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Vorläufe und Voraussetzungen: Deutschland im Zeitalter der Revolutionen 1789–1847 | bpb.de

Informationen zur politischen Bildung Nr. 364/2025

Vorläufe und Voraussetzungen: Deutschland im Zeitalter der Revolutionen 1789–1847

Jörn Leonhard

/ 16 Minuten zu lesen

Die Jahrzehnte vor 1848 waren Zeiten des Umbruchs. Angesichts politischer und sozialer Krisen stellten immer mehr Menschen schließlich die überkommene Ordnung in Frage.

Die Radierung „Deutschlands Hoffnung“ (1816) zeigt eine Versammlung der bevollmächtigten Gesandten aller Staaten im Deutschen Bund im Jahr 1816 in Frankfurt am Main. (© akg-images)

Die Französische Revolution und die Herrschaft Napoleons hatten auch Deutschland zwischen Beginn der Revolution 1789 und der Niederlage des Französischen Kaiserreichs 1815 tiefgreifend verändert. Napoleon, der mit seiner Armee große Teile Europas unter Kontrolle brachte, erzwang in Deutschland zunächst eine territoriale Flurbereinigung. In deren Folge ging im August 1806 mit der Niederlegung der Kaiserkrone durch Kaiser Franz II. unter anderem das Heilige Römische Reich Deutscher Nation unter. Die Erfahrung der aus Frankreich stammenden fortschrittlichen Prinzipien erweckte bei vielen Deutschen neue politische und nationale Erwartungen. Nach der militärischen Niederlage Preußens gegen Napoleon 1806 nährten vor allem die Anstrengungen preußischer Reformbeamter um den Freiherrn vom Stein und Staatskanzler August von Hardenberg Hoffnungen auf eine zeitgemäße Erneuerung von Staat und Gesellschaft. Auch viele Politiker in dem von Napoleon begründeten Rheinbund setzten sich intensiv mit aus ihrer Sicht überfälligen Veränderungen auseinander und orientierten sich an Frankreich. Dazu gehörten die Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit, Gemeinde- und Verwaltungsreformen, die Einrichtung moderner Geschworenengerichte sowie bürgerliche Rechtsgleichheit und ein Ende ständischer Vorrechte von Adel und Klerus. Nach dem Kriterium von Besitz und Bildung strebte der Rheinbund eine sozial gestaffelte politische Mitsprache durch ein Zensuswahlrecht an, die langfristig in eine geschriebene Verfassung und gewählte Landtage münden sollten. Solche Forderungen entwickelten vor 1815 eine enorme Dynamik, und viele Angehörige des Bürgertums, die sich am Kampf gegen die napoleonische Herrschaft beteiligten, verbanden den „Befreiungskrieg“ gegen die französischen Besatzer mit einem „Freiheitskampf“ für die deutsche Nation. Eine bloße Rückkehr zur Vergangenheit, eine Restauration des Alten Reiches und der ständischen Privilegien von Adel und Fürsten schloss das aus.

QuellentextDie territoriale Ordnung Europas 1815–1871

Nach den Umwälzungen der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege verfolgten die führenden europäischen Staatsmänner auf dem Wiener Kongress 1814/15 das Ziel, eine stabile europäische Ordnung herzustellen. Die napoleonische Herrschaft hatte Europas Grenzen und Strukturen tiefgreifend verändert. Die Neuordnung der Staaten war komplex. In Deutschland entstand der Deutsche Bund – ein lockerer Staatenbund, der viele Hoffnungen auf nationale Einheit und politische Freiheit unerfüllt ließ und vor allem der Sicherung der Macht der Fürsten und der Abwehr revolutionärer Bewegungen diente.

Seit den 1820er-Jahren wuchs der Wunsch, aus dem Bund mit 38 Staaten einen Nationalstaat zu formen und bestehende Verfassungen auszubauen bzw. neue einzuführen. Auch die wirtschaftliche Integration rückte in den Fokus – etwa durch den 1834 gegründeten Deutschen Zollverein. Politische Freiheit und nationale Einheit wurden zentrale Forderungen einer immer breiteren Bewegung in der deutschen Öffentlichkeit.

Die territoriale Neuordnung Europas nach dem Wiener Kongress 1815 (© Quelle: Cornelsen)

Deutscher Bund und Deutscher Zollverein (© Quelle: Cornelsen)

Der Deutsche Bund: Ein Staatenbund, kein Bundesstaat

Angesichts dieser weitgespannten Erwartungen waren viele Deutsche enttäuscht vom Deutschen Bund, der 1815 auf dem Wiener Kongress geschaffen wurde. In Wien versuchten europäische Staatsmänner und Diplomaten zwischen September 1814 und Juni 1815, Europa nach der Erfahrung von Revolutionen und Kriegen durch ein Gleichgewicht der Mächte und die Verhinderung neuer Revolutionen neu zu ordnen. Die Politiker und Diplomaten in Wien schufen keinen Bundesstaat als politischen und staatsrechtlichen Rahmen für die deutsche Nation, sondern einen Staatenbund, der die Souveränität von 38 prinzipiell selbstständigen Fürstenstaaten und Stadtrepubliken festschrieb. Damit folgte der Deutsche Bund zunächst der Logik einer europäischen Sicherheitsordnung, die in Wien im Mittelpunkt gestanden hatte. Entsprechend hielt Artikel 2 der Deutschen Bundesakte – der Verfassungsvertrag des Deutschen Bundes – von 1815 als Ziel die „Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten“ fest.

Zugleich sollte der Deutsche Bund als innenpolitisches Bollwerk gegen weitergehende politische und konstitutionelle Entwicklungen wirken und einer Wiederholung revolutionärer Anläufe vorbeugen. Zwar formulierte Artikel 13 der Bundesakte, dass „in allen Bundesstaaten … eine landständische Verfassung stattfinden“ werde. Aber ob mit einem solchen Dokument eine altständische Ordnung, also eine Vertretung privilegierter Stände, oder ein modernes Verständnis von politischer Repräsentation auf der Basis von Wahlen, Landtagen und geschriebenen Verfassungen gemeint war, blieb umstritten. Während ehemalige Rheinbundstaaten wie Bayern, Baden und Württemberg zu den frühesten deutschen Staaten mit Verfassungen und Landtagen gehörten und eine restaurative Interpretation des Artikels abwehrten, um ihre eigene Souveränität zu behaupten, setzte die österreichische Regierung unter ihrem Staatskanzler Klemens von Metternich (1773–1859) alles daran, um mit Hilfe des Deutschen Bundes gegen Oppositionsbewegungen vorzugehen.

Im Ergebnis kamen die vor 1815 entwickelten Reformansätze in den deutschen Staaten bald nach 1815 zum Erliegen. Viele Angehörige des Bürgertums verloren das Vertrauen auf politische und nationale Fortschritte an der Seite eines reformorientierten Staates. Nach der Ermordung des unter patriotischen Studenten besonders verhassten Schriftstellers August von Kotzebue am 23. März 1819 durch den Mannheimer Studenten Karl Ludwig Sand, die als ein frühes Beispiel des politischen Terrorismus gilt, verabschiedete der Deutsche Bundestag als Vertretung der deutschen Einzelstaaten 1819 die Karlsbader Beschlüsse. Durch diese wurden Zeitungen, Zeitschriften und Bücher über 20 Druckbögen, das heißt Publikationen mit mehr als circa 320 Seiten, der Vorzensur unterworfen. Studentische Burschenschaften, nach 1815 zu Zentren der Opposition geworden, wurden verboten und Universitäten einer strengen Überwachung unterworfen.

Zudem etablierte Metternich mit der Mainzer Zentraluntersuchungskommission ein gemeinsames Überwachungsorgan des Deutschen Bundes. Schließlich bestimmte die Wiener Schlussakte von 1820, dass die Repräsentanten der Einzelstaaten zwar die bestehenden Verfassungen anerkannten. Aber zugleich schrieb sie das monarchische Prinzip als Grundprinzip politischer Ordnung fest und setzte damit einer künftigen konstitutionellen Fortentwicklung enge Grenzen.

Der Vormärz in Deutschland: Orte und Räume der Politik

Die Jahrzehnte des „Vormärz“, also der Phase vor Ausbruch der Revolution im März 1848, waren nicht durch einen Rückzug ins Private und eine unpolitische Idylle gekennzeichnet. Der bis in die Gegenwart zitierte Begriff des „Biedermeier“ wies insofern in eine falsche Richtung. Denn unter der Oberfläche der nach 1815 von den Behörden erzwungenen Kontrolle entwickelte sich eine dynamische politische Kultur. Viele Angehörige des Bürgertums hatten seit der Aufklärung und der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Französischen Revolution und Napoleons ihren Anspruch formuliert, aktiv am öffentlichen Leben teilzunehmen und Garantien gegen eine fürstliche Willkürherrschaft zu entwickeln.

Das um 1840 entstandene Gemälde „Lesekabinett“ von Heinrich Lukas Arnold (1815–1854) zeigt eine bürgerliche Leserunde – ein Spiegel der Lesekultur im Vormärz, als sich politische Diskussionen in Salons, Cafés und Wirtshäusern konzentrieren und Zeitungen immer stärker die Meinungsbildung prägen.

In den ehemaligen Rheinbundstaaten Baden, Württemberg und Bayern und den anderen frühen Verfassungsstaaten Sachsen-Weimar und Hessen-Nassau mit ihren geschriebenen Verfassungen und gewählten Landtagen entfaltete sich nach 1820 eine politisch interessierte Öffentlichkeit. Obwohl Preußen nach 1815 keine gesamtstaatliche Verfassung erhielt, wirkten dort die westpreußischen Provinziallandtage als Orte intensiver politischer Diskussionen. Vor allem Universitäten entwickelten sich in allen Einzelstaaten zu wichtigen Kristallisationsorten der Opposition, ob in Göttingen, Heidelberg oder Freiburg. So reichte die Politisierung weit über die Landtage hinaus und prägte auch diejenigen Staaten, in denen es noch keine Verfassung gab.

Dabei ging es nicht allein um lokale und regionale Aspekte, sondern seit den 1820er-Jahren auch um nationale Themen, so etwa in der Forderung, die deutsche Kleinstaaterei zu überwinden, die der Deutsche Bund in den Augen vieler Zeitgenossen eingefroren hatte. Dazu kam die Forderung, bestehende Verfassungen weiter auszubauen oder Verfassungen in den noch nicht konstitutionalisierten Staaten des Deutschen Bundes einzuführen. Der Blick richtete sich aber auch auf die wirtschaftliche Integration und die Schaffung eines deutschen Binnenmarktes, wie ihn der auf Anregung Preußens 1834 gegründete Deutsche Zollverein in den Blick nahm. Die breite Mobilisierungswirkung und die Konzentration auf das Doppelziel von politischer Freiheit und nationaler Einheit erwiesen sich an den vielen politischen Demonstrationen in der Öffentlichkeit, vom Wartburgfest 1817, über das Hambacher Fest 1832 bis zum Protest gegen die Entlassung oppositioneller Professoren, der „Göttinger Sieben“, 1837 und zum Kölner Dombaufest 1842.

Politik erfuhren viele Deutsche seit den 1820er-Jahren vor allem in den zahllosen Assoziationen, Museums- und Lesevereinen, in Casinos sowie in Polen- und Griechenvereinen, die sich zum Ziel gesetzt hatten, den Kampf staatsloser Nationen um ihre eigene unabhängige Staatlichkeit zu unterstützen. Indem sie sich für die Griechen, Polen oder Italiener in ihrem Freiheitskampf gegen das Osmanische Reich, das Zarenreich oder die Habsburgermonarchie einsetzten, formulierten sie zugleich die unerfüllten nationalen Hoffnungen der Deutschen.

Politik fand auch auf den Germanistentagen statt, wo über die deutsche Sprache und Literatur als kulturelles Kennzeichen einer deutschen Nation diskutiert wurde, sowie in den Kirchenversammlungen der „Deutschkatholiken“ und der reformorientierten „Lichtfreunde“. Während in dieser und anderen protestantischen Reformbewegungen intensiv über die Mitbestimmung von Synoden und Gemeinden diskutiert wurde, verstanden sich die „Deutschkatholiken“ als nationale Gegenkirche zu Rom und dem Papsttum, die von vielen Liberalen und Demokraten unterstützt wurde. Diese Bewegungen wirkten als Labore der Politisierung und „Ersatzparlamente“. Allerdings blieben diese Institutionen von Besitz- und Bildungsbürgern dominiert, die vor 1848 nur einen kleinen Teil der deutschen Gesellschaft bildeten. Die Mitgliedschaft in diesen Vereinen und die Aufnahme in diese persönlichen Netzwerke beschränkte sich auf eine kleine bürgerliche Elite, für die Geselligkeit zur Voraussetzung für eine intensive politische Kommunikation wurde.

Gesellschaftliche Dynamik: Bevölkerungsentwicklung und Protestkultur

Während von einem unpolitischen „Biedermeier“ also keine Rede sein konnte, blieb Deutschland in den Jahrzehnten vor 1848 bis auf wenige, stärker industrialisierte Regionen wie Schlesien oder das Rheinland weitgehend agrarisch bestimmt. Dabei traten politische und ökonomische Entwicklung auseinander: Die ehemaligen Rheinbundstaaten in Süddeutschland verfügten über Verfassungen und Landtage, aber die Dominanz der Landwirtschaft und die Zersplitterung des Grundbesitzes führte zu hohen Auswanderungsquoten, weil die wachsende Bevölkerung kein Auskommen fand. Dagegen galt Preußen wirtschaftlich durch die Bauernbefreiung und die Einführung der Gewerbefreiheit als Vorreiter, während die Generation der Reformbeamten nach 1815 zurückgedrängt wurde. Bis zum Ausbruch der Revolution 1848 erhielten weder Preußen noch Österreich als einflussreichste Einzelstaaten des Deutschen Bundes eine Verfassung.

Doch zugleich veränderte sich die deutsche Gesellschaft in den drei Jahrzehnten seit 1815 tiefgreifend. Starke Geburtenüberschüsse lösten ein dynamisches Bevölkerungswachstum aus, das aber noch nicht – wie später in den 1850er-Jahren – von einer gewerblich-industriellen Entwicklung aufgefangen wurde. Die Folgen zeigten sich an einer hohen Arbeitslosigkeit, Massenverelendung und Auswanderung. Der „Pauperismus“ (lat. pauper = dt. arm), die von vielen intensiv diskutierte soziale Frage des Vormärz, kennzeichnete eine krisenhafte Übergangsgesellschaft. Bei unzureichenden Beschäftigungsmöglichkeiten kam es dabei schnell zu sozial explosiven Krisen, insbesondere wenn infolge von Ernteausfällen die Lebensmittelpreise und die Arbeitslosigkeit in den Städten wie auf dem Land stiegen. Die latente Unruhe der von diesen Entwicklungen Betroffenen, ihre Neigung zu spontanen Protesten, die aus der akuten und alltäglichen Not entstanden, nahm vor allem im Laufe der 1840er-Jahre zu. Genau diese Krisenkonstellation ging dem Ausbruch der Revolution 1848 voran, als es 1846/47 zu Missernten und lokalen Hungerunruhen kam. Diese Entwicklung verunsicherte das um gesetzliche Ordnung und gewaltfreie Reform besorgte Bürgertum, das sich von „Pöbel“ und „Proletariern“ umso deutlicher abzugrenzen suchte.

QuellentextDer Pauperismus

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Armut und Hunger in Deutschland weit verbreitet. Das enorme Bevölkerungswachstum nach 1815 konnte durch einen nur sehr geringen Produktivitätsanstieg in der Landwirtschaft und der aufkommenden Industrie noch nicht aufgefangen werden. Wiederkehrende Missernten, Hungersnöte und der Niedergang des Heimgewerbes förderten das Aufkommen von Massenarmut. Die Zeitgenossen beschrieben diese Zustände mit dem Begriff „Pauperismus“, abgeleitet vom lateinischen Begriff pauper (dt.: „arm“).

Über die Ursachen des Pauperismus waren sich die Zeitgenossen nicht einig. Ganze Schriften wurden über die möglichen Gründe der Massenarmut verfasst und bildeten den Zweig der „Pauperismusliteratur“. Konservativ-bürgerliche Publizisten sahen die Schuld bei den Armen selbst: Ein Verfall der Sitten, Faulheit und Spielsucht führten aus bürgerlicher Sicht in die Bedürftigkeit. Andere – wie Friedrich Engels – sahen die Gründe in der aufkommenden Industrialisierung, die die Arbeit mechanisierte und den Arbeitern ihre Beschäftigung und damit ihre Lebensgrundlage entzog. Im Bürgertum war die Angst vor einem sich unkontrolliert ausbreitenden Armenheer sehr ausgeprägt. Die Bürgerlichen fürchteten die Verbreitung revolutionärer Ideen unter den Mittellosen, die somit zu einem Träger eines gesellschaftlichen Umsturzes werden könnten.

Die größte Not herrschte in den Gebieten, in denen der Industrialisierungsprozess noch nicht eingesetzt hatte. Südwestdeutschland, Teile Nordwestdeutschlands, Hessen, Preußen und Schlesien waren besonders betroffen und Zentren des Pauperismus. In den zumeist ländlichen Gebieten arbeitete die Bevölkerung nicht in der Fabrik, sondern als Tagelöhner in der Landwirtschaft oder in Heimarbeit. Die Arbeitsbedingungen waren denkbar schlecht: Die Heimarbeiter, auch Frauen und Kinder, produzierten in feuchten, stickigen Kellern mit schlechter Lichtversorgung und unter schlimmsten Hygienebedingungen. Beispielhaft für den Verfall des Heimgewerbes stand der Aufstand der schlesischen Weber, der am 5. Juni 1844 blutig niedergeschlagen wurde.

Missernten und die daraus resultierenden Hungersnöte konnten die Situation der Armen noch erheblich verschärfen. Ein Mangel an Grundnahrungsmitteln trieb deren Preis in die Höhe. Tagelöhner mussten mehr arbeiten, um sich zu ernähren, wodurch es zu einem Mehrangebot an Arbeit kam, das wiederum zu einem Verfall der Löhne führte. Viele waren so trotz schwerster körperlicher Arbeit nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen. Auch Krankheit, Unfälle und das Alter konnten die Arbeitsfähigkeit gefährden und die Betroffenen so in die Bedürftigkeit stürzen. In England sprach man von den „labouring poor“, den arbeitenden Armen. Einen Höhepunkt der Armut bildeten die Krisenjahre 1846/1847.

Aus Verzweiflung flüchteten sich viele Arme in die „Notkriminalität“. Durch den Diebstahl von Feldfrüchten und Holz, Wilderei und Schmuggel versuchten die Bedürftigen ihre Situation zu verbessern. Um sich zu betäuben und die Not einen Augenblick zu vergessen, griff die Unterschicht zum Alkohol. In den Zeitungen fanden sich Berichte über die sich ausbreitende „Branntweinwuth“, zur Bekämpfung der Armut forderten die Publizisten eine Beschränkung des Branntweinbrennens. Auch die Zahl der Bettler und sogenannten Landstreicher stieg vor 1850 rasant an. […]

Die deutschen Staaten versuchten der Armut mit Bettlerverordnungen oder Eherechtsbeschränkungen, die das Bevölkerungswachstum kontrollieren sollten, entgegenzuwirken. Vermeintlich arbeitsscheue Individuen sollten per Gesetz zur Arbeitsaufnahme gezwungen werden. Zudem wurde auch die Abwanderung in außerdeutsche Gebiete nach anfänglichem Zögern aktiv unterstützt.

Getrieben durch Armut und Hunger suchten viele Menschen ihr Glück in den Städten, um dort von der voranschreitenden Industrialisierung zu profitieren. Die Städte verzeichneten ein enormes Wachstum: Hatte Berlin 1816 noch 200.000 Einwohner, waren es 1849 bereits 450.000. Die Wohnverhältnisse in den Armenvierteln waren dramatisch: Große, kinderreiche Familien lebten zusammen auf engstem Raum. Schmutz und Gestank waren allgegenwärtig. Die mangelnde Hygiene – viele besaßen keine Wechselkleidung – begünstigte die Ausbreitung von Seuchen und Krankheiten wie Ruhr und Typhus.

Die Städte waren mit der wachsenden Armut überfordert. Während der Hungersnot im Krisenwinter von 1816/1817 lebten in der Stadt Köln 18.000 Almosenempfänger bei etwa 49.000 Einwohnern. Ein Drittel der Bevölkerung war also auf Zuwendungen aus der Armenkasse angewiesen. In den 1840er-Jahren war die Einwohnerschaft vieler deutscher Regionen nicht in der Lage, durch eigene Arbeit für ihren Lebensunterhalt aufzukommen.

Viele suchten ihr Heil außerhalb der deutschen Grenzen. In den 1840er Jahren, dem Höhepunkt der Pauperismuskrise, hatten bereits 418.000 Menschen das Land verlassen. Allein im Jahr 1847 zählte man 80.000 Auswanderer.

Christopher Jütte, „Der Pauperismus“, LeMO und Deutsches Historisches Museum (DHM) vom 30. März 2015. Online: Externer Link: www.dhm.de/lemo/kapitel/vormaerz-und-revolution/alltagsleben/pauperismus

Vernünftige Freiheit, Reform und konstitutionelle Monarchie: Der Liberalismus vor 1848

In diesem politischen und sozialen Kontext entwickelte sich der frühe Liberalismus als wichtigste Bewegung des politisch sensibilisierten Bürgertums. Als Ausdruck des historischen Fortschritts und mit großem Selbstbewusstsein definierte der Hallenser Student Rudolf Haym (1821–1901) den neuen Begriff „Liberalismus“ Mitte der 1830er-Jahre: „Wir eben sind die Zeit!“ Der Liberalismus, so eine zeitgenössische Auffassung der 1830er-Jahre, schreite „in demselben Maße fort, wie die Zeit selbst, oder ist in dem Maße gehemmt, wie die Vergangenheit noch in die Gegenwart herüber dauert.“

Die Positionen deutscher Liberaler im frühen 19. Jahrhundert verrieten zunächst das Erbe der Aufklärung. So bildeten Immanuel Kant und seine Vernunftethik einen entscheidenden Bezugspunkt. Aber auch die Freiheitstraditionen der Germanen wurden immer wieder zitiert. Nach dem Wiener Kongress und den Karlsbader Beschlüssen von 1819, mit denen die Verwirklichung eines freiheitlichen deutschen Nationalstaates in weite Ferne rückte, wurden die ehemaligen Rheinbundstaaten Baden, Württemberg oder Bayern zu wichtigen regionalen Zentren. Hier entwickelten Liberale in Landtagen und Kommunen, aber auch in Universitäten, Vereinen und Assoziationen ein sichtbares politisches Profil.

Konkret setzten sie darauf, die fürstliche Herrschaft durch geschriebene Verfassungen und gewählte Versammlungen stärker zu kontrollieren und sie rechenschaftspflichtig zu machen. Adlige und feudale Relikte sollten abgeschafft werden, um bürgerliche Rechtsgleichheit durchzusetzen. Während Bildung nur in ständischen Wahlrechten wie in Bayern oder Nassau, und dort auch eher indirekt durch die Zugehörigkeit zur Geistlichkeit bzw. zu Schulen, berücksichtigt wurde, orientierte sich das Wahlrecht zumeist an Besitz und Steuerleistung als Kriterien der politischen Teilhabe. Mit dem Leitbild der konstitutionellen Monarchie setzten die Liberalen auf Erneuerungen an der Seite eines in seiner Beamtenschaft fortschrittlichen Staates. Im Ganzen ging es den Liberalen um einen Fortschritt im Namen der Vernunft. Das war ein entscheidendes Erbe der Reformstaaten und seiner politischen Protagonisten, ob Karl August von Hardenberg (1750–1822) als preußischer Staatskanzler, Maximilian von Montgelas (1759–1838) in Bayern oder Sigis­mund von Reitzenstein (1766–1847) in Baden.

Diese Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit einem reformorientierten Staat sollte in den Augen der Liberalen eine Wiederholung der blutigen Exzesse der Französischen Revolution in Deutschland verhindern. Allenfalls die gemäßigte Entwicklung der Revolution bis zur konstitutionellen Monarchie 1791 galt als positiver Bezugspunkt, jedoch stets mit dem Hinweis auf die Gefahr der Radikalisierung ab 1792. Die „rote Revolution“ als Ausdruck für enthemmte Gewalt, soziale Anarchie, Terrorherrschaft und den Übergang der Revolution in die Kriege der Revolutionäre und später Napoleons blieb für die deutschen Liberalen ein Schreckbild.

Im Kontrast zu diesen politischen Positionen blieb das gesellschaftliche Leitbild der Liberalen vor 1848 weitgehend traditional. Sie strebten keine bürgerliche Klassengesellschaft, sondern eine möglichst gleichförmige Staatsbürgergesellschaft aus gebildeten und ökonomisch unabhängigen Männern an, in die Angehörige der klein- und unterbürgerlichen Schichten erst durch den langfristigen Erwerb von Bildung und wirtschaftlicher Selbständigkeit hineinwachsen sollten. Entsprechend setzten sie nicht auf demokratische Wahlen, sondern auf eine von der Steuerleistung abhängige Teilhabe an der Politik. Politische und gesellschaftliche Emanzipation war also in bewusster Abwehr einer Revolution evolutionär, reformorientiert und langfristig angelegt. Frauen kam in diesem Konzept der Staatsbürgergesellschaft zunächst keine aktive Rolle zu.

Im Vordergrund der liberalen Agenda stand die Fortentwicklung konstitutioneller Prinzipien. ­Dabei strebten die meisten Liberalen noch keinen modernen Parlamentarismus an, bei dem eine Regierung aus einer Parlamentsmehrheit hervorging und von ihr abhängig blieb, wie sich dies in Großbritannien abzeichnete. Bestimmend blieb für viele deutsche Liberale lange ein Dualismus, also ein Gegenüber von Kammer und Regierung, in dem die Kammer die Interessen des Staatsbürgertums artikulieren und die Kontrolle der Regierung sicherstellen sollte. Allerdings erwies sich dieses Modell in den 1840er-Jahren als entwicklungsfähig in Richtung eines modernen parlamentarischen Mechanismus, so zum Beispiel bei dem süddeutschen liberalen Staatsrechtler Robert von Mohl (1799–1875). Tatsächlich setzten die Abgeordneten der Frankfurter National­versammlung 1848 die parlamentarische Regierungsweise durch. Die Zielrichtung der meisten Liberalen vor 1848 blieb eine auf Vernunft gründende allmähliche Reform und zeitgemäße Erneuerung politischer Institutionen wie der Parlamente, Gerichte und Verwaltungen sowie die freie öffentliche Meinung durch Presse- und Versammlungsfreiheit. Dass sie dabei wo immer möglich auf gezielte Zusammenarbeit mit den Regierungen setzten, hatte auch damit zu tun, dass zahlreiche bürgerliche Liberale selbst Beamte waren, zum Beispiel als Hochschulprofessoren.

Im Gegensatz zu einer modernen Marktgesellschaft mit der Ausdifferenzierung von Produktion und Gewerbe und der Ausbildung überregionaler Märkte im Zeichen von Angebot und Nachfrage, wie sie sich in Großbritannien abzuzeichnen begann, blieb der Horizont der meisten deutschen Liberalen vor der Jahrhundertmitte vor allem lokal und vorindustriell – mit wenigen Ausnahmen, etwa im Wirtschaftsbürgertum des Rheinlandes. Das entsprach einer Gesellschaft, in der trotz des Bevölkerungswachstums noch vieles auf Beharrung deutete, insbesondere im deutschen Südwesten mit seinen weiterhin mächtigen Standesherren und zahlreichen feudalen Relikten. Doch für die gesellschaftlichen Probleme des „Pauperismus“ fand der konstitutionelle Liberalismus in seiner Konzentration auf Verfassung, Parlament und einen künftigen deutschen Nationalstaat zunächst keine Antwort. Erst allmählich wandelte sich angesichts der sozialen Krisen und des Versagens der staatlichen Behörden in den 1840er-Jahren, die der Aufstand der Schlesischen Weber 1844 exemplarisch demonstrierte, der Blick vieler Liberaler auf die sozialen Probleme ihrer Gegenwart.

QuellentextDer schlesische Weberaufstand 1844

[…] Da in der preußischen Provinz Schlesien die Bevölkerung von 1815 bis 1844 von rund 1,9 auf knapp 3 Millionen Menschen angewachsen war, hatte sich ein Überangebot an Arbeitskräften herausgebildet. Sinkendes Lohnniveau und steigende Lebensmittelpreise aufgrund von Missernten ließen nicht nur Elend und Verzweifelung gedeihen, sondern auch den Zorn der Weber auf Fabrikanten und Großhändler, die sie für die soziale Not verantwortlich machten. Vom 4. bis 6. Juni 1844 kam es in Peterswaldau und Langenbielau zu einer Revolte von Baumwollwebern, die im Vergleich zu den sehr viel verarmteren Leinenwebern zumeist noch besser gestellt waren: Zu Protest und Aufruhr neigt nicht, wer schon aller Hoffnung beraubt ganz unten ist, sondern wer seine Existenz bedroht sieht und Angst vor weiterem sozialen Abstieg hat.

Den weit über die Grenzen Preußens Aufsehen erregenden Weberaufstand ließ die Regierung mit elf Getöteten unverhältnismäßig blutig niederschlagen. Den politisch Verantwortlichen wie dem aufgeschreckten Bürgertum hatten die schlesischen Weber erstmals in Deutschland das Potential eines gewalttätigen Sozialprotestes vor Augen geführt. Das Medienecho war enorm, im ganzen Deutschen Bund wurde der unorganisierte Aufstand kontrovers diskutiert und verstärkt auf die Not der Weber und das Problem des Pauperismus hingewiesen. […]

Arnulf Scriba, „Der schlesische Weberaufstand 1844“, LeMO vom 10. Oktober 2014. Online: Externer Link: www.dhm.de/lemo/kapitel/vormaerz-und-revolution/der-deutsche-bund/weberaufstand-1844

Vielfalt der Opposition: Politisierung und Polarisierung seit 1830

Für den deutschen Vormärz und die Ausdifferenzierung der politischen Oppositionsbewegungen markierte die französische Julirevolution 1830 eine entscheidende Schwelle. Unter dem Eindruck der Ereignisse, die in Frankreich in das „Bürgerkönigtum“ Louis-Philippes mündeten, kam es im Deutschen Bund an vielen Orten zu Volksbewegungen und teils gewaltsamen Protesten, wie dem Sturm auf die Frankfurter Hauptwache im April 1833. Sie lösten eine zweite Welle von Verfassungsgebungen in Sachsen (1831), Kurhessen (1831) und Hannover (1833) aus. Der von Philipp Jakob Siebenpfeiffer und Johann Georg August Wirth begründete „Deutsche Preß- und Vaterlandsverein“ (Preß=Presse) organisierte im Mai 1832 auf dem Hambacher Berg nahe Neustadt eine Versammlung, zu der zwischen 20 000 und 30 000 Menschen zusammenkamen. Die Massenmobilisierung des Hambacher Fests, der größten politischen Demonstration seit dem Ende des Bauernkrieges in Deutschland, hielt aber nur kurz an. Denn der Deutsche Bund drängte unter Metternichs Druck darauf, die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit massiv einzuschränken und die Anführer zu verfolgen, die in die Schweiz oder nach Frankreich flüchteten.

Doch seit Beginn der 1830er-Jahre zeichneten sich auch die Unterschiede innerhalb der politischen Opposition ab. Innerhalb der Volksbewegung galten Wirth und Siebenpfeiffer als eher linke Außen­seiter und „Radicale“ – diesen Begriff verwendeten vor allem die konstitutionellen Liberalen ganz bewusst, um sich von den in ihren Augen sozialrevolutionären Forderungen dieser Oppositionsbewegung abzugrenzen. Beide repräsentierten den Übergang zur demokratischen Linken, die sich zum Nationalstaat, zur Volkssouveränität mit republikanischen Untertönen und zugleich zur Solidarität zwischen allen von Monarchen unterdrückten Völkern bekannte. Doch in ihren Forderungen nach sozialen Rechten und ihrer Berufung auf die Volkssouveränität erkannten viele gemäßigte Liberale die Gefahr einer republikanischen und „roten“ Revolution. Viele sogenannte „Kammerliberale“ aus den Landtagen in Baden oder Württemberg grenzten sich von der außerparlamentarischen Volksbewegung ab und sahen daher zum Teil auch das Hambacher Fest kritisch. Der Druck der ungebildeten Massen könne, so ihre Befürchtung, den maßvollen Reformkurs und die Zusammenarbeit mit den Regierungen gefährden.

Eine feiernde Menschenmenge zieht am 27. Mai 1832 zur Ruine des Hambacher Schlosses. Die Fahnen in den Farben der Oppositionsbewegung Schwarz-Rot-Gold verweisen auf das Ziel der nationalen Einheit als Bedingung politischer Freiheit.

Doch die Unterdrückung dieser politischen Impulse durch die Behörden zu Beginn der 1830er-Jahre konnte nicht verhindern, dass sich die politische Landschaft in Deutschland seit dem Ende der 1830er-Jahre weiter veränderte. Die bislang noch starke Regionalisierung vieler Oppositioneller in den Staaten des Deutschen Bundes trat nun zurück, und ihre Mitglieder vernetzten sich zunehmend untereinander durch gemeinsame Publikationen und Presseartikel, durch ­individuelle Kommunikationsnetzwerke über Briefe, Reisen und informelle Treffen. Diese Verdichtung erreichte 1846/47 ihren Höhepunkt, als enge Verbindungen zwischen Liberalen aus dem preußischen Rheinland, Ostpreußen mit Königsberg als Zentrum, und aus Süd- und besonders Südwestdeutschland entstanden. Eine wichtige Rolle spielten dabei verkürzte Kommunikationswege durch den Eisenbahn­bau. Er erhöhte zugleich die Nachfrage nach Investi­tionskapital in der Industrie und zwang viele wirtschaftsbürgerliche Unternehmer dazu, sich überregional zu vernetzen. Dazu kam ein Generationswechsel innerhalb der liberalen Elite, in der neben bildungsbürgerlichen Gruppen nun auch liberale Vertreter des Wirtschaftsbürgertums ein immer größeres Gewicht erhielten. Eine unübersehbare Dynamik ging schließlich von der Entwicklung in Preußen aus. Hier berief König Friedrich Wilhelm IV. im Frühjahr 1847 den Vereinigten Landtag als Vollversammlung der Provinzial­stände aller acht preußischen Provinzen ein. Den Hintergrund dazu bildete der steigende Finanz­bedarf des Staates, weil der König von der Versammlung die Bewilligung einer Anleihe von 25 Millionen Talern erwartete, um den Bau der Ostbahn von Berlin nach Königsberg zu finanzieren. Als die Abgeordneten betonten, sie handelten als Repräsentanten des preußischen Volkes und nicht mehr als Vertreter der Stände und regelmäßige Einberufungen forderten, eskalierte der Konflikt mit dem Monarchen. Nachdem der Vereinigte Landtag die Mittel für den Eisenbahnbau ablehnte, löste Friedrich Wilhelm IV. ihn im Juni 1847 auf. Diese Konflikterfahrung wirkte bis ins Frühjahr 1848 fort, weil sie exemplarisch die Sackgasse im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft am Ende der 1840er-Jahre beleuchtete.

QuellentextFriedrich Wilhelm IV. (1795–1861, preußischer König 1840–1861)

Als junger Mann künstlerisch und wissenschaftlich hoch begabt, weckte Friedrich Wilhelm nach seinem Thronantritt 1840 in der deutschen Öffentlichkeit zunächst große Erwartungen. In seiner Zeit als preußischer Kronprinz hatte er bereits als Hoffnungsträger der bürgerlich-liberalen Nationalbewegung gegolten. Zunächst schien er diese Hoffnungen auch zu bestätigen. So ließ er die Pressezensur lockern, beendete die sogenannten Demagogenverfolgungen, also die Unterdrückung der liberalen und nationalen Opposition im Deutschen Bund nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819, die sich vor allem gegen Studenten, Professoren und Intellektuelle gerichtet hatten, und engagierte sich auf dem Kölner Dombaufest 1842 für eine stärkere nationalpolitische Rolle Preußens auf dem Weg zu einem deutschen Nationalstaat. Hinzu kam die führende Rolle Preußens bei der wirtschaftlichen Integration Deutschlands seit der Schaffung des 1834 gegründeten Zollvereins. Schließlich weckte auch die Einberufung des Vereinigten Landtages in Preußen 1847 durch den König große Erwartungen auf eine Konstitutionalisierung des Landes. Zwar setzte Friedrich Wilhelm mit diesem Schritt auf wirtschaftlichen Fortschritt durch den Eisenbahnbau, für den er eine Finanzierung suchte. Aber als die Mitglieder des Vereinigten Landtages regelmäßige Wahlen und damit ein echtes Parlament forderten, löste Friedrich Wilhelm die Versammlung lieber auf, als sich auf Kompromisse mit der liberalen Bewegung einzulassen.

Dennoch setzten viele Liberale zu Beginn der Revolution 1848 auf den preußischen König als eine Führungsfigur des monarchischen Deutschlands auf dem Weg zu einem deutschen Nationalstaat. Dafür sprach, dass er unter dem Eindruck der Pariser Februarrevolution liberale Forderungen nach einem gesamtstaatlichen Parlament und einer deutschen Verfassung unterstützte und sich demonstrativ zur deutschen Einheit bekannte. Nach den Berliner Barrikadenkämpfen und der Ehrung der Märzgefallenen legte er bei einem öffentlichen Umritt in der Hauptstadt die schwarz-rot-goldenen Farben als Symbol der deutschen Einheit an und nährte mit seinem Bekenntnis „Preußen geht fortan in Deutschland auf“ die Hoffnung auf eine starke nationalpolitische Rolle Preußens. Doch stand dahinter ein grundlegendes Missverständnis. Denn Friedrich Wilhelm hielt im Kern an einem monarchischen Selbstbewusstsein fest, das sich an mittelalterlichen Herrschaftsvorstellungen orientierte. Dazu gehörte ein ungebrochener Glaube an die von Gott verliehene Herrschaft des Monarchen, an den christlich-organischen Ständestaat sowie eine direkte Verbindung des Monarchen zum Volk. Die christliche Verpflichtung des Königs brauchte demnach keine anderen Institutionen wie Verfassung und Parlament.

Vor dem Hintergrund der Revolutionsbewegung in ­Berlin gewann am preußischen Hof schon bald nach dem Frühjahr 1848 eine gegenrevolutionäre Gruppe an Einfluss. Sie verstand sich als Gegengewicht zum preußischen Märzministerium, indem sie offen für eine Gegenrevolution auf der Grundlage einer militärischen Intervention eintrat. Dieser Position folgte Friedrich Wilhelm, als er sich ab Herbst 1848 für den faktischen Staatsstreich, die Verlegung und schließlich die Auflösung der Preußischen Nationalversammlung entschied. Im April 1849 lehnte Friedrich Wilhelm die ihm von einer Deputation der Frankfurter Nationalversammlung angebotene deutsche Kaiserkrone ab. Der Auflösung der preußischen Nationalversammlung folgte schließlich die zwangsweise Verkündung einer preußischen Verfassung. Obwohl sie den Liberalen entgegenkam, war sie vor allem Ausdruck des monarchischen Prinzips und damit der übergeordneten Machtposition des Königs.

So verkörperte Friedrich Wilhelm eine widersprüchliche politische Praxis. Einerseits entsandte er das preußische Militär zur Niederschlagung der Reichsverfassungskampagne und des letzten badisch-pfälzischen Aufstands und verantwortete maßgeblich die reaktionäre Politik Preußens im Deutschen Bund nach 1850. Andererseits ließ er die preußische Regierung im Herbst 1850 noch einmal das Projekt eines kleindeutschen, preußisch geführten Bundes verfolgen, bevor er unter dem Druck Österreichs und Russlands das Unionsprojekt seines Vertrauten Joseph Maria von Radowitz (1797–1853) beendete. Bis 1858 vertrat Friedrich Wilhelm dann einen reaktionären Kurs, bevor eine schwere Erkrankung die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch seinen Bruder Wilhelm I. (1797–1888) erzwang. Dieser übernahm beim Tod seines Bruders 1861 auch den Thron.

Die Gründung der „Deutschen Zeitung“ im Juli 1847 in Heidelberg durch führende Liberale aus Südwestdeutschland war vor diesem Hintergrund ein wegweisender Schritt. Stärker noch als das von Carl von Rotteck und Carl-Theodor Welcker herausgegebene und zwischen 1834 und 1843 in 15 Bänden erschienene „Staatslexikon“, das als programmatische Grundschrift des südwestdeutschen Liberalismus galt, war die Gründung der „Deutschen Zeitung“ entscheidend für die politische Positionierung der deutschen Liberalen vor Ausbruch der Revolution. Der Name der Zeitung sollte die Einigung Deutschlands vorwegnehmen, indem die Autoren sich als Sprachrohr des ganzen liberalen Deutschlands verstanden, und tatsächlich fanden sich unter den Abgeordneten der Nationalversammlung 24 Personen, die für die Deutsche Zeitung schrieben. Der regionale konstitutionelle Liberalismus sollte nun konsequent über die Einzelstaaten hinauswachsen. Zugleich trat in den späten 1840er-Jahren die Trennung zwischen konstitutionellen Liberalen und Demokraten, die sich bereits auf dem Hambacher Fest angedeutet hatte, noch deutlicher hervor. So wurde die „Deutsche Zeitung“ von den konstitutionellen Liberalen getragen, die sich klar vom Programm der Demokraten distanzierten. Die Spaltung der vormärzlichen Oppositionslandschaft in einen liberal-gemäßigten und einen demokratisch-radikalen Flügel wurde kurz vor dem Ausbruch der Märzrevolution in zwei getrennten Versammlungen im badischen Offenburg am 12. September und im südhessischen Heppenheim am 10. Oktober 1847 unübersehbar. Beide Lager trennten sich nun auch organisatorisch voneinander.

Die 800 bis 900 Teilnehmenden der Offenburger Volksversammlung im und vor dem Gasthaus „Salmen“ verabschiedeten die 13 „Forderungen des Volkes in Baden“, die ab jetzt die programmatische Basis der demokratischen Bewegung bildeten. Neben der Rücknahme der Karlsbader Beschlüsse forderten die Teilnehmer Presse-, Lehr-, Glaubens- und Gewissensfreiheit, aber auch die Bewaffnung des Volkes und eine Volksvertretung für Deutschland. Wegweisend waren vor allem die sozialen Ziele, zu denen eine gerechte Besteuerung durch eine progressive Einkommenssteuer, ein freier Bildungszugang, der Ausgleich zwischen Arbeit und Kapital und der Schutz der Arbeit gehörten.

(© Eigene Darstellung nach LeMO und Encyclopædia Britannica)

Dagegen fehlten diese sozialen Akzente in dem von dem badischen Journalisten und Politiker Karl Mathy (1807–1868) in Heppenheim festgehaltenen Programm der Liberalen, das zur Grundlage ihrer Forderungen im März 1848 wurde: Pressefreiheit, Reform der Gerichtsverfahren und Unabhängigkeit der Justiz von der Verwaltung, Beseitigung feudal-ständischer Relikte, Abschluss der Bauernbefreiung, größere Rechte für die Gemeinden, Volkswehr, vor allem verfassungsmäßige Mittel zur Durchsetzung der Interessen der Bürgergesellschaft, was auf eine primär parlamentarische Vertretung im Rahmen einer geschriebenen Verfassung für ganz Deutschland hinauslief. Als möglichen Kern einer institutionellen Reform des Deutschen Bundes verwies das Programm auf den Zollverein, der vor allem von Vertretern des Wirtschaftsbürgertums als wichtiger Schritt zur ökonomischen Integration und damit auch als nationalpolitischer Fortschritt unter preußischer Regie aufgefasst wurde. Hier zeigte sich eine entscheidende Kontinuität zwischen den Erfahrungen des Vormärz und dem Beginn der Revolution. Dieses Programm setzte auf Kooperation mit den Regierungen, um eine politische oder gar soziale Revolution und eine Republik zu verhindern.

Am Ende der 1840er-Jahre schien das überkommene Reformideal der Liberalen angesichts des krisenhaften sozialen Wandels, der daraus resultierenden sozialpolitischen Herausforderungen des „Pauperismus“ und des insgesamt erlahmenden Reformimpulses des Staates, wie er zumal in der Bürokratiekritik erkennbar wurde, sowie durch die Enttäuschung steigender nationalpolitischer Erwartungen in eine Krise zu geraten.

Die Hungerunruhen von 1847 wie die Auflösung des Vereinigten Landtags in Preußen im Juni 1847, die Friedrich Wilhelm IV. als Vollversammlung der Provinzialstände aller preußischen Provinzen einberufen hatte, schienen wie ein Alarmsignal für die Legitimationskrise des Staates und den sich zuspitzenden Handlungsdruck. Dennoch hielten viele Liberale zu Beginn der dramatischen Ereignisse im Frühjahr 1848 am Reformideal als Alternative zur Revolution fest und agierten allenfalls als „Revolutionäre wider Willen“. Exemplarisch sollte Friedrich Daniel Basser­mann (1811–1855), vor 1848 einer der populärsten libe­ralen Angeordneten im badischen Landtag und maßgeblich am Weg zum ersten deutschen Parlament beteiligt, 1848 in der Nationalversammlung bekennen: „Wir haben keine tabula rasa in Deutschland, wir haben gegebene Verhältnisse, und es gilt zu reformieren, und nicht zu revolutionieren“.

Fussnoten

Jörn Leonhard ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. 2024 erhielt er für seine Forschungen zur politischen Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts im internationalen Vergleich den Gottfried-Wilhelm-Leibniz Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Er ist Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Leopoldina - Nationale Akademie der Wissenschaften.

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