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Zwischen Dschihadismus und Pragmatismus | bpb.de

Zwischen Dschihadismus und Pragmatismus Eine kurze Geschichte der Hai‘at Tahrir asch-Scham

Guido Steinberg

/ 16 Minuten zu lesen

Am 8. Dezember 2024 eroberte ein islamistisches Bündnis unter Führung des Syrischen Befreiungskomitees Damaskus und stürzte das Regime von Baschar al-Assad. Wie kam es dazu und wer steckt hinter der Rebellengruppe, die nun die Kontrolle über das Land übernommen hat?

Am 8. Dezember 2024 nahm ein Bündnis islamistischer Gruppierungen unter der Führung des Befreiungskomitees Syriens (Hai‘at Tahrir asch-Scham, kurz HTS) die syrische Hauptstadt Damaskus ein und stürzte das Regime des Präsidenten Baschar al-Assad. Damit endete ein Bürgerkrieg, in dem sich sunnitische Rebellen und eine vorwiegend von Alawiten getragene Regierung vierzehn Jahre lang gegenseitig bekämpft hatten. Ab 2017 kontrollierte die HTS die Provinz Idlib und einige angrenzende Gebiete und schickte sich Ende 2024 an, zumindest die zu diesem Zeitpunkt noch in der Hand des Regimes befindlichen Teile Syriens unter ihre Kontrolle zu bringen.

Dies ist ein Blick in die Geschichte einer immer noch jungen Organisation, die seit 2011 teils dramatische Wandlungen durchgemacht hat. Unter dem Namen „Nusra-Front“ (Jabhat an-Nusra) wurde sie Ende 2011 als syrischer Ableger des Islamischen Staates im Irak (ISI) gegründet. 2013 sagte sie sich vom ISI los und wandelte sich zur Filiale von al-Qaida in Syrien. In den Jahren 2016 und 2017 löste sie sich ganz von ihren dschihadistischen Wurzeln, vertrat fortan einen gemäßigteren militanten Islamismus und verbündete sich mit der Türkei, was den Sieg von 2024 ermöglichte.

Syrischer ISI-Ableger

Als in Syrien die zunächst friedlichen Proteste im Juni 2011 in einen bewaffneten Aufstand mündeten, war ISI stark geschwächt. Er hatte nur noch rund 700 Mann unter Waffen, die vor allem in der irakischen Millionenstadt Mossul im Norden des Landes operierten. Seine Führung sah die im Nachbarland beginnenden Kämpfe als Gelegenheit, das eigene Operationsgebiet auszuweiten und neues Personal zu rekrutieren. Zu diesem Zweck schickte die ISI-Führung eine Delegation mit dem Auftrag nach Syrien, dort einen Ableger aufzubauen. Angeführt wurde die Gruppe vom Syrer Abu Muhammad al-Dscholani (ursprünglich Ahmed al-Scharaa), der sich 2004 den Kämpfern im Irak angeschlossen hatte und zu einem hochrangigen Kommandeur des ISI aufgestiegen war.

Zur Jahreswende 2011/12 machte die Gruppe mit ersten Autobombenanschlägen in Aleppo und Damaskus auf sich aufmerksam und gab am 23. Januar 2012 in einem Video ihre Gründung bekannt. Ihr voller Name lautete „Unterstützungsfront für die Menschen Syriens durch die Dschihadkämpfer Syriens auf den Schauplätzen des Dschihad“ (Jabhat an-Nusra li-ahl asch-Scham min mujahidi asch-Scham fi sahat al-jihad). Dschihadistische Gruppierungen aus dem Umfeld von al-Qaida nutzten ab 2011 häufig Namensbestandteile wie Unterstützung (nusra) oder Unterstützer (ansar). Gleichzeitig erinnerte der Modus Operandi der neuen Organisation vor allem an den ISI, der im Irak seit 2003 immer wieder aufsehenerregende Anschläge mit Autobomben verübt hatte und diese Taktik ab 2012 wieder verstärkt einsetzte.

Ohne dass über Herkunft und Verbindungen der Nusra Klarheit herrschte, wuchs die neue Organisation im Laufe des Jahres 2012 von einigen Dutzend auf mehrere hundert und schließlich mehrere tausend Mann an. Ihre besondere Bedeutung lag jedoch weniger in ihrer zahlenmäßigen Stärke als vielmehr darin, dass sie den syrischen Rebellen die Feuerkraft verschaffte, die ihnen sonst fehlte. Nur die Nusra-Front verfügte über langjährige Erfahrung im Bau von Autobomben, und nur sie stellte Selbstmordattentäter. Da Nusra bereitwillig mit vielen anderen syrischen Rebellengruppen zusammen kämpfte, gelang es diesen immer häufiger, die gut gesicherten Zugänge zu Militärbasen zu sprengen und die Stützpunkte anschließend einzunehmen. Besonders stark war Nusra in den Provinzen Deir ez-Zor und Idlib.

Die Nusra-Front entwickelte sich so zu einer Art Spezialtruppe der syrischen Aufstandsbewegung, die sich selbst als Avantgarde und nicht als Massenbewegung verstand. Sie legte hohe Standards an die eigenen Rekruten an, die Arabisch sprechen und eine Empfehlung aus den Reihen der Nusra vorweisen mussten, bevor sie sich anschließen konnten. Diese Regeln begrenzten das Wachstum der Organisation, als ab Sommer 2012 die ersten ausländischen Kämpfer Syrien erreichten. Unter anderem weil die Nusra viele von ihnen nicht aufnahm, bildeten sie kleinere, oft ethnisch oder national homogene Gruppen von Kaukasiern, Saudi-Arabern und Nordafrikanern, die zwar das dschihadistische Weltbild der Nusra teilten und gemeinsam mit der Organisation kämpften, aber eigenständig blieben.

Schisma der Dschihadisten

Bis zum Frühjahr 2013 blieb die Bindung der Nusra-Front an den ISI ein gut gehütetes Geheimnis. Vermutlich sollte die syrische Bevölkerung so spät wie möglich erfahren, dass eine irakische und damit ausländische Organisation am Aufstand gegen das Assad-Regime beteiligt war. Intern kam es im Laufe des Jahres 2012 jedoch zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Nusra und ISI. Die Ursache dürften unterschiedliche strategische Vorstellungen gewesen sein. Die Nusra-Front orientierte sich an den Ideen von al-Qaida, deren Anführer Aiman az-Zawahiri seine Anhänger dazu aufrief, eng mit nicht-dschihadistischen Aufständischen zusammenzuarbeiten, exzessive Gewalt zu vermeiden und die Unterstützung der breiten Bevölkerung zu gewinnen. Der ISI hingegen blieb seiner aus dem Irak seit 2003 bekannten Vorgehensweise treu, indem er Gruppierungen, die sich ihm nicht unterordneten, bekämpfte, auf brutale Gewalt gegen alle seine Gegner setzte und die Bevölkerung terrorisierte, um ihre Gefolgschaft zu erzwingen.

Zwar schickte ISI-Chef Abu Bakr al-Baghdadi besonders loyale Kommandeure nach Syrien, um Dscholani und Nusra wieder unter Kontrolle zu bringen, doch die Organisation operierte immer eigenständiger. Daraufhin erklärte Baghdadi in einer öffentlichen Audiobotschaft vom 8. April 2013, dass die Nusra ein Teil des ISI sei, beide Organisationen aber nun aufgelöst und gemeinsam in dem neu gegründeten Islamischen Staat im Irak und in Syrien (ISIS) aufgehen würden. Nur zwei Tage später antwortete Dscholani mit der Weigerung, dem Befehl aus dem Irak zu folgen. Stattdessen argumentierte er, dass ISI und Nusra immer noch durch einen älteren Gefolgschaftseid an al-Qaida gebunden seien (zwischen 2004 und 2006 hieß der ISI „al-Qaida in Mesopotamien“) und kündigte an, die Entscheidung über die Zukunft der beiden Organisationen Aiman az-Zawahiri zu überlassen.

Als Zawahiri nicht sofort antwortete, wandten sich viele Kämpfer von Nusra ab und ISIS zu. Dies galt insbesondere für die Ausländer, von denen sich rund 80 Prozent für die irakische Organisation entschieden. Es rächte sich nun, dass die Nusra-Front die kleineren ausländischen Gruppierungen nicht enger an sich gebunden hatte. Plötzlich operierten in Syrien zwei konkurrierende dschihadistische Organisationen mit gemeinsamer Geschichte und unterschiedlicher strategischer Ausrichtung. Als sich Zawahiri Ende Mai 2013 doch noch zu Wort meldete und entschied, dass alles so zu bleiben habe wie bisher und beide Organisationen unter seinem Oberbefehl zu kämpfen hatten, war es für eine Einigung bereits zu spät.

Mit dem Konflikt zwischen Nusra und ISIS begann das große Schisma der dschihadistischen Bewegung, das ihre Geschichte seither prägt und in einen lang anhaltenden Konflikt zwischen al-Qaida und dem seit 2014 als IS bezeichneten Islamischen Staat mündete. In Syrien versuchten sich die Kontrahenten 2013 zwar noch einige Monate in einer mehr oder weniger friedlichen Koexistenz. Anfang August 2013 beteiligten sie sich sogar gemeinsam an einer Offensive im Küstengebirge, bei der sie mehrere alawitische Dörfer zerstörten und hunderte Zivilisten ermordeten und verschleppten. Doch die Interessenunterschiede erwiesen sich als zu groß. Im Januar 2014 kam es zu Kämpfen im Norden und Osten Syriens, in deren Verlauf die Nusra-Front ihre Hochburgen in der Provinz Deir ez-Zor an den IS abtreten musste und fortan vor allem im Nordwesten Syriens operierte. Die Organisation schien zunächst stark geschwächt, da sie Tausende Kämpfer und die Kontrolle über die Ölfelder von Deir ez-Zor verloren hatte. Doch Nusra hatte die Unterstützung von al-Qaida, als deren Ableger in Syrien sie nun auftrat. Ab 2013 schickte die Mutterorganisation Geld und Kämpfer aus Pakistan, Afghanistan und Iran nach Syrien, die sich dort der Nusra-Front anschlossen.

Wiedererstarken

Obwohl die Nusra-Front in mehreren Landesteilen kämpfte, entwickelte sich die Provinz Idlib ab Sommer 2014 zur wichtigsten Hochburg der Organisation. Trotz aller Verluste zeigte sie sich regenerationsfähig und startete im Oktober und November 2014 sogar eine Offensive, in deren Verlauf sie zwei wichtige Gruppierungen der Freien Syrischen Armee (FSA) in der Provinz Idlib so zerschlug, dass diese fortan keine Rolle mehr spielten. Auslöser für die Attacke waren vermutlich US-amerikanische Luftangriffe im September 2014, die sich gegen die Nusra richteten. Wahrscheinlich befürchtete die Organisation, dass die FSA-Einheiten von den USA unterstützt und beauftragt werden könnten, gegen die Dschihadisten vorzugehen.

Wie stark die Nusra-Front weiterhin war, zeigte sich aber vor allem im Frühjahr 2015, als sie einen Großangriff auf das Regime startete. Im März 2015 schlossen sich islamistische Gruppen unter Führung der Nusra-Front und der Ahrar asch-Scham (Freie Männer Syriens) zur Armee der Eroberung (Jaish al-Fath) zusammen und nahmen in der Folge fast die gesamte Provinz Idlib mit der gleichnamigen Hauptstadt ein. Zunächst schien es sich um einen Pyrrhussieg zu handeln, denn die Verluste des Regimes und die Gefahr eines weiteren Vormarschs der Islamisten provozierten die russisch-iranische Intervention vom Sommer 2015. Dem Bündnis dieser Mächte mit dem Assad-Regime hatten die Rebellen nur wenig entgegenzusetzen. In den folgenden Monaten gerieten sie an verschiedenen Fronten unter Druck und verloren im Dezember 2016 sogar den Ostteil der Millionenstadt Aleppo, deren Eroberung Mitte 2012 ihr vielleicht größter Erfolg überhaupt gewesen war.

Dass die Nusra-Front sich trotzdem weiter behaupten konnte, lag vor allem daran, dass sie ihre Kontrolle über Idlib zwischen 2014 und 2016 ausbaute. Offenbar hatte sie ihre Niederlage in Deir ez-Zor zum Anlass für ein Umdenken genommen, bei dem das Vorgehen des IS ihr als Vorbild diente. Wie diese einstige Mutterorganisation bemühte sie sich ab Sommer 2014 darum, eine von ihr kontrollierte territoriale Basis zu schaffen. Im Juli 2014 richtete die Nusra in Idlib eine eigene Justiz und Verwaltungsbehörden ein. Zwar hatten sich auch 2012 und 2013 schon Institutionen gebildet, die Verwaltungsaufgaben übernahmen, doch waren diese „Schariakomitees“ (al-Hai’at ash-Shar’iya) in Aleppo und anderen Orten gemeinsame Projekte von Nusra und verbündeten Islamistengruppen. Jetzt schuf die Nusra die Grundlagen für eine alleinige Kontrolle über die Region.

Ab 2016 verstärkte die Nusra-Front auch ihre Bemühungen um einen Zusammenschluss mit anderen Rebellen. Ihr wichtigster Partner waren seit 2013 Ahrar asch-Scham, in deren Reihen ein breites Bündnis von Muslimbrüdern, Salafisten und Dschihadisten vertreten war und die zu den stärksten aufständischen Gruppen gehörten. Trotzdem scheiterten Gespräche über einen Zusammenschluss der beiden Organisationen Anfang 2016, weil die Ahrar asch-Scham Vorbehalte gegenüber der Zugehörigkeit der Nusra zum al-Qaida-Netzwerk geltend machten. Angesichts der militärischen Erfolge des Regimes und seiner Verbündeten reagierte die Nusra-Front, indem sie sich im Juli 2016 in Jabhat Fath asch-Scham (Eroberungsfront Syriens) umbenannte und sich erstmals von al-Qaida distanzierte. Doch auch nach diesem Schritt lehnten die Ahrar asch-Scham einen Zusammenschluss ab. Damals wurde vermutet, dass die Türkei als wichtigster Unterstützer der Ahrar asch-Scham den Zusammenschluss verhinderte. Die Rebellen waren so uneinig, dass sie ihren Gegnern nicht gewachsen waren und Aleppo und in der Folge weitere Gebiete im ganzen Land verloren.

Aufstieg von HTS

Trotz der Schwierigkeiten im Verhältnis zu Ahrar asch-Scham setzte die Nusra-Front ihre Bemühungen um die Schaffung eines möglichst großen Rebellenbündnisses fort – wenn nötig auch gegen den einstigen Verbündeten. Dies wurde umso dringlicher, als die Rebellen nach der Niederlage in Aleppo im Dezember 2016 einen Folgeangriff auf Idlib befürchteten. So entstand im Januar 2017 aus der Nusra-Front zusammen mit kleineren Gruppen und etwa 2000 Kämpfern von Ahrar asch-Scham sowie einigen Führungspersönlichkeiten die HTS. In den folgenden Monaten ging HTS zunehmend aggressiv gegen die restlichen Kämpfer von Ahrar asch-Scham vor und setzte sich in einzelnen bewaffneten Auseinandersetzungen meist durch. HTS übernahm schließlich die Kontrolle über die Stadt Idlib und den wichtigen Grenzübergang Bab al-Hawa, während Ahrar asch-Scham an Bedeutung verlor.

HTS nutzte die Schwäche seiner Konkurrenten und baute seine Kontrolle über die Provinz aus. Im November 2017 gründete sie mit der Syrischen Rettungsregierung (Hukumat al-Inqadh as-Suriya) eine zivile Behörde, die seitdem die Verwaltung von Idlib übernahm. Diese war ein Instrument der HTS und wies die von der syrischen Exilopposition in der Türkei geführte syrische Übergangsregierung (al-Hukuma as-Suriya al-Mu’aqqatta) an, alle Aktivitäten in der Provinz einzustellen. Zwar hatten HTS und Rettungsregierung nicht die Kontrolle über das gesamte Rebellengebiet – viele Ortschaften und kleinere Gebiete wurden von unabhängigen Gruppen beherrscht –, doch nach Ende 2017 schaffte es keine andere Organisation mehr, in Konkurrenz zur HTS zu treten.

Im Laufe des Jahres 2017 zeigte sich immer deutlicher, dass HTS es mit der schon 2016 begonnenen Distanzierung von al-Qaida ernst war. Im November ließ HTS den Jordanier Sami al-Uraidi verhaften. Dieser war jahrelang die inoffizielle Nummer zwei der Nusra-Front und ihr führender Religionsgelehrter gewesen und galt als der mit Abstand bekannteste al-Qaida-Loyalist innerhalb der Organisation. Auch andere al-Qaida-Anhänger wurden verhaftet. Zum endgültigen Bruch mit der ehemaligen Mutterorganisation kam es im Februar 2018, als die dschihadistischen Kritiker der HTS in Idlib eine neue Gruppierung gründeten, die sie Tanzim Hurras ad-Din (Organisation Wächter der Religion) nannten. Sie wurde zum Sammelbecken von al-Qaida-Loyalisten, die den Bruch der HTS mit al-Qaida ablehnten und eine radikalere dschihadistische Vorgehensweise forderten – weshalb sie von US-Quellen auch als al-Qaida-Syrien bezeichnet wird. Allerdings kam es noch nicht zu einem offenen Konflikt, da die HTS noch zu schwach und auf die Kämpfer von Hurras ad-Din angewiesen war, um die Region gegen die Regimetruppen und ihre ausländischen Verbündeten zu verteidigen. 2018 und 2019 schien es mehrfach so, als stünde eine Offensive des Regimes gegen Idlib kurz bevor.

Schutzmacht Türkei

Der Protest der al-Qaida-Loyalisten galt auch dem sich seit Oktober 2017 abzeichnenden Bündnis der HTS mit der Türkei. Die Türkei war schon seit 2012 der wichtigste Unterstützer der Rebellen im Kampf gegen das Assad-Regime und besetzte ab Sommer 2016 erstmals Territorien in Nordsyrien, um zu verhindern, dass die syrischen Kurden ihre Kontrolle dort ausweiteten. Eine Folge war, dass die Türkei zu einem begehrten Verhandlungspartner wurde und schon 2016 Gespräche mit Russland und Iran führte, die in die Konferenz von Astana mündeten. Dort wurde im Mai 2017 verabredet, dass in Idlib eine von vier Deeskalationszonen entstehen würde, in denen Waffenstillstände herrschen sollten – wobei der in Idlib von türkischen und russischen Soldaten überwacht werden würde. Ab Oktober 2017 rückten türkische Truppen nach Idlib ein, wo sie rund um das Rebellengebiet nahe der Frontlinien Beobachtungsposten einrichteten.

Für die HTS als dschihadistische Organisation war die Türkei im Prinzip ein Teil des feindlichen Westens. Es gelang Ankara jedoch, das Misstrauen der HTS-Führung zu überwinden, sodass die türkischen Truppen im Oktober mit der Zustimmung Dscholanis einrücken konnten. Für dschihadistische Puristen war die Stationierung „ungläubiger“ türkischer Truppen ein Tabubruch, doch die HTS verdankte dieser Präsenz in den folgenden Jahren die Rettung vor dem Regime und seinen Unterstützern. Dies wurde schon im Sommer 2018 deutlich, als eine Großoffensive des Regimes kurz bevorzustehen schien. In den übrigen drei Deeskalationszonen weiter im Süden Syriens hatten die Waffenstillstände nicht gehalten; die Gebiete fielen bis Juli in die Hände der Regierung. Aus Sicht des Assad-Regimes stand als Nächstes die Einnahme von Idlib an, und nur erneute türkisch-russische Verhandlungen verhinderten den Waffengang. Im September schlossen die beiden Mächte das Abkommen von Sotschi, demzufolge am Rande von Idlib eine 15 bis 20 Kilometer breite Zone entmilitarisiert und durch gemeinsame türkisch-russische Patrouillen überwacht werden sollte. Wieder war es für die HTS schwierig, der Übereinkunft zuzustimmen, doch beugte sie sich erneut dem Druck Ankaras.

Zwar konnte die wachsende türkische Präsenz nicht verhindern, dass syrisches und russisches Militär im Dezember 2019 eine größer angelegte Offensive begannen. Die Lage schien so dramatisch, dass zum Jahreswechsel 2019/2020 rund eine Million Bewohner der Rebellengebiete ihre Heimat verließen und in Richtung türkische Grenze flohen. Doch stockte die Türkei kurz darauf ihre Truppen in Idlib auf 12000 Mann auf. Fast wäre es zu einer größeren Konfrontation gekommen, als die syrische und die russische Luftwaffe einen türkischen Armeekonvoi angriffen und 53 Soldaten töteten. Daraufhin begann das türkische Militär eine kurze aber intensive Gegenoffensive, bei der es der syrischen Armee hohe Verluste zufügte. Um eine Eskalation zu vermeiden, verabredeten Moskau und Ankara wieder einen Waffenstillstand und gemeinsame Patrouillen im Rebellengebiet. Ab diesem Zeitpunkt kam es bis Dezember 2024 in und um Idlib nicht mehr zu größeren Kämpfen.

Herrscherin in Idlib

Seit März 2020 war das Gebiet der HTS in Idlib vor allem ein türkisches Protektorat. Mit türkischer Hilfe konnte die HTS dort dem Druck des Regimes standhalten und ihre Kontrolle über das Rebellengebiet ausweiten. Zunächst entledigte sie sich ihrer dschihadistischen Kritiker, die immer wieder gegen den Pragmatismus Dscholanis und seiner Gefolgsleute protestierten. Zum HTS-Hauptgegner wurde der al-Qaida-Ableger Hurras ad-Din, der entgegen dem zwischen Ankara und Moskau ausgehandelten und von der HTS akzeptierten Waffenstillstand wiederholt Regimegebiete und türkische Truppen angriff. In einer unverhohlenen Kampfansage an HTS bildete sich im Juni 2020 außerdem ein von Hurras ad-Din beherrschtes Bündnis, das sich „Kommandozentrale, So haltet stand“ (Ghurfat ’Amaliyat Fa-thbitu) nannte. HTS reagierte prompt mit der gezielten Einrichtung von Checkpoints rund um die wichtigsten Stützpunkte von Hurras ad-Din und der Verhaftung von Kommandeuren und Kämpfern. In der Folge war die Organisation selbst in ihren ehemaligen Hochburgen kaum noch sichtbar.

Darüber hinaus waren weitere Rebellengruppen in Idlib präsent. Die wichtigste war ein Bündnis, das im Mai 2018 unter dem Namen Nationale Befreiungsfront (al-Jabha al-Wataniya li-t-Tahrir, meist abgekürzt als NLF) gegründet wurde und sich aus Ahrar asch-Scham, Failaq asch-Scham (Syrien-Korps), der Nur-ad-Din-Zinki-Bewegung (die zwischen Januar und Juli 2017 Teil der HTS war) und anderen ehemaligen FSA-Gruppierungen zusammensetzte. Im Oktober 2019 schlossen sich weitere Gruppen diesem Bündnis an, das sich nun Syrische Nationalarmee (al-Jaish al-Watani as-Suri, SNA) nannte und mit mehreren zehntausend Mann als Hilfstruppe der türkischen Armee in Syrien operierte. Da SNA und HTS eng mit der Türkei verbunden waren, kam es zu keinen Konflikten mehr.

Obwohl die HTS ihre Macht in Idlib ab 2017 kontinuierlich ausbaute und Verwaltung, Justiz und öffentliches Leben kontrollierte, hielt sie sich mit der Durchsetzung ihrer ursprünglich salafistischen Verhaltens- und Bekleidungsvorschriften zurück. Zwar bestand sie auf einer weitgehenden Trennung von Männern und Frauen sowie Jungen und Mädchen in Schulen und Hochschulen. Frauen mussten jedoch keinen Gesichtsschleier tragen und durften am öffentlichen Leben teilnehmen. Sie durften auch arbeiten, aber die Segregation hinderte sie daran, Berufe auszuüben, in denen sie mit Männern in Kontakt kamen. In der Vergangenheit versuchte HTS einmal, das Rauchen zu verbieten, aber es blieb zumindest de facto erlaubt. Diese öffentliche Mäßigung dürfte vor allem dem Pragmatismus Dscholanis geschuldet sein, der mehr internationale Hilfe für Idlib einwerben und daher den Eindruck vermeiden wollte, die HTS errichte eine islamistische Schreckensherrschaft.

Die HTS geriet vielmehr in die Kritik, weil sie Idlib autoritär beherrschte und ihre mächtige Geheimpolizei – die Direktion der Öffentlichen Sicherheit (Idarat al-Amn al-’Amm) – ausbaute, die Dissidenten und Oppositionelle aller Art verfolgte, willkürlich verhaftete, folterte und misshandelte. Anführer war mit Anas Khattab ein alter Kampfgefährte Dscholanis aus gemeinsamen ISI-Zeiten. Im März 2024 kam es sogar zu Protesten in Idlib, bei denen die Demonstranten – letztlich erfolglos – unter anderem den Sturz der HTS-Führung einschließlich Abu Muhammad al-Dscholanis, die Freilassung der Gefangenen aus dem Gewahrsam der Geheimpolizei und die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für die Folter in den Geheimpolizeigefängnissen forderten.

Sieg in Damaskus

Zwischen 2020 und 2024 baute die HTS ihre militärischen Fähigkeiten stetig aus. Sie soll Ende 2024 etwa 25000 bis 30000 Mann unter Waffen gehabt haben, und sie setzte sogar einfache Kampfdrohnen ein. Ende November begann sie gemeinsam mit verbündeten Gruppierungen eine Offensive gegen Aleppo. Dabei lösten sich die Regimetruppen auf, ohne nennenswerten Widerstand zu leisten. Innerhalb von elf Tagen eroberten die Verbündeten unter der Führung von HTS weite Teile des syrischen Westens und marschierten anschließend in Damaskus ein. Baschar al-Assad und die Führungsriege seines Regimes flohen.

Die Rebellen hatten nur einen Vorstoß auf Aleppo geplant und nicht damit gerechnet, dass die Armee des Regimes zusammenbrechen würde. Ein wichtiger Grund dafür war, dass die Verbündeten Assads dem Diktator nicht zu Hilfe kamen. Russland konzentrierte sich auf den Krieg in der Ukraine und hatte nur noch wenige Truppen im Land. Iran und Hisbollah waren durch die stetigen israelischen Luftangriffe 2024 stark geschwächt und handlungsunfähig. Hinzu kam, dass die syrische Armee trotz nomineller Überlegenheit nicht mehr bereit war, für Assad in den Kampf zu ziehen. Überraschend war vor allem, dass auch die mehrheitlich alawitischen Elitetruppen des Regimes keinen Widerstand leisteten.

In den folgenden Monaten versuchte die HTS, ihre Kontrolle über die ehemals vom Regime gehaltenen Teile Syriens zu festigen. Abu Muhammad al-Dscholani wurde unter seinem bürgerlichen Namen Ahmed al-Scharaa Übergangspräsident, Vertreter der HTS übernahmen die wichtigsten Ministerien. Die Organisation bemühte sich, nach außen weiterhin ein gemäßigtes Bild abzugeben, ohne gleichzeitig die Unterstützung der eigenen Basis zu verlieren, die vielfach noch aus Dschihadisten bestand. Im März 2025 kam es zu einer schweren Krise, als mit der HTS verbündete Milizen in der Küstenregion mehr als 1400 Alawiten ermordeten, die meisten von ihnen Zivilisten. Es war unklar, inwieweit die HTS und ihre Geheimpolizei ebenfalls beteiligt waren. Die Ereignisse zeigen, dass Syrien noch weit von einer Stabilisierung entfernt ist.

ist promovierter Islamwissenschaftler und Experte für islamistischen Terrorismus bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.