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Der Syrienkonflikt und das Völkerstrafrecht | bpb.de

Der Syrienkonflikt und das Völkerstrafrecht

Patrick Kroker

/ 16 Minuten zu lesen

Seit 2011 haben im syrischen Bürgerkrieg fast alle Konfliktparteien schwere Verbrechen verübt. Die juristische Aufarbeitung dieser Taten – im Tatortstaat und im Ausland – bleibt schwierig und eine dauerhafte Herausforderung, zumal ungewiss ist, ob das Ende der Gewalt erreicht ist.

Seit Beginn des Aufstands in Syrien im März 2011 und dem daraus resultierenden Bürgerkrieg, der bis zum 8. Dezember 2024 andauerte, wurden der Konflikt und die darin begangenen Verbrechen in den Kategorien des Völkerstrafrechts verhandelt. Bereits am 27. April 2011 veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch einen Bericht, in dem sie die brutale Zerschlagung friedlicher Proteste durch Folter, Tötungen und andere Misshandlungen durch syrische Sicherheitskräfte als völkerrechtliches Verbrechen der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ qualifizierte.

Am 23. August 2011 setzte der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eine Untersuchungskommission ein, um Menschenrechtsverletzungen in Syrien zu dokumentieren. Diese stellte schon in ihrem ersten Bericht im Oktober 2011 fest, dass in Syrien Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden. Seitdem wurden in großer Regelmäßigkeit Berichte von NGOs und internationalen Organisationen mit demselben Tenor veröffentlicht. Diese fokussierten sich auf bestimmte Aspekte der massiven Verbrechen, die nicht nur von Angehörigen des Assad-Regimes, sondern im Laufe des Konflikts von fast allen beteiligten Gruppierungen begangen wurden. Dazu zählen die al-Nusra-Front, der sogenannte Islamische Staat (IS), mit der Türkei verbündete Milizen und schließlich die HTS (Hai‘at Tahrir asch-Scham), die Syrien von der Herrschaft Baschar al-Assads befreien sollte.

Mit der Intensivierung der Kämpfe im Laufe des Jahres 2012 und deren Ausweitung über die drei ursprünglichen Brennpunkte Idlib, Homs und Hama hinaus wurde schließlich auch die völkerrechtliche Schwelle zum „nicht internationalen bewaffneten Konflikt“ überschritten. Damit fand das humanitäre Völkerrecht, insbesondere der gemeinsame Artikel 3 der Genfer Konventionen, auf den Konflikt Anwendung. Seitdem können Verstöße gegen das sogenannte Kriegsvölkerrecht (ius in bello) auch als Kriegsverbrechen geahndet werden.

Die Beschreibung der Gewalt in Syrien anhand der Kategorien des Völkerstrafrechts führte gleichzeitig dazu, dass damit die Hoffnung verbunden wurde, die massenhaft begangenen Verbrechen zumindest teilweise tatsächlich ahnden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen zu können. Syrische und internationale NGOs dokumentierten nicht zuletzt mit diesem Ziel seit Beginn des Konflikts die unterschiedlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, die in Syrien begangen wurden.

Anfänglich richteten sich die Hoffnungen auf den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Die Staatengemeinschaft schuf ihn 2001 in Rom mit dem Ziel, das universell geltende Verbot der Begehung dieser Straftaten mit den Mitteln des Strafrechts durchzusetzen. Allerdings kann der Internationale Strafgerichtshof nur handeln, wenn die Taten auf dem Gebiet eines Vertragsstaats oder durch Angehörige eines solchen begangen werden. Die Arabische Republik Syrien ist dem sogenannten Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs jedoch nie beigetreten. In diesem Fall kann dessen Zuständigkeit laut Statut nur durch den UN-Sicherheitsrat begründet werden. Jahrelang wurde versucht, auf diplomatischem Wege eine solche „Überweisung“ der Causa Syrien an den Internationalen Strafgerichtshof zu erreichen. Letztlich scheiterten diese Bemühungen im Mai 2014 endgültig an einem Veto Russlands und Chinas. Beide Staaten stehen dem Völkerstrafrecht und dem Internationalen Strafgerichtshof allgemein kritisch gegenüber und sind keine Mitgliedstaaten. Sie hatten kein Interesse daran, dass die vor allem durch die damalige syrische Regierung ausgeübte Gewalt vor einem internationalen Gericht geahndet würde.

Das System der internationalen Strafrechtspflege kennt allerdings ein weiteres Instrument, das spätestens mit der Verhaftung des ehemaligen chilenischen Diktators Augusto Pinochet in London 1998 aufgrund eines spanischen Haftbefehls größere Bekanntheit erlangte: das Prinzip der universal jurisdiction, auf Deutsch meist mit „Weltrechtsprinzip“ übersetzt.

Da das Verbot der Begehung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen im Völkerrecht allgemeine Geltung hat, muss auch die strafbewehrte Durchsetzung dieses Prinzips grundsätzlich überall möglich sein. Auch das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs nimmt auf diesen Gedanken Bezug, indem es in der Präambel postuliert, „dass die schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren, nicht unbestraft bleiben dürfen und dass ihre wirksame Verfolgung durch Maßnahmen auf einzelstaatlicher Ebene und durch verstärkte internationale Zusammenarbeit gewährleistet werden muss“.

Konkret besagt dieser völkerrechtliche Grundsatz, dass in Fällen, in denen eine Aufarbeitung im Tatortstaat oder vor dem Internationalen Strafgerichtshof nicht möglich ist, Gerichte und Staatsanwaltschaften anderer Staaten die Aufgabe haben, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord zu untersuchen und anzuklagen.

Da es auf völkerrechtlicher Ebene keine genaueren Ausführungen darüber gibt, wie eine solche Strafverfolgung in den einzelnen Staaten auszusehen hat, ist die Umsetzung dieses Prinzips in den verschiedenen Staaten höchst unterschiedlich. Mit der Unterzeichnung des Römischen Statuts im Jahr 1998 hat sich Deutschland für eine weitreichende Umsetzung des Weltrechtsprinzips entschieden. Während viele andere Staaten für die Aktivierung ihrer Strafjustiz bei im Ausland begangenen Völkerrechtsverbrechen einen Anknüpfungspunkt (zum Beispiel in Form der Staatsangehörigkeit von Täter oder Opfer) verlangen, hat der deutsche Gesetzgeber im Gesetz zur Kodifizierung der völkerrechtlichen Kernverbrechen, dem Völkerstrafgesetzbuch, festgelegt, dass dieses auch dann Anwendung findet, „wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist“. Allerdings wurde gleichzeitig die für die Ermittlung dieser Taten zuständige Staatsanwaltschaft, der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, mit einem sehr weitreichenden und gerichtlich faktisch nicht überprüfbaren Ermessensspielraum ausgestattet, solche Taten nicht zu ermitteln, die keinen Bezug zur Bundesrepublik aufweisen.

Weltrechtsprinzip als letzte Hoffnung?

Für die syrische Zivilgesellschaft und die Aktivist:innen und Organisationen, die viele der begangenen Verbrechen mit dem Ziel der Strafverfolgung dokumentiert haben, war das Weltrechtsprinzip nach der Blockade des Internationalen Strafgerichtshofs durch die Vetos Chinas und Russlands im UN-Sicherheitsrat die letzte Hoffnung, dass sich das Versprechen des Völkerstrafrechts, es dürfe für Völkerrechtsverbrechen keine Straflosigkeit geben, doch noch einlösen ließe.

Weniger aus diesem Grund, sondern vielmehr, um eine mögliche Beteiligung eigener Staatsangehöriger an den Verbrechen in Syrien verfolgen zu können, begannen nationale Strafverfolgungsbehörden in Europa damit, Beweise zu den in Syrien begangenen Verbrechen zu sichern. Solche breit angelegten Ermittlungen ohne bestimmtes Ziel (also ohne konkrete Tatverdächtige), die mit der Absicht geführt werden, erst in einem späteren Stadium personen- und tatbezogen zu ermitteln oder die Ermittlungsergebnisse mit anderen Strafverfolgern zu teilen, werden als „Strukturermittlungsverfahren“ bezeichnet. Die deutsche Bundesanwaltschaft leitete ihr Verfahren im September 2011 ein, Schweden, Frankreich und die Niederlande folgten bald darauf.

Die ersten aus diesen Ermittlungen resultierenden Strafverfahren richteten sich gegen Täter, die für den IS, die al-Nusra-Front oder andere bewaffnete oppositionelle und islamistische Gruppen in Syrien gekämpft hatten und die in Europa festgenommen werden konnten. Der erste Prozess wegen in Syrien begangener Verbrechen fand im Februar 2015 in Stockholm statt. Dort wurde ein syrischer Staatsbürger und ehemaliger Kämpfer der Freien Syrischen Armee, der als Flüchtling nach Schweden gekommen war, wegen Folter als Kriegsverbrechen für schuldig befunden. Er hatte ein Video von sich auf seinem Facebook-Account gepostet, in dem zu sehen ist, wie er einen Soldaten der syrischen Regierungstruppen misshandelt. Ein ähnliches Verfahren wurde bald darauf in Frankfurt am Main geführt: Ein ehemaliger Kämpfer wurde wegen Leichenschändung, die als Kriegsverbrechen strafbar ist, zu zwei Jahren Haft verurteilt. Hauptbeweismittel gegen ihn waren Fotos, die ihn vor den abgetrennten Köpfen ermordeter Soldaten der syrischen Regierungstruppen zeigten, die auf Metallspeeren aufgespießt waren. Weitere Prozesse in dieser frühen Phase der strafrechtlichen Aufarbeitung des Syrienkonflikts betrafen europäische Staatsangehörige, die sich als sogenannte foreign fighters bewaffneten Gruppen in Syrien angeschlossen hatten und später in ihr Heimatland zurückgekehrt waren, wo sie strafrechtlich verfolgt wurden – häufig auf der Grundlage von Terrorismusstrafrecht und nicht wegen ihrer Beteiligung an Völkerrechtsverbrechen.

Europäischen Strafverfolgungsbehörden ging es in dieser Zeit vor allem darum, zu verhindern, dass ihr Land den Tätern von Verbrechen in Syrien eine sichere Zuflucht bietet. Diese sollten bei ihrer (Wieder-)Einreise mit Strafverfolgung rechnen müssen. Syrische und internationale Akteure aus der Zivilgesellschaft kritisierten diesen „No Safe Haven“-Ansatz und die daraus resultierenden Strafverfahren, insbesondere solche nach Terrorismusstrafrecht, da sie das Ausmaß der Verbrechen in Syrien nicht widerspiegeln und somit deren Unrechtsgehalt nicht oder nur unzureichend erfassen. Sie forderten immer lautstärker, dass sich die Strafverfolgung am Universalitätsgedanken des Völkerstrafrechts orientieren und auch höherrangige Täter ins Visier nehmen sollte – selbst wenn deren Einreise in ein europäisches Land vorerst nicht zu erwarten war.

Syrische und internationale NGOs wie Amnesty International, Human Rights Watch oder die Commission for Justice and Accountability, eine Art staatlich finanzierte Privatdetektei für Völkerrechtsverbrechen in Syrien, hatten seit 2011 Tausende Beweise gesammelt. Diese belegen die Verantwortlichkeit der damaligen Führungsriege des syrischen Staats, einschließlich Baschar al-Assad, für Folter, sexualisierte Gewalt, Chemiewaffenangriffe und weitere Verbrechen. Gemeinsam mit syrischen Überlebenden dieser Verbrechen, die inzwischen in Europa lebten, reichten Organisationen wie das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) ab 2017 Strafanzeigen in verschiedenen europäischen Ländern ein. Sie forderten eine neue Strategie für die Ermittlungen. Nur wenn die Ermittlungen auch auf die Hauptverantwortlichen auf Seiten des syrischen Regimes ausgeweitet würden, könne die Struktur der Verbrechen und das Ausmaß des Unrechts in Syrien abgebildet und der Grundstein für eine umfassende spätere Aufarbeitung gelegt werden.

Ein entscheidendes Beweismittel, das den europäischen Behörden und der Weltöffentlichkeit seit Sommer 2014 bekannt war, waren die sogenannten „Caesar“-Fotos. Caesar war bis zum Sturz des Regimes im Dezember 2024 der Deckname von Farid al-Mazhan. Er war ein ehemaliger Mitarbeiter der forensischen Abteilung der Militärpolizei und seit April 2011 damit beauftragt, mehrere Zehntausend Bilder von zu Tode gefolterten Inhaftierten für interne Dokumentationszwecke anzufertigen. Gemeinsam mit seiner Familie entschloss er sich, diese Bilder heimlich zu sammeln und außer Landes zu schmuggeln.

Die Fotos bildeten fortan den Kern der Ermittlungen zum Folterapparat des ehemaligen syrischen Regimes. Sie belegten tausendfache Einzelschicksale von Menschen, die in syrischen Untergrundgefängnissen an grassierenden Seuchen, Mangelernährung oder Folter gestorben waren. Zudem waren sie der Beweis dafür, wie systematisch und planvoll das seit Jahrzehnten bestehende Foltersystem vom Assad-Regime angewandt wurde, um den Aufstand in Syrien zu unterdrücken.

Haftbefehle und Prozesse gegen das Assad-Regime

Die Bemühungen zeitigten bald darauf erste Erfolge: Im Juni 2018 erließ der deutsche Bundesgerichtshof einen Haftbefehl gegen Jamil Hassan, der bis Juli 2019 den in Syrien besonders berüchtigten Luftwaffengeheimdienst leitete. Dies war der erste sichtbare Schritt der strafrechtlichen Verfolgung von Personen, die sich in herausgehobener Position an Assads Verbrechen beteiligt hatten. Ihm sollten bald weitere folgen. In Frankreich führten Strafanzeigen im Fall einer franko-syrischen Familie, die in Syrien verhaftet worden war, zu Haftbefehlen neben Jamil Hassan auch gegen die hochrangigen Geheimdienstfunktionäre Ali Mamlouk und Abdel Salam Mahmoud.

Es folgten zum Teil aufsehenerregende Prozesse gegen Angehörige des Regimes in Europa. In Schweden wurde bereits 2017 ein Mitglied der syrischen Armee verurteilt, das auf einem Foto zu sehen war, wie es mit dem Fuß auf einem toten Körper posierte. Für die Bemühungen um Aufarbeitung hatte insbesondere das Koblenzer al-Khatib-Verfahren herausragende Bedeutung. Im Zuge ihrer Strukturermittlungen waren die deutschen Behörden auf den ehemaligen Oberst des Allgemeinen Geheimdienstdirektorats, Anwar Raslan, aufmerksam geworden. Ihm und einem niederrangigen Mitarbeiter derselben Einheit wurde ab April 2020 vor dem Oberlandesgericht Koblenz das Verfahren gemacht.

Es handelte sich um das erste Verfahren weltweit, in dem syrische Staatsfolter und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von Folter, Inhaftierungen und sexualisierter Gewalt verhandelt wurden. Während der 108 Verhandlungstage sagten mehr als 80 Zeug:innen aus, 24 Nebenkläger:innen nahmen an den Verfahren teil. Im Januar 2022 wurde Anwar Raslan unter anderem wegen Folter, 27 Morden, schwerer Körperverletzung und sexueller Gewalt, die im al-Khatib-Gefängnis begangen wurden, zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Urteil gilt weltweit als Meilenstein, unter anderem, weil erstmals bestätigt wurde, dass diese Verbrechen Teil eines weit verbreiteten und systematischen Angriffs der syrischen Regierung gegen die Zivilbevölkerung in Syrien waren.

Seit Januar 2022 steht ein syrischer Arzt vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main, dem vorgeworfen wird, in den Jahren 2011 und 2012 in einem Militärkrankenhaus sowie in einem Untergrundgefängnis des militärischen Geheimdienstes in Aleppo Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben, darunter Folter und Mord. Der Abschluss des Verfahrens ist für Juni 2025 vorgesehen.

Der Haftbefehl, der in Frankreich gegen Ali Mamlouk, Jamil Hassan und Abdel Salam Mahmoud im Fall der Familie Dabbagh erlassen wurde, führte zu einem Prozess in Paris im Mai 2024. Dieser musste allerdings in Abwesenheit der Angeklagten geführt werden, da sich diese weiterhin in Syrien aufhielten und bis heute nicht festgenommen werden konnten. Sie wurden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Folter, willkürliche Inhaftierung, gewaltsames Verschwindenlassen und Mord zu lebenslanger Haft verurteilt. Frankreich ist eines der wenigen Länder in der EU, in denen ein Gerichtsurteil in Abwesenheit des Verurteilten ergehen kann.

Weitere Prozesse und Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Regierungsmitarbeiter Assads gab es in Österreich, Schweden und Frankreich. Auch außerhalb Europas nahmen in den vergangenen Jahren die juristischen Bemühungen, Mitglieder des Assad-Regimes für ihre Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen, an Fahrt auf – vor allem in den USA. Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang das Ermittlungsverfahren gegen die Regierung und das Militär Assads wegen des Einsatzes von Chemiewaffen. Den Anstoß dazu gaben Strafanzeigen von NGOs in Schweden, Frankreich und Deutschland. Diese führten im November 2023 zu Haftbefehlen eines französischen Ermittlungsrichters gegen Baschar al-Assad, seinen Bruder Maher und zwei weitere Offiziere.

Verfahren gegen regimenahe Milizen

In letzter Zeit kam es in mehreren europäischen Ländern zu einer neuen Welle von Verfahren gegen Mitglieder bewaffneter Gruppen, die sich während des bewaffneten Konflikts in Syrien auf die Seite des syrischen Regimes geschlagen hatten und in Europa festgenommen werden konnten. Diese Verfahren fügten dem juristischen Mosaik der Aufarbeitung der in Syrien begangenen Verbrechen weitere Steine hinzu.

So verurteilte das Kammergericht Berlin im Februar 2023 ein ehemaliges Mitglied einer regimetreuen Miliz wegen der Ermordung von mindestens vier Zivilisten im Damaszener Stadtteil Yarmouk zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Moafak D. hatte im März 2014 eine Panzerabwehrrakete in eine Gruppe von Zivilisten gefeuert, die sich an einer Lebensmittelausgabestelle versammelt hatten. Der Anschlag ereignete sich während der monatelangen Belagerung des ehemaligen palästinensischen Flüchtlingslagers durch das Assad-Regime. Es war der erste Prozess, der einen Einblick in die brutale Praxis des Regimes gab, Teile der Bevölkerung zu belagern und auszuhungern, um sie für ihren Widerstand zu bestrafen – eine Praxis, die das Regime im Laufe des Konflikts immer wieder angewandt hatte.

Am Hanseatischen Oberlandesgericht in Hamburg wurde im Dezember 2024 ein Mann wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen durch Folter und Versklavung verurteilt. Er hatte im Damaszener Stadtteil Tadamon ebenfalls für eine Assad-treue Miliz Zivilist:innen misshandelt. Derzeit läuft ein weiteres Verfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart gegen ein ehemaliges Mitglied der Hisbollah wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Der Angeklagte soll auf Seiten des Assad-Regimes in Busra al-Sham Häuser geplündert sowie Zivilist:innen misshandelt und ermordet haben.

Internationale Bemühungen und Lösungen

Seit Beginn der Massenverbrechen in Syrien ab März 2011 gibt es auf internationaler Ebene Bemühungen von Diplomat:innen und Aktivist:innen, diese Verbrechen zu dokumentieren und aufzuarbeiten. Dazu zählt die Unabhängige internationale Untersuchungskommission zu Syrien, die im September 2011 vom UN-Menschenrechtsrat eingesetzt wurde. Allerdings setzte bald darauf Frust unter internationalen Politiker:innen, Diplomat:innen und Aktivist:innen über das Veto im UN-Sicherheitsrat zur Überweisung an den Internationalen Strafgerichtshof im Mai 2014 ein. Die daraufhin nicht verfügbaren internationalen Aufarbeitungsmechanismen für den Fall Syrien führten nicht nur zu einer Wiederbelebung des Weltrechtsprinzips, sondern auch zur Schaffung weiterer innovativer internationaler Mechanismen, hauptsächlich durch die UN.

So schuf die UN-Generalversammlung im Dezember 2016 auf Initiative einiger ihrer Mitglieder einen internationalen, unparteiischen und unabhängigen Mechanismus zur Untersuchung und Verfolgung der Verantwortlichen für die schwersten völkerrechtlichen Verbrechen, die seit März 2011 in Syrien begangen wurden. Dieser ist auch unter dem Akronym IIIM bekannt. Im Gegensatz zur bereits im September 2011 geschaffenen UN-Untersuchungskommission sollte dieser neuartige Mechanismus aktiv Strafverfolgung vorbereiten und – internationalen und nationalen, bestehenden sowie zukünftigen – Gerichten und Tribunalen zuarbeiten.

Ein weiterer neuartiger Mechanismus ist die Unabhängige Institution für vermisste Personen in der Arabischen Republik Syrien (Independent Institution on Missing Persons in Syria – ICMP), die ebenfalls durch die UN-Generalversammlung im Juni 2023 ins Leben gerufen wurde. Ihre Aufgabe besteht darin, die Zusammenarbeit von Regierungen und anderen Akteuren bei der Suche nach vermissten Personen, die infolge von Konflikten, Menschenrechtsverletzungen, Katastrophen, organisiertem Verbrechen, irregulärer Migration und anderen Ursachen verschwunden sind, zu unterstützen. In den 13 Jahren des Konflikts sind mehr als 130000 Menschen verschwunden, da sie entführt, getötet oder inhaftiert wurden oder weil sie auf der Flucht vor den Kämpfen entlang der Migrationsrouten verschwunden sind. Der geschaffene Mechanismus hat das Mandat, das Schicksal dieser Menschen aufzuklären. Zu diesem Zweck sammelt er Informationen, unterstützt Familien bei der Suche nach Angehörigen und arbeitet mit Regierungen sowie internationalen Organisationen zusammen, um entsprechende juristische Verfahren zu unterstützen.

Neben diesen Bemühungen, die sich meist auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit beziehen, haben Kanada und die Niederlande im Juni 2023 einen gemeinsamen Antrag auf Anwendung des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (Convention Against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment – UNCAT) gegen Syrien beim Internationalen Gerichtshof eingereicht. Im November 2023 ordnete der Internationale Gerichtshof vorläufige Maßnahmen an und forderte Syrien auf, alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen zu ergreifen, um Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe zu verhindern und sicherzustellen, dass keine derartigen Handlungen weiter begangen werden und kein Beweismaterial im Zusammenhang mit diesen Vorwürfen zerstört wird.

Ausblick

Mit dem Sturz Assads Anfang Dezember 2024 eröffnen sich neue Möglichkeiten für die juristische Aufarbeitung der seit März 2011 in Syrien begangenen Verbrechen. Bisher zielten die Bemühungen in dieser Hinsicht immer auf die internationale Ebene, also den Internationalen Strafgerichtshof und die Vereinten Nationen, oder auf Drittstaaten und Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip. Dabei sind Letztere nur stellvertretend für die eigentlich für diese Verbrechen zuständige syrische Strafjustiz tätig geworden. In der Forschung zu transitional justice und Erinnerungspolitik gilt es als gesichert, dass Strafverfahren innerhalb der betroffenen Gesellschaft die größte Wirkung entfalten und eine breite gesamtgesellschaftliche Wirkung ohne eine Aufarbeitung im Tatortstaat sogar schwierig bis unmöglich ist.

Vor diesem Hintergrund wurden die hier beschriebenen Verfahren von der syrischen Zivilgesellschaft einerseits stark begrüßt. Als sie über viele Jahre hinweg keinerlei Handlungsspielraum mehr hatte und sich militärisch wie (welt-)politisch das Blatt zu Gunsten Assads zu drehen schien, boten die Bemühungen um Aufarbeitung einen der letzten Resonanzräume für zivilgesellschaftliche Forderungen nach Beendigung und Aufarbeitung der Verbrechen. Andererseits wurden die Verfahren kontrovers diskutiert. Insbesondere die Verfahren gegen niederrangige Täter, die sich vom Regime abgewandt hatten, wurden häufig als „ein falsches Zeichen“ gewertet. Allerdings sind auch diese Debatten Teil einer notwendigen Auseinandersetzung in einer von Massengewalt betroffenen Gesellschaft: Wen zieht man wann zur Rechenschaft und wer hat es verdient, Vergebung, Strafminderung oder sogar Straffreiheit zu erhalten?

Diese Diskussionen wären viel wirkmächtiger, wenn sie sich an Strafverfahren entzünden würden, die in Syrien geführt werden. Jedoch ist man von den politischen, strukturellen und juristischen Bedingungen für die Durchführung potenziell politisierter, juristisch hoch komplexer Verfahren in größerem Ausmaß in Syrien heute noch sehr weit entfernt. Ob es jemals dazu kommen wird, ist angesichts der politischen Instabilität im Land und der Größe der Aufgabe derzeit noch nicht abzusehen. Vorsichtig optimistisch stimmen zumindest die rhetorischen Bekenntnisse der neuen Machthaber, die Verantwortlichen des Assad-Regimes juristisch zu belangen. Für eine umfassende juristische Vergangenheitsbewältigung im Sinne einer transitional justice wäre es allerdings unverzichtbar, dass die Taten aller Tätergruppen – inklusive jener der HTS-Milizen – aufgearbeitet werden. Momentan sieht es nicht danach aus, als könnten die politischen Voraussetzungen dafür in naher Zukunft eintreten.

Angesichts der bisherigen Errungenschaften bei der juristischen Aufarbeitung im Ausland und der Bedeutung, die zumindest die europäischen Geberländer diesem Thema beimessen, scheint es möglich, dass die Länder bereit wären, technische und finanzielle Unterstützung für solche Verfahren zu leisten. Denkbar wäre es, zunächst einige Pilotverfahren durchzuführen, in der Hoffnung, dass dadurch positive Präzedenzfälle geschaffen werden. Diese könnten im Rahmen eines Sondertribunals erfolgen, das institutionell und rechtlich einen internationalen oder „internationalisierten“ Charakter haben könnte. Entsprechende Beispiele gab es etwa für Kambodscha und Sierra Leone. Aktuell werden ähnliche Modelle für die Ukraine und das westafrikanische Gambia diskutiert.

In jedem Fall werden auch Verfahren in Europa und anderswo nach dem Weltrechtsprinzip bis auf Weiteres von Bedeutung sein. Einen großen Schub könnten diese Bemühungen erhalten, wenn ein hochrangiges Mitglied der alten Regierung festgenommen und ein Prozess gegen diese Person in Aussicht gestellt wird. Insgesamt zeigt sich an den Beispielen juristischer Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, Argentinien und anderswo, dass es auch in Syrien kein gradliniger Prozess sein wird. Über die juristische Aufarbeitung einer derart massiven Gewalt, wie sie Syrien erlebt hat (und die hoffentlich der Vergangenheit angehört, was derzeit keinesfalls gesichert ist), wird immer wieder neu verhandelt und gerungen werden müssen.

ist am European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) tätig. Dort leitet er unter anderem die Arbeit des ECCHR zu Menschenrechtsverbrechen in Syrien. Als Rechtsanwalt vertritt er regelmäßig Überlebende der Völkerrechtsverbrechen in Syrien vor Gericht.