In Syrien leben schätzungsweise 2,5 Millionen Kurden. Sie bilden nach den Arabern die größte ethnische Gruppe, machen etwa zehn Prozent der Bevölkerung aus und leben vor allem im Norden und Nordosten des Landes. Auch in den Städten Aleppo und Damaskus lebt eine große Gruppe alteingesessener kurdischer Communitys. Obwohl die Kurden in Syrien bis zum Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges vergleichsweise wenig öffentliche Aufmerksamkeit erhielten, spielten sie stets eine wichtige Rolle im kurdischen nationalen Widerstand und auch in Syrien selbst.
Das moderne Syrien entstand 1946. Das ideologische Fundament des Staates war arabisch-nationalistisch, ergänzt durch vereinzelte wohlfahrtsstaatliche Elemente – die Grundlage für die spätere Baath-Partei.
Dennoch gab es transnationale Verbindungen unter den Kurden. So war etwa Jalal Talabani, der zeitweise im syrischen Exil lebte und später im Irak die Patriotische Union Kurdistans (PUK) gründete, ein wichtiger Impulsgeber für die kurdischen Gruppen. Auch Abdullah Öcalan, der Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der in der von Syrien kontrollierten Bekaa-Ebene im Libanon eine militärische Ausbildungsbasis errichtete, war und ist bis heute ein wichtiger Bezugspunkt für die Kurden in Syrien. Obwohl sie im innerkurdischen Vergleich – vor allem in Relation zu den zwanzig Millionen Kurden in der Türkei, den rund acht Millionen im Irak oder den rund zehn Millionen im Iran – eine eher kleine Gemeinschaft sind, befanden sie sich häufig an wichtigen Schnittstellen der zahlreichen Fronten des kurdischen Nationalkampfes. Der Sturz Saddam Husseins 2003 und die Errichtung der kurdischen Autonomie im Irak motivierten sie in den 2000er Jahren umso mehr, es den Kurden im Irak gleichzutun.
Dritter Weg
Als schließlich 2011 der Arabische Frühling Syrien erreichte und sich das Assad-Regime einer zunehmend islamistisch-nationalistisch geprägten Opposition gegenübersah, entschieden sich die Kurden für einen „dritten Weg“: sich nicht auf eine Seite zu schlagen, sondern den Aufbau einer autonomen Selbstverwaltung voranzutreiben – heute bekannt als Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyrien (AANES). Neben dem Abwehrkampf gegen das Assad-Regime, gegen islamistische Gruppen und gegen die Türkei zeichnete sich die AANES von Anfang an durch progressive politische Grundsätze aus: Gewaltenteilung, starke basisdemokratische Strukturen mit kommunaler Selbstverwaltung, die zentrale Rolle von Frauen in Politik und Gesellschaft sowie ein ökologisches Selbstverständnis machen das Projekt einzigartig in der Region.
Im Dezember 2023 ratifizierte die AANES zudem ihren neuen Gesellschaftsvertrag, was einer Verfassung gleichkommt, und legte damit vor der Gründung eines demokratischen syrischen Staates die juristische Position der Autonomie gegenüber einer solchen zukünftigen Ordnung fest. Die AANES will sich demnach nicht von Syrien abspalten, sondern sieht sich in ihrer Präambel als Teil der „Demokratischen Föderation Nordsyrien“, fordert also ein föderales Syrien.
Bereits kurz nach ihrer Gründung 2012 sah sich die AANES mit Bedrohungen durch dschihadistische Gruppen wie die Al-Nusra-Front konfrontiert, zu deren Anführern Ahmed al-Scharaa (alias Abu Muhammad al-Dscholani) gehörte, der später die Provinz Idlib kontrollierte und seit Januar 2025 Interimspräsident Syriens ist. Die islamistische Dominanz des syrischen Aufstands setzte vor allem ab 2013 ein, als der Islamische Staat im Irak und in Syrien (ISIS) – ab 2014 Islamischer Staat (IS) – weite Teile Syriens eroberte und begann, kurdische Gebiete einzukreisen.
Der Wendepunkt kam 2014 mit der Schlacht um Kobanî: Der Widerstand der Kurden, insbesondere ihrer weiblichen Kampfeinheiten der YPJ (Yekîneyên Parastina Jinê), gegen den IS brachte diesem seine erste bedeutende militärische Niederlage ein. Dieses Gefecht war der Beginn eines langen Kampfes, der 2019 mit dem territorialen Zusammenbruch des IS endete. Der Sieg gelang den kurdischen Kräften nicht allein: Teil dieses Kampfes waren armenische, assyrische und arabische Bataillone sowie die 2014 etablierte Partnerschaft der kurdischen Kräfte mit der US-geführten Koalition gegen den IS. Der kurdische Widerstand war fortan nicht nur ein Widerstand gegen die nationalistische Ordnung, die etwa unter Assad und seinen Vorgängern die Norm war, sondern gegen den breiten islamistischen Konsens vieler Oppositionsgruppen und Teil des globalen Kampfes gegen den IS.
Mit dem territorialen Vorstoß gegen den IS, der sich auf arabischem Gebiet befand, und dem Zusammenschluss der kurdischen mit den anderen Kräften unter dem Schirm der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) wurde aus der ursprünglich mehrheitlich kurdischen Autonomie ein multiethnisches Projekt – was sich auch im Wechsel vom Namen „Rojava“ (kurdisch für „Westen“, als Teil Großkurdistans) zum neutraleren AANES widerspiegelt. Doch alle Inklusions- und Aufbaumaßnahmen konnten das Projekt AANES aufgrund der jahrzehntelangen antikurdischen Indoktrination in der arabischen Welt nicht attraktiver machen. Die Etablierung der AANES war nicht nur ein Affront gegenüber den Staaten des Nahen Ostens, die sich gegen ein kurdisches Gemeinwesen aussprechen, sondern auch ein ideologischer Gegensatz zu vielen traditionell und stammespolitisch geprägten arabischen Gebieten in Ostsyrien, die nach der Vertreibung des IS unter die Kontrolle der AANES fielen. Entsprechend konfliktbeladen ist das Verhältnis zu Teilen der arabischen Bevölkerung – auch weil viele kurdische Kerngebiete im Kampf um die Befreiung arabischer Gebiete verloren gingen.
Drei türkische Militärinvasionen seit 2017 führten zur Vertreibung Hunderttausender Kurden und zur Besetzung strategisch wichtiger Regionen wie Afrin, Girê Spî (Tell Abyad) und Serê Kaniyê (Ras al-Ain). Diese Gebiete gerieten unter die Kontrolle der Türkei und der sogenannten Syrischen Nationalarmee (SNA) – einer heterogenen Truppe, die sich größtenteils aus islamistischen Milizen zusammensetzt und sich als Anti-Assad-Opposition versteht.
Der Türkei gelang es damit, ihre Interessen durchzusetzen – nicht nur durch direkte Intervention, sondern auch mithilfe jener syrischen Oppositionskräfte, die den Kurden von Anfang an feindlich gegenüberstanden. Ein politisch selbstbestimmtes Kurdistan – oder auch nur eine kurdische Selbstverwaltung – wird von Ankara als Bedrohung angesehen. Wie schon Muhammad Talib Hilal, der Architekt der Arabisierungspolitik von 1963, sagte: Ein Kurdistan wäre nichts anderes als ein „Jahudistan“ – ein „fremdes“, „unechtes“ Gebilde, das den vermeintlich „echten“ arabischen Volkskörper spalte.
Über die Jahre hat die Türkei ihre Präsenz in Nordsyrien sowohl direkt militärisch als auch indirekt über verbündete Gruppen wie die HTS (Hai‘at Tahrir asch-Scham) in Idlib unter Ahmed al-Scharaa stabilisiert. Das Grenzgebiet zur Türkei ist über den UN-Hilfskorridor bei Bab al-Hawa zu einer faktischen Exklave geworden.
Multiple Fronten
Seit dem Machtwechsel in Damaskus am 8. Dezember 2024 hat sich die Lage der Kurdinnen und Kurden in Nord- und Ostsyrien wie auch die vieler anderer ethnischer und religiöser Minderheiten in Syrien dramatisch verschärft.
Der Zeitpunkt der HTS-Offensive Ende November 2024, die zum Sturz des Regimes führte, war vermutlich nicht zufällig gewählt. Vielmehr ergab er sich aus einer Kombination geopolitischer Verschiebungen. Zum einen geriet die „Achse des Widerstands“, die Assad bis dahin militärisch gestützt hatte, zunehmend ins Wanken, da Israel nach dem 7. Oktober 2023 die Führungen von Hamas und Hisbollah weitestgehend ausgeschaltet hatte und der Iran sich in einer tiefen wirtschaftlichen Krise befand. Zum anderen hatte kurz zuvor Donald Trump die US-Präsidentschaftswahlen 2024 gewonnen, während sich die russisch-ukrainische Front zunehmend festgefahren zeigte. Vor diesem Hintergrund war absehbar, dass die EU unter einer zweiten Trump-Präsidentschaft verstärkt auf die Türkei als sicherheitspolitischen Partner setzen und die Flüchtlingsabwehr zur Priorität erklären würde. Seit 2021 hatte sie daher bereits Schritte unternommen, um eine Normalisierung der HTS einzuleiten, die letztlich zur Rückführung syrischer Flüchtlinge führen könnte.
Die Dynamik der internationalen Sicherheitsarchitektur ging auch an der kurdischen Führung - vor allem den Verteidigungseinheiten der AANES, der SDF – in Syrien nicht vorüber. So unterzeichneten der Oberbefehlshaber der SDF, Mazloum Abdi, und der Präsident der syrischen Übergangsregierung, Ahmed al-Scharaa, am 10. März 2025 ein Abkommen über die Integration der Verwaltung und der Sicherheitskräfte Nordostsyriens in den syrischen Staatsapparat und die Anerkennung der Kurden.
Trotz der Fortschritte zwischen Kurden und der neuen Führung in Damaskus kam es in Qamishlo zu Protesten gegen die am 13. März von al-Scharaa ratifizierte neue Verfassungserklärung für Syrien, da die zuvor im Abkommen vereinbarten Punkte nicht enthalten sind.
Insgesamt scheint das Abkommen noch keine greifbaren Früchte zu tragen, auch wenn die Verbindung zwischen der AANES und Damaskus immerhin noch besteht. Dennoch wurden kurdische Vertreter nicht zum syrischen Forum für den nationalen Dialog eingeladen, und auch bei der Pariser Syrien-Konferenz am 13. Februar 2025 wurde die Außenbeauftragte Ilham Ahmed nicht am selben Tisch wie die anderen Vertreter der HTS empfangen, sondern nur separat zu Gesprächen konsultiert.
Kampf gegen den IS
Trotz des territorialen Zusammenbruchs des IS befinden sich im Nordosten Syriens noch etwa 10000 mutmaßliche IS-Mitglieder und rund 40000 Familienangehörige in Gefängnissen und Lagern, darunter viele ausländische Staatsangehörige, die ein erhebliches Sicherheitsrisiko darstellen. Humanitäre Organisationen kritisieren die Zustände vor Ort; zugleich können die Lager nicht als reine zivile Camps gesehen werden. In den Lagern kommt es immer wieder zu ideologisch motivierten Morden, und junge Menschen werden als Kämpfer rekrutiert.
Die internationale Gemeinschaft hat bislang keine einheitliche Strategie zur Lösung dieses Problems entwickelt. Die AANES fordert seit Jahren die Rückführung ausländischer Staatsbürger und die Einrichtung eines internationalen Tribunals zur strafrechtlichen Verfolgung der Verbrechen des IS.
Der Grund für die Zurückhaltung ist, dass jede institutionelle Arbeit mit der AANES – auch im Kampf gegen den IS – von der Türkei als Affront empfunden wird. Diese Scheu hat System seit Beginn der Anti-IS-Koalition der USA, in der alles, was Nation-Building sein könnte, tunlichst vermieden wurde. Während die USA in Afghanistan und im Irak mit umfassenden Mandaten operierten, die sowohl militärische als auch zivile Komponenten umfassten, haben sie im Nordosten Syriens nicht einmal Gefängnisse gebaut. Viele IS-Gefangene werden in ehemaligen Schulen und anderen umfunktionierten Gebäuden festgehalten.
Das „K-Wort“
Die Zurückhaltung vor allem der USA und des Westens und das fatale militärische Flickwerk, in das die Kurden verstrickt sind, haben eine lange Vorgeschichte. Militärische Interventionen des Westens mit kurdischer Hilfe, die nicht auf Institutionenaufbau und nachhaltige Strategien setzen, waren bereits in der Autonomen Region Kurdistan zu beobachten, die immerhin seit 2005 anerkannt und Teil der irakischen Verfassung ist.
Obwohl der US-geführte Einsatz „Operation Provide Comfort“ (1991–1996) auf Grundlage der UN-Resolution 688 humanitäre Hilfe für kurdische Flüchtlinge im Nordirak leistete und Flugverbots- sowie Schutzzonen gegen irakische Repressionen einrichtete, unterblieb die Stärkung kurdischer Institutionen, um die Türkei nicht zu verärgern. Aus dem gleichen Grund vermieden US-Beamte während der Einsätze bewusst das „K-Wort“, also Kurdistan.
In Syrien haben wir nun ein Szenario, in dem eine sich zurückziehende US-Administration mit einem viel kleineren Mandat dieselben türkischen Sicherheitsbedenken zitiert. Drei groß angelegte türkische Invasionen in kurdisch-syrisches Gebiet seit 2017 haben Hunderte von Zivilisten getötet und Hunderttausende in die Flucht gezwungen – auch während der gemeinsamen SDF-US-Operationen gegen den IS. Oft wurde behauptet, die AANES müsse sich nur stärker von der PKK distanzieren, um den türkischen Sicherheitsinteressen gerecht zu werden. Doch das Beispiel der Autonomen Region Kurdistan zeigt, dass dies nicht ausreicht.
Das Grundproblem ist, dass die Türkei keine kurdische Selbstverwaltung akzeptiert, weder im Irak noch in Syrien, solange die Mehrheit der Kurden insgesamt in der Türkei lebt und als Bedrohung wahrgenommen wird. Im Gegensatz zur Türkei der 1990er Jahre, in der die türkische Lira massiv an Wert verlor, Geldscheine mit Millionenwerten gedruckt wurden und keine Regierung ein Jahr überlebte, ist die Türkei der Gegenwart ein globaler Player und einer der wichtigsten Ansprechpartner im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine.
Vergleiche mit den Jahren des Irakkrieges hört in diesen Tagen niemand gerne, schon gar nicht in Kreisen, die der HTS nahestehen und den Machtwechsel in Syrien als Machtwechsel aus eigener Kraft darstellen. Und so wie damals im Irak vom Iran gesteuerte Ex-Milizionäre als Technokraten bezeichnet wurden, die sich später gegen zentrale westliche Interessen wenden würden, gibt es wenig Grund zu der Annahme, dass dies bei den salafistischen Technokraten der HTS anders sein wird. Doch im Unterschied zu damals ist die Weltlage heute instabiler, sind die Machtverhältnisse unklarer, ist vieles möglich, was früher unmöglich schien – auch für die Kurden.
Die Schwäche des Iran lässt aufhorchen, denn die Proteste der Kurden im Iran 2022, die selbst stark in das Projekt AANES involviert waren und sind, liegen noch nicht lange zurück. Und trotz aller geopolitischen Macht steckt Erdoğan in einer tiefen innenpolitischen Krise, was wirtschaftliche Probleme und Hindernisse für seine Wiederwahl betrifft – Proteste gegen die Inhaftierung des Präsidentschaftskandidaten Ekrem İmamoğlu erschüttern alle großen Metropolen der Türkei. Der Iran und die Türkei, die sich im gemeinsamen Kampf gegen die kurdische Selbstbestimmung immer unterstützt haben, fürchten nun auch, dass das durch Trumps Rückzug aus dem Nahen Osten entstehende Machtvakuum nicht zu den erhofften eigenen Erfolgen führen wird. Wir sehen, dass gerade Israel massiv expandiert und den Ton angibt. Die Türkei und Israel stehen sich derzeit in Palmyra gegenüber, wo die Türken einen Stützpunkt errichten wollen.
Ausblick
Die geopolitische Lage im Nahen Osten ist im Wandel, was den Kurden neue Perspektiven eröffnen könnte. Die Türkei steht dabei unter wachsendem innen- wie außenpolitischem Druck. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass im Frühjahr 2025 Verhandlungen mit der PKK aufgenommen wurden – deren Ausgang ist völlig ungewiss, und über die Gespräche selbst sowie ihre Bedingungen liegen bislang kaum Informationen vor.
Zudem scheinen die Kurden außenpolitisch neue Partner gefunden zu haben, so investiert etwa Saudi-Arabien seit Jahren in Projekte im Nordosten Syriens, und saudische Mediengiganten wie „al-Arabiya“ trafen sich mit Mazlum Abdi zu Interviews zur besten Sendezeit, was vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Der israelische Außenminister Gideon Sa’ar und sogar Premierminister Benjamin Netanjahu äußerten sich überraschend deutlich als Unterstützer der Kurden in Syrien, obwohl Israel und die Türkei eine lange strategische Partnerschaft verbindet. Und auch Mazlum Abdi gab zu verstehen, dass die Kurden keine Unterstützung, auch keine israelische, ablehnen würden.
So sehr die Kurden immer wieder als verratenes und betrogenes Volk dargestellt wurden, so sehr scheinen sie zu den Pragmatikern des neuen Nahen Ostens geworden zu sein. Nach innen sind die utopischen Ideen und Prinzipien des Projekts „Rojava“ das Fundament, das einer kriegsgebeutelten Gesellschaft hilft, die Hoffnung nicht zu verlieren und nicht nur im Verteidigungsmodus, sondern aktiv an einer besseren Zukunft für sich zu bauen. Nach außen hin scheint die Rehabilitierung der Ex-al-Qaida-Männer in Syrien und darüber hinaus einen großen realpolitischen Schwenk der AANES ausgelöst zu haben.