture. Reproducing Whiteness and Neofascism Through Gendered Discourse Online, in: Shona Hunter/Christi van der Westhuizen (Hrsg.), Routledge Handbook of Critical Studies in Whiteness, London 2021, S. 91–102.

  18. Vgl. ebd., S. 98; Nadja Kutscher, Das Narrativ vom „großen Austausch“. Rassismus, Sexismus und Antifeminismus im neurechten Untergangsmythos, Bielefeld 2023.

  19. Vgl. Lang (Anm. 12), S. 174.

  20. Katrin Degen, Flexible Normalität. Über die fragile Zugehörigkeit von cis Frauen und LSBTI-Personen zur extremen Rechten, Bielefeld 2024, S. 274.

  21. Vgl. ebd., S. 284f.

  22. Vgl. Holger Oppenhäuser, Die nationalistische Sicht auf Demokratie, in: Fabian Virchow et al., Handbuch Rechtsextremismus, Wiesbaden 2023.

  23. Vgl. Kalkstein/Pickel/Niendorf (Anm. 6), S. 162.

  24. Unter Rechtsstaat verstehen wir hier nicht eine ordnungspolitische, strafende Instanz, sondern ein Instrument zur Einhegung staatlicher Macht, das gerade durch autoritäre Politiken – auch aus der sogenannten „Mitte“ der Gesellschaft – gefährdet wird. Vgl. Maximilian Pichl, Law statt Order. Der Kampf um den Rechtsstaat, Berlin 2023.

  25. Vgl. Ludwig (Anm. 3).

  26. Vgl. Graf/Schneider/Wilde (Anm. 4).

  27. Vgl. Inga Nüthen, Geschlecht, Sexualität und Politik. Aspekte queer_feministischer Politikverständnisse, Opladen 2024.

  28. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2020, S. 24.

  29. Vgl. Ludwig (Anm. 3).

  30. Vgl. Butler (Anm. 11).

  31. Vgl. Oliver Flügel-Martinsen/Franziska Martinsen, Radikaldemokratische Freiheit und das Abenteuer demokratischer Politik, in: Martin Nonhoff et al. (Hrsg.), Gesellschaft und Politik verstehen, Frankfurt/M. 2022, S. 65–79, hier S. 67.

  32. Vgl. Johanna Leinius/Marie Reusch, Unter Beschuss von rechts. Angriffe auf die Geschlechterforschung zielen auf die Demokratie, 4.3.2025, Externer Link: http://www.gew-hessen.de/hlz-artikel-2025/details/unter-beschuss-von-rechts.

  33. Vgl. Anne Fausto-Sterling, Sexing the Body. Gender Politics and the Construction of Sexuality, New York 2000.

  34. Vgl. Kalkstein/Pickel/Niendorf (Anm. 6).

  35. Vgl. Sandra Ho, Gefahr Antifeminismus. Ein Kampf für die Demokratie, 30.3.2023, Externer Link: http://www.gwi-boell.de/de/2023/03/30/gefahr-antifeminismus-ein-kampf-fuer-die-demokratie.

  36. Vgl. Claude Lefort, Die Frage der Demokratie, in: Ulrich Rödel (Hrsg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt/M. 1990, S. 281–297, hier S. 293.

  37. David Salomon, Demokratie, Köln 2012, S. 123; vgl. Franziska Martinsen, Kernbegriffe und theoretische Grundlagen der Demokratie, in: Andreas Kost/Peter Massing/Marion Reiser (Hrsg.), Handbuch Demokratie, Frankfurt/M. 2020, S. 41–57, hier S. 57.

  38. Vgl. Christine M. Klapeer et al., Politiken der Geschlechterverhältnisse – Geschlechterverhältnisse politisieren!, in: dies. (Hrsg.), Politik und Geschlecht. Perspektiven der politikwissenschaftlichen Geschlechterforschung, Opladen 2024, S. 9–26.

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ist wissenschaftliche Geschäftsführerin des Cornelia Goethe Centrums für Geschlechterforschung an der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem in der postkolonialen und feministischen Theorie sowie Geschlechterverhältnissen in der sozialökologischen Transformation.

ist Professorin für Politische Theorie am Institut für Politikwissenschaft und Vorstandsvorsitzende des fakultätsübergreifenden Centre for Global Cooperation Research an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Politischen Theorie und Ideengeschichte unter Berücksichtigung feministischer, intersektionaler Perspektiven.

ist akademische Rät*in und leitet das Fachgebiet Internationale Geschlechterpolitik und Qualitative Methoden der Politikwissenschaft an der Universität Kassel. Zu Inga Nüthens Forschungsschwerpunkten gehören queerfeministische politische Theorien und politikwissenschaftliche LGBTQ*-Forschung.