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Familie: Konzeption und Realität

Johannes Huinink

/ 23 Minuten zu lesen

Eine Familie mit zwei Kindern läuft auf einem Feldweg in Gaiberg bei Heidelberg. (© AP)

Einleitung

In den letzten Jahren sind Familie und Elternschaft in Deutschland zu einem Top-Thema der öffentlichen Diskussion geworden. Die Zunahme nichtehelicher Lebensformen und die niedrigen Geburtenzahlen haben daran einen gewichtigen Anteil. Es wird aber auch die Frage gestellt, ob Familien heute noch ihren Aufgaben gerecht werden können: nämlich die Kinder zu versorgen und zu erziehen oder sich innerhalb der Generationen gegenseitig, solidarisch im Lebensalltag zu unterstützen. Politik und Bevölkerung ist bewusst geworden, dass sich die Familie sowie ihre Bedeutung für die Lebensplanung der Menschen in den letzten Jahrzehnten nachhaltig verändert haben. Alle Bereiche unserer Gesellschaft sind davon betroffen, und daher muss angemessen darauf reagiert werden.

Im folgenden Kapitel werden zunächst Grundlagen und Ausgangsfragen geklärt, die für diese Diskussion wichtig sind: Was macht eine Familie aus, und in welchen Erscheinungsformen tritt sie heute auf? Wie haben sich die gesellschaftliche Bedeutung sowie die Formen der Familie und das alltägliche Familienleben in Europa über die Jahrhunderte hin verändert? Welche Aufgaben kommen der Familie noch zu, und welche Leistungen erbringt sie derzeit für die Menschen?

Familienbegriff und Familienformen

Unter einer Familie stellen sich die meisten Menschen nach wie vor die dauerhafte Lebensgemeinschaft einer Mutter und eines Vaters mit ihren Kindern vor. Dieses Modell hatten auch die Verfassungsväter und -mütter vor Augen, als sie im Grundgesetzartikel 6 Ehe und Familie unter den "besonderen Schutze der staatlichen Ordnung" stellten. Tatsächlich lebten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2007 in etwa drei Viertel aller Familien die minderjährigen Kinder bei ihren verheirateten und überwiegend auch leiblichen Eltern. Doch in immerhin knapp einem Fünftel wohnten die Kinder mit nur einem Elternteil zusammen. Auch verzichten Eltern immer öfter aufs Heiraten: Knapp 60 Prozent aller Geburten des Jahres 2007 in Ostdeutschland waren nichtehelich, in Westdeutschland betrug dieser Anteil etwa 24 Prozent. In 17,4 Prozent der Familien in Ostdeutschland und gut fünf Prozent der westdeutschen lebten 2007 die Eltern unverheiratet zusammen. In einer noch kleinen, aber zunehmenden Zahlgründen heute auch gleichgeschlechtliche Partnerinnen oder Partner eine Familie. Diesen Angaben entspricht, dass im Jahr 2005 etwa 53 Prozent der 35- bis 44-jährigen Frauen und Männer verheiratet mit Kindern zusammenlebten. Zwischen sechs und sieben Prozent in dieser Altersgruppe waren alleinerziehend.

Familienformen mit mindestens einem minderjährigen Kind, das im elterlichen Haushalt aufwächst

Die oben erwähnte "konventionelle" Vorstellung von einer Familie ist also immer noch in vielen Fällen zutreffend. Doch wird sie der Vielfalt an unterschiedlichen Familienkonstellationen in der heutigen Zeit nicht mehr vollständig gerecht. In unserer Gesellschaft steigt seit vier Jahrzehnten, seit dem "golden age of marriage" der 1950er und 1960er Jahre, als noch viele Ehen herkömmlichen Musters geschlossen wurden, der Anteil "nicht-konventioneller" familiärer Verhältnisse, die sehr komplex sein können.

QuellentextLeben in der XXL-Familie

[...] 323 000 Familien mit durchschnittlich sechs bis sieben Mitgliedern zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen macht rund zwei Millionen Menschen, die ungerührt von Konjunkturtiefs und Geburtenschwund in Großfamilien leben. Zwei Millionen, das entspricht ungefähr der Einwohnerzahl von Slowenien. So gesehen bilden die Kinderreichen hierzulande einen Großfamilien-Ministaat im schrumpfenden Kleinfamilienparadies.
[...] "Meine Hobbys sind meine Kinder und mit meiner Freundin zu quatschen", so stellt sich Anne K., die Mutter von acht Jungen und vier Mädchen, auf der Internet-Homepage für XXL-Familien vor. Der Gatte kocht bei Ikea, fährt gern Fahrrad und angelt. Von seinen rund 1500 Euro netto und dem Kindergeld, das noch mal ungefähr genauso viel ausmacht, zahlen sie die Miete für das Reihenhaus in Salzgitter, Strom, die Versicherung für zwei Autos, Handys, Computer, MP3-Player, Spielkonsolen.
Für Frühstück, Schulbrote und die Stullen am Abend gehen rund drei Kilo Brot pro Tag drauf, für eine Mahlzeit fünf Pfund Nudeln. 60 Liter Milch trinken die K.s pro Woche. Zu Ostern gibt es zwölf Schokokörbchen. [...]
Die K.s haben ihre Lage trotz bescheidener Mittel im Griff. Anoraks und Schneeanzüge wandern von den großen zu den jüngeren Geschwistern. Einmal im Jahr mietet die gebürtige Flensburgerin für ihre ganze Mannschaft ein Ferienhaus an der Küste: "Das Meer ist unsere Leidenschaft."
Entscheidend für das familiäre Wohlbefinden ist die Stimmung in dem Haus mit den grünen und orangefarbenen Schmetterlingen an der Wand. Ob Junge oder Mädchen: Wer reinkommt, holt sich bei Muttern erst mal eine Kuscheleinheit ab. "Na klar wird bei uns gestritten", sagt Aylysa, 13, "aber es ist toll, dass man immer jemanden zum Spielen und Reden hat." Dem eher stillen Angelo, 10, geht die Dauerbelagerung manchmal ganz schön auf den Geist. Zum Glück hat aber jeder, bis auf die beiden Kleinsten, ein Zimmer für sich allein. "Die Kids sind freundlich, hilfsbereit und sozial viel reifer als andere", sagt Silke Giese, bei der die jüngsten Abkömmlinge des Clans in den Kindergarten gehen, "und die Frau", sie verdreht bewundernd die Augen, "ist einfach unglaublich relaxed." [...]
Im Umgang mit Klischees und Vorurteilen sind Großfamilien einiges gewöhnt. Wer in Deutschland vier und mehr Kinder im Schlepptau hat, wird bestenfalls herablassend, oft auch verächtlich angeschaut, nach dem Motto, heute muss man doch nicht mehr schwanger werden. [...]
Es scheint leichter zu sein, sich für mehr Kinder zu entscheiden, wenn schon mal welche da sind. [...] Dummerweise jedoch muss die Frage, ob Männer und Frauen überhaupt Nachwuchs in die Welt setzen wollen, entschieden werden, bevor Paare erfahren haben, dass Kinder aufzuziehen wesentlich mehr Spaß macht, als keine zu bekommen - ein Umstand, der auf die Bevölkerungstatistik ebenso drückt wie auf die Sinnstiftung jedes Einzelnen. [...]

Bettina Musall, "Ein Haus voller Kinder", in: SPIEGEL special, Nr. 4 vom 7. August 2007, S. 22ff.

Kernfamilie

Um diesem Wandel gerecht zu werden, passte das Statistische Bundesamt im Jahr 2005 seinen Familienbegriff den veränderten Verhältnissen an. Als Familien werden im neuen Lebensformenkonzept des Mikrozensus so genannte Eltern-Kind-Gemeinschaften erfasst: Damit sind Ehepaare, nichteheliche und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften oder alleinerziehende Mütter und Väter gemeint, die mit ledigen Kindern in einem Haushalt zusammenleben. Die Kinder können leibliche Kinder, Stief-, Pflege- oder Adoptivkinder von beiden oder von einem der beiden Elternteile sein. Dieses Familienkonzept entspricht dem Modell der Kernfamilie. Gehören einem Haushalt nicht beide Eltern an, wird von einer Ein-Eltern-Familie gesprochen. Sie kann sich ergeben haben, weil das Kind von Anfang an bei einem partnerlosen Elternteil lebte oder weil sich die Eltern nach einiger Zeit trennten und unter Umständen erst später eine neue Beziehung eingegangen sind.

Verfahren der künstlichen Befruchtung und die Verfügbarkeit von Samenbanken erweitern die Möglichkeiten, eine Elternschaft einzugehen. Sie helfen nicht nur unfruchtbaren Ehepaaren, sich den Kinderwunsch zu erfüllen, sondern ermöglichen Familienkonstellationen, die es zuvor nicht gegeben hatte. Allerdings verlangen die Bemühungen der so genannten Reproduktionsmedizin, eine Schwangerschaft auf andere als auf natürliche Weise herbeizuführen, den Beteiligten wegen relativ geringer Erfolgsquoten bislang noch viel Geld und Geduld ab und können auch eine hohe psychische Belastung für sie bedeuten.

Die Kernfamilie ist eine Zwei-Generationen-Familie, die nur aus der Eltern- und der Kindergeneration besteht. Werden die (Ur-)Großeltern als weitere Mitglieder der Familie einbezogen, handelt es sich um eine so genannte Drei- oder Vier-Generationen-Familie. Darüber hinaus gehende Verwandtschaftsgrade werden in der Regel nicht für den Familienbegriff berücksichtigt, es sei denn, er wird noch als Synonym für die Sippe oder das Geschlecht benutzt. Man spricht dann auch von der Verwandtschaftsfamilie.

Generationenübergreifende Solidargemeinschaft

Die Personen, die als Familie - ob zu zwei oder mehr Generationen - in einem Haushalt zusammenleben, bilden auch eine Haushaltsfamilie. Dieses Familienverständnis wird heute als zu eng angesehen. Schließlich müssen Lebenspartner mit gemeinsamen Kindern, wie schon erwähnt, nicht unbedingt einen gemeinsamen Haushalt führen. Auch die Großeltern wohnen sehr oft nicht oder nicht durchgängig mit ihren Kindern und Kindeskindern zusammen und können dennoch zur Familie gezählt werden. Entscheidend ist, dass die Beteiligten sich als Teil einer generationenübergreifenden Solidargemeinschaft verstehen und diese auch praktisch leben, das heißt sich gegenseitig helfen und füreinander eintreten. Die Mitglieder einer Familie können nach diesem weitergefassten Familienverständnis auch in verschiedenen Haushalten leben. Familienforscher betrachten die "Multilokale Mehrgenerationenfamilie" daher auch als das Familienmodell der Zukunft.

Die besondere Verbundenheit und Solidarität zwischen den Familienmitgliedern hebt die Soziologin Rosemarie Nave-Herz in ihrer Familiendefinition hervor. Familie ist danach gekennzeichnet durch:

  • Übernahme der Reproduktions- und Sozialisationsfunktion (Vermehrung und Erziehung des Nachwuchses),

  • gesellschaftliche Aufgaben, die sich je nach Kultur unterscheiden (biologisch-soziale Doppelnatur),

  • Generationendifferenzierung (Vorhandensein

  • verschiedener Generationen: Urgroßeltern/Großeltern/Eltern/Kinder) und

  • ein spezifisches Kooperations- und Solidaritätsverhältnis zwischen ihren Mitgliedern, das diesen spezifische Rollen zuweist (gegenseitige Unterstützung und Verantwortungsbewusstsein).

Rechtliche und soziale Perspektive

Familie lässt sich demnach aus zwei Perspektiven betrachten: eine, die rechtliche Aspekte und gesellschaftliche Konventionen (Tradition und Übereinkünfte) in den Blick nimmt, sowie eine auf die sozialen, gelebten Interaktionsbeziehungen gerichtete Sicht.

Rechtlich wird die Familienmitgliedschaft durch Abstammungsregeln, gesetzlich verankerte Formen von Elternschaft (Adoption, Pflege, Stiefelternschaft) sowie gesellschaftliche Konventionen, Sitten und Normen bestimmt. Das Recht legt fest, wer wann eine Familie gründen kann, und regelt die Ansprüche und Pflichten zwischen Eltern und Kindern sowie das Verhältnis der Eltern untereinander. Dieses so genannte Solidaritätsgebot findet sich in Paragraph 1618a des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB).

Die soziale Perspektive hebt hervor, dass Mitglieder einer Familie in einer besonderen persönlichen Beziehung zueinander stehen. Die Familie ist ein geschützter Raum, in dem die Kinder von ihren Eltern aufgezogen, erzogen und mit gesellschaftlichen Verhaltensregeln vertraut gemacht werden. Umgekehrt gewinnen die Eltern durch ihre Kinder neue Erfahrungen und Sichtweisen. Kinder vermitteln ihnen Selbstbestätigung und Identität. Das Verhältnis der Familienmitglieder ist meist durch vertrauensvolle und solidarische Beziehungen geprägt. Eltern und Kinder sind einander in aller Regel nicht gleichgültig.

Dies gilt allerdings nicht nur im positiven, sondern - wenngleich wohl meist nur vorübergehend - auch im negativen Sinne. In Familien wird gestritten, und es werden persönliche Auseinandersetzungen ausgetragen. Dabei kann es auch zu psychischen Verletzungen und Gewalttätigkeiten kommen. Extreme Beispiele, die in die Öffentlichkeit gelangen, rufen immer wieder Bestürzung hervor. Da die Familie heutzutage als Ort der privaten Intimsphäre betrachtet wird und dem ungehinderten Zugang von außen entzogen bleibt, wird Gewalt in der Familie oft nicht entdeckt, und die Betroffenen können sich ihr nur schwer entziehen. Um die individuellen Rechte von Eltern und Kindern auf Achtung ihrer persönlichen Würde und körperlichen Unversehrtheit zu sichern, ist der Staat aber befugt, in innerfamiliäre Beziehungen einzugreifen. Körperliche und seelische Gewalt gegen Kinder ist verboten und gesellschaftlich verpönt. Wenn Eltern ihren Fürsorgepflichten für die Kinder nicht gerecht werden, kann ihnen zur Sicherung des Kindeswohls das Sorgerecht entzogen werden. Seit 1997 gibt es im Paragraph 177 Strafgesetzbuch den strafrechtlichen Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe, wodurch Ehefrauen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gesichert werden soll. Angesichts der gesetzlichen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten kann durchaus von einer zunehmenden Verrechtlichung der Familienbeziehungen gesprochen werden.

Ungeachtet dessen stellt die Familie nach wie vor eine besondere soziale Gruppe dar, deren Mitglieder bestimmte "soziale Positionen" einnehmen, die für das "Funktionieren" der Gruppe wichtig sind. Diese Positionen sind mit bestimmten Verhaltenserwartungen an ihre Inhaber verbunden; man spricht auch von sozialen Rollen. In der Familie werden etwa die Mutter-, Vater-, Kind-, Geschwister- oder Großelternrolle unterschieden. Die Elternrolle beispielsweise beinhaltet, dass Eltern für ihre Kinder sorgen und Verantwortung übernehmen und dass sie dafür eine Autoritätsposition den Kindern gegenüber einnehmen, die sie in unterschiedlicher Weise ausgestalten können. Im Gegenzug können sie erwarten, dass ihre Autorität seitens der Kinder anerkannt wird - was wiederum zu deren Rolle gehört.

Familienbeziehungen und die Mitgliedschaft in einer Familie sind nicht unveränderlich oder unauflöslich. Elternschaftsbeziehungen können rechtlich beendet werden - etwa mittels Adoption eines Kindes durch andere Personen, womit dieses von einer in eine andere Familie wechselt. Wesentlich häufiger aber verändern sich Familienmitgliedschaften und -strukturen dadurch, dass die Paarbeziehung der Eltern durch eine Trennung und Scheidung endet. Die Elternteile können danach eine neue Paarbeziehung beginnen bzw. eine neue Lebensgemeinschaft gründen. Je nach Verlauf des Trennungsprozesses bleiben die sozialen Beziehungen zwischen Elternteilen und dem Kind oder zwischen den Eltern erhalten oder werden aufgelöst, neue Konstellationen sozialer Elternschaft können entstehen ("Nachscheidungsfamilie"). Doch in der Regel bleibt die Beziehung eines Kindes zu seinen beiden nun getrennt lebenden Elternteilen bestehen. Das Kind gehört so gleichzeitig mehreren Familien an, was Scheidungskinder mitunter vor schwierige Lebenssituationen stellt.

QuellentextLeben im Patchwork

[...] Familie M.: Vater Reinhold, 37, ein Lokführer, Mutter Anja, 35, Erzieherin im Mutterschutz. Sie leben mit Laureen aus einer früheren Beziehung der Frau zusammen und haben nun gemeinsam die kleine Sophie. Und dann gibt es noch Marvin, acht Jahre, der wie sein Vater ein begeisterter Fußballer ist und bei dessen ehemaliger Partnerin lebt. [...]
Eine Patchwork-Familie. Wie schön so ein "Flickenteppich" sein kann, belegt das Zusammenleben der M.s im Nordend in Frankfurt am Main allemal. [...]
Das Leben ist keine Autobahn. Abbiegen, Gas geben und durchstarten, so funktioniert Familie nicht. Anja M. kennt beide Perspektiven. Sie blieb mit Laureen allein, als ihre erste Partnerschaft scheiterte. Schleppte Wasserkästen, schleppte ihre Tochter, reparierte Lampen, erledigte kurzum alles, was mit einem Mann im Haus dann doch etwas leichter gewesen wäre.
Und nun lebt sie mit Reinhold M. zusammen, den sie vor knapp sechs Jahren ausgerechnet im Frankfurter "Ebbelwei-Express", der historischen Ausflugs-Straßenbahn, kennen lernte. Seit einem Jahr sind sie verheiratet. [...] Die Mutter betont, dass Liebe und Vertrauen die neue Gemeinschaft tragen. "Ohne das funktioniert gar nichts, ob Patchwork oder nicht."
Alltag. Sophie kräht in der Früh, Laureen gilt auch nicht gerade als Langschläferin. Und Katze Tipsi, mittlerweile 16 Jahre alt und durchaus zuwendungsbedürftig, kriecht ebenso aus irgendwelchen Federn. Frühstück, Laureen in die Schule bringen, Sophie betreuen. Mitunter springen die Großeltern ein oder Reinholds Schwestern. "Das klappt alles gut bei uns, weil wir uns glänzend organisieren," sagt Reinhold M. Meistens beginnen seine Lokführerschichten mitten in der Nacht. Nur Marvin ist ihm oft zu weit weg. [...]
Die M.s können es sich nicht vorstellen, ohne Kinder zu leben. Er: "Ohne diese Freude und dieses Lachen hätte alles wenig Sinn." Sie: "Zwar könnten wir uns weiteren Nachwuchs schlichtweg nicht leisten, aber die zwei oder mit Reinholds Sohn drei, die es gibt, kriegen alles von uns." [...]
Wenn Kinder aus früheren Beziehungen da sind, besteht auch immer die Gefahr von Eifersucht, räumen die M.s ein. Sie wollen sich jedoch dagegen stemmen, damit der familiäre Flickenteppich immer weiter zusammenwachsen kann. [...]

Petra Mies, "Ein schöner Flickenteppich", in: Frankfurter Rundschau vom 3. September 2007

Historischer Wandel

Die anthropologische Forschung legt nahe, dass die Familie für die evolutionäre Entwicklung des Menschen eine grundlegende Bedeutung hatte. Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, wie stark und wie lange Menschen auf die persönliche Fürsorge (Sozialisation) in einem stabilen Beziehungsumfeld angewiesen sind, um sich zu handlungsfähigen Individuen zu entwickeln, ist dies nachvollziehbar. Die Familie ist nur in menschlichen Gesellschaften vorzufinden und im Wesentlichen ein Kulturprodukt. Denn sie leistet mehr als die allein instinktgesteuerte Aufzucht der Nachkommenschaft in der Tierwelt. Während sich die Fürsorge der Elterntiere in der Regel nur über eine begrenzte Zeit erstreckt, begründet die menschliche Familie lebenslange Beziehungen zwischen den Eltern und der Nachkommenschaft.

Mit der "Entdeckung" des Prinzips biologischer Mutterschaft wurde den frühen Menschen erst die Besonderheit der sozialen Beziehung zwischen Mutter und Kindern und zwischen Geschwistern ("von gleichem Fleisch und Blut") sowie ihre Gestaltbarkeit bewusst. Die Erkenntnis der Zeugungsfunktion der Männer begründete entsprechend das Prinzip der Vaterschaft, die aus nachvollziehbaren Gründen weniger eindeutig zu belegen ist als eine Mutterschaft. In der Folge wurde die Elternbeziehung institutionalisiert.

Viele menschliche Gesellschaften führten die Ehe sowie Treuegebote ein - bei häufig ausdrücklich zugelassener Polygamie, also der Tatsache, dass Männer mehr als eine Frau ehelichen konnten (Polygynie) oder umgekehrt (Polyandrie), was viel seltener vorkam. Durch Abstammungs- und Vererbungsregeln wurde die Generationenfolge der in der Regel patriarchalisch organisierten Verwandtschaftsfamilien allmählich zur Basis für die soziale, politische und wirtschaftliche Ordnung und sicherte die Weitergabe bzw. den Erhalt von Macht und Vermögen über die Generationen hinweg.

Trotz spärlicher Erkenntnisse über die Familienstrukturen der Früh- und Vorgeschichte ist die anthropologische Forschung weitgehend einig, dass Familienverbände in den Garten- und Ackerbaugesellschaften der Neusteinzeit bereits zentrale Institutionen bildeten. Sie waren vermutlich durch autoritäre Strukturen gekennzeichnet, in denen der Ehemann und Vater absolute Macht über die anderen Familienmitglieder besaß (Patriarchat).

Die soziale Position und das soziale Ansehen der Frauen waren währenddessen unterschiedlich ausgeprägt. Wie das Beispiel der Pharaoninnen Ägyptens zeigt, konnten Frauen durchaus relevante gesellschaftliche Bedeutung und einflussreiche Machtpositionen erlangen.

In der Familie oder Hausgenossenschaft der Antike (in Griechenland oikos und in Rom familia genannt), zu der neben den Ehegatten und Kindern die Sklaven gehörten, hatte der männliche Familienvorstand (pater familias) unbeschränkte Rechte und Gewalt über Leben und Tod der Familienmitglieder. Seine Machtbefugnisse endeten erst mit seinem Ableben. Er nahm zentrale Aufgaben in der Gerichtsbarkeit, im Wirtschaftshandeln und in der Erziehung wahr. Frauen standen ihr Leben lang unter der Verfügungsgewalt ihres Vaters bzw. ihres Mannes oder unter der Vormundschaft eines nahen Verwandten. Die Untreue der Ehefrau, die vor allem für die Erziehung der kleinen Kinder zuständig war, konnte im Extremfall ihren Tod bedeuten. Die Kindestötung war als Mittel der Familienplanung lange Zeit erlaubt und wurde erst von Konstantin dem Großen (circa 280 bis 337 n. Chr.) verboten.

Entwicklung der Familienformen in Europa

Der zunehmende Einfluss des Christentums auf die Ehe- und Familienverfassung sowie das Erbrecht und die Durchsetzung der Ehe, die auf dem Einverständnis beider Ehepartner beruhte (Konsensehe), nahmen dem pater familias seine Allmacht, stellten die Vorrangstellung des Mannes als Hausvater jedoch zunächst nicht in Frage. Seit der Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts waren die persönliche Identität und Würde sowie die individuellen Rechte und Bedürfnisse von Frauen und Kindern in Familie und Gesellschaft anerkannt (Naturrecht, Menschenrechte). Gleichzeitig wurden Familie und Familienbeziehungen zunehmend vertragsrechtlich geregelt.

Familienformen sind zu jeder Zeitepoche höchst vielfältig und auch regional sehr unterschiedlich gewesen. Die Familienstrukturen und die Kinderzahl wurden in erster Linie den verschiedenen Lebensverhältnissen der Menschen angepasst. Auch religiöse Überzeugungen haben immer eine große Rolle gespielt, wie man am weitreichenden Einfluss des Christentums auf die Entwicklung der Familie in Europa erkennen kann. Doch gab es zu jedem Zeitpunkt neben den von der Kirche und den Obrigkeiten erlaubten Formen familialen Zusammenlebens andere Familienformen, die den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Menschen angemessener waren, oder die Paare lebten unverheiratet zusammen, weil ihnen die Ehe und Elternschaft offiziell verwehrt wurde.

Bei den Römern und bei den Germanen gab es noch unterschiedliche Eheformen, die verschiedene ehe- und eigentumsrechtliche Folgen haben konnten und in denen die Frauen unterschiedlich stark von ihren Ehemännern abhängig waren. Zu jeder Zeit lebten Paare mit und ohne Kinder unverheiratet zusammen, beispielsweise im Konkubinat bzw. "wilder Ehe". In der Antike noch rechtlich zugelassen, wurde diese Lebensform im frühen Mittelalter von der christlichen Kirche und seit der Neuzeit von den weltlichen Autoritäten verboten und sogar verfolgt. Die Familie mit unverheirateten Eltern verschwand aber nicht, sondern war immer präsent.

Die Familienformen hingen stark von der sozialen Stellung der Menschen und ihren wirtschaftlichen Verhältnissen ab. Gut erforscht ist das für die Zeit seit dem Mittelalter. Familienhistoriker teilen mittelalterliche Haushalte ein in Fürsten- und Adelshöfe, Fronhofverbände mit mehreren bäuerlichen und unterbäuerlichen Haushalten, geistliche Hausgemeinschaften, ländliche und städtische Haushaltsformen, darunter Handels- und Handwerksfamilien. Ehen waren standesgemäß zu schließen und in der Regel an Voraussetzungen geknüpft, die ein wirtschaftliches Auskommen der Familie sichern sollten. Ein großer Teil der Bevölkerung konnte daher keinen eigenen Hausstand gründen. In den nichtadeligen Ständen musste der Mann über eine "Stelle" verfügen, sei es, dass er als erbberechtigter Sohn einen Hof oder einen Handwerksbetrieb übernahm, sei es, dass er eine neue Stelle schaffen konnte. Eine relativ späte Familiengründung im Alter von mehr als 25 Jahren war daher in Westeuropa vorherrschend. Oftmals kam es zu Konflikten zwischen den Generationen, weil die Kinder erst dann eigene Familien gründen konnten, wenn die Eltern den Hausbetrieb weitergaben.

QuellentextHeiratsregeln im 19. Jahrhundert

[...] Im Deutschland des 19. Jahrhunderts galten für Bauern, Handwerker, Arbeiter und Bürger je eigene Gesetze und Regeln für das Heiraten. Mitgift, Arbeitsfähigkeit und Gesundheit waren für den Bauernsohn die wichtigsten Kriterien, wenn er auf Brautschau ging. Die Zukünftige sollte möglichst den Besitz vergrößern, ihren Part in der bäuerlichen Wirtschaft erfüllen, zu der neben ihren Schwiegereltern oft auch Geschwister des Mannes sowie Mägde und Knechte zählten. Kinder gehörten als Arbeitskräfte und künftige Erben dazu. Wie schön, wenn man sich außerdem auch noch nett fand!
Im Handwerk hatte die Zunft ein gewichtiges Wort mitzureden, wenn es um die Hochzeit ging. Erst nach der Lehr- und Wanderzeit durfte der Geselle sein Meisterstück fertigen und heiraten. Die Wahl einer Meistertochter oder Witwe öffnete die Türe zur Zunft und brachte finanzielle Vorteile. Die Meisterin versorgte das "ganze Haus" und bestellte als Nebenwirtschaft Feld und Garten. Kinder hatten die gleiche Bedeutung wie beim Bauern.
ArbeiterInnen hatten weder Besitz noch Ausbildung, konnten ihren Kindern nichts vererben und auch nicht von ihnen versorgt werden. Dennoch gab es zur Ehe keine Alternative, wollte man nicht ewig als UntermieterIn oder SchlafgängerIn leben und auf sozial akzeptierte Sexualität verzichten. Schwangerschaft war häufig der Anlass zu heiraten, jedes weitere Kind dann ein Esser mehr.
Der Bürgersohn musste wie der Handwerker zuerst seine Ausbildung zum Beamten, Offizier, Akademiker oder Kaufmann abschließen, bevor an eine Familie zu denken war. Im Unterschied zu den Frauen anderer Schichten sollte seine Auserwählte außer der Mitgift gerade keinen Beitrag zum Familieneinkommen leisten. Seinen Stand kennzeichnete, dass der Hausherr Frau und viele Kinder standesgemäß versorgte. Ihre unbezahlte Hausarbeit musste ihm dazu den Rücken frei halten. Schwierig war die Situation in vielen Beamtenfamilien, weil ein angemessener Lebensstil sich an den Besitzbürgern orientierte, das Einkommen dazu aber oft nicht reichte. Unverheiratete Töchter mussten daher nicht selten mit geheimer Näharbeit helfen, die bürgerliche Fassade aufrechtzuerhalten. Liebe als einziges Motiv zur Heirat ist historisch die jüngste und offenbar auch die labilste Form der Paarbildung. [...]

Inge von Bönninghausen, "Familiengeschichte(n)", in: FrauenRat 3/06, S. 2f.

In West- und Mitteleuropa zählten zu den nichtadeligen Familienhaushalten die Ehegatten und die Kinder sowie Lehrlinge, Handwerksgesellen und Knechte, Dienstmägde bzw. das Gesinde, zu denen auch unverheiratete Verwandte gehören konnten.

Die vorindustriellen Familienhaushalte auf dem Land und in der Stadt mussten sich als funktionierende Arbeitseinheiten behaupten. Es ging darum, das Überleben ihrer Mitglieder zu sichern. Dem hatte sich fast alles unterzuordnen. Zweckorientierte Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Familienhaushalte waren vorherrschend. Kinder wurden, sobald es möglich war, in die Haushaltsproduktion eingespannt. Eine Kindheit im heutigen Sinne gab es daher in der Regel nicht. Für Intimität und gefühlsmäßige Bindungen war wenig Platz. Mittlerweile geht die Familienforschung allerdings davon aus, dass die Bedeutung von Liebe und Gefühlen für die Beziehungen zwischen (Ehe-)Partnern oder Eltern zu ihren Kindern in vorindustriellen Familien unterschätzt worden ist.

Die Mitgliederfluktuation in diesen Familienhaushalten war groß, das heißt, Anzahl und Zusammensetzung der Familienmitglieder änderte sich häufig. Ein Grund dafür war die hohe Kindersterblichkeit und die geringe Lebenserwartung der Menschen insgesamt. Außerdem verließen die Kinder früh den Haushalt, um sich in einem fremden Haus als Gesinde zu verdingen oder in die Lehre zu gehen. Es musste also ständig "Personal" ersetzt werden, um die Haushaltsproduktion aufrechterhalten zu können. Verstarb ein Ehepartner, wurde so schnell wie möglich wieder geheiratet. Was heute als Patchworkfamilie bezeichnet wird, konnte in dieser Zeit daher in vielfältiger Form auftreten - nur dass nicht eine Scheidung der Ehepartner, sondern der Tod der Hausmutter oder des Hausvaters der Grund war. Die im 19. Jahrhundert idealisierte Form der vorindustriellen Großfamilie mit mehreren Generationen im Haushalt war eher die Ausnahme als die Regel. Kleinfamilien mit oder ohne Gesinde herrschten vielerorts vor. In den Städten gab es Formen des Alleinlebens, Familien Alleinerziehender oder Wohngemeinschaften von Frauen, vor allem von Witwen mit oder ohne Kinder.

Im Zuge der Industrialisierung wandelte sich die Familie. Strukturell bedingt setzte sich außerhalb der Landwirtschaft die Trennung von Produktions- und Familiensphäre durch. Am Vorabend der Industrialisierung, etwa ab Mitte des 18. Jahrhunderts, verlor denn auch der Ausdruck familia seine alte Bedeutung als "Hausgemeinschaft" und wurde wie heute vorherrschend als Begriff ausschließlich für die Eltern-Kind-Gemeinschaft uminterpretiert. Familien konnten nun - so der Historiker Andreas Gestrich - zu einer "Sphäre des Konsums und der Privatheit" werden, das heißt, die Arbeitswelt lag außerhalb des häuslichen Bereichs.

Die ideelle Triebfeder des Wandels war die Aufklärung, die das individualistische Denken und die Ablösung von ständischen Bindungen genauso beförderte wie die weitere Verweltlichung der Ehe. Sie war durch den Protestantismus eingeleitet worden, der die Ehe nicht mehr als Sakrament verstand. Nach und nach konnten sich die jungen Menschen bei der Partnersuche Reglementierungen durch Dritte wie Eltern, Zünfte oder Statusgruppen entziehen, und das Motiv emotionaler Zuneigung und romantischer Liebe gewann bei der Paarbildung stärker an Bedeutung. Nichtsdestotrotz behaupteten sich ständische oder schichtbezogene Einflüsse auf Partnerschaften bis weit ins 20. Jahrhundert.

Kinder mussten zunehmend nicht mehr als Arbeitskraft innerhalb oder außerhalb des Haushalts eingesetzt werden und erfuhren dadurch eine stärkere emotionale Zuwendung. Kindheit und Jugend wurden nun als eigenständige Lern- und Entwicklungsphasen im Leben angesehen. Zuvor hatte es sie wohl eher nur in höheren sozialen Schichten gegeben.

Weiterhin gab es Familienhaushalte in der Landwirtschaft und im selbstständigen Handwerk. Als neue, vorwiegend ländliche Haushaltsform bildet sich im Zuge der Vorindustrialisierung auch die Heimarbeiterfamilie aus. Doch zwei Familienformen gewannen besonders an Bedeutung: die proletarische und die so genannte bürgerliche Familie. Die proletarische Familie oder Arbeiterfamilie verbreitete sich in den wachsenden Städten. Die Eltern einer zunehmend großen Kinderschar mussten in der Regel beide ganztägig (zwölf bis 14 Stunden) arbeiten, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Kinderarbeit war anfangs noch die Regel. Die Menschen lebten unter schlechten hygienischen Bedingungen, dennoch nahmen durch Fortschritte in der medizinischen Versorgung und eine bessere Ernährungssituation die Kindersterblichkeit ab und die Familiengröße zu. Die Familien waren aus materiellen Notlagen heraus oft gezwungen, zusätzlich fremde Mitbewohner, so genannte Inwohner, in den beengten Haushaltaufzunehmen.

Die bürgerliche Familie

Zum Erfolgsmodell einer an die Erfordernisse der industriellen Gesellschaft besonders gut angepassten Familienform sollte die so genannte bürgerliche Familie werden. Sie war anfangs auf die wirtschaftlich privilegierten Bevölkerungsschichten beschränkt, gewann aber seit dem späten 19. Jahrhundert in der Bevölkerung immer mehr an Bedeutung und bildete in den 1950er und 1960er Jahren das dominierende Familienmodell.

Die bürgerliche Familie - auch oft moderne Familie genannt - etablierte sich als eine auf Dauer angelegte eheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern. Die Ehe der leiblichen Eltern war bei diesem Lebensmodell obligatorisch. Das durchschnittliche Heiratsalter der Männer war hoch und lag bei 30 Jahren, die Frauen waren fünf bis sechs Jahre jünger. Die Partner konnten frei gewählt werden, und die Ehe wurde zunehmend als intime Beziehung gelebt, die auf persönlicher Zuneigung und Liebe beruhte. Die durchschnittliche Zahl der überlebenden Kinder betrug zwei bis vier. Sie wuchsen in einer behüteten Welt der Kindheit und Jugend auf, in der Zeit zum Spielen und Lernen blieb. In der Regel verließen sie erst das Elternhaus, wenn sie ihre eigenen Familien gründeten, es sei denn, die Ausbildung oder der Start in den Beruf machten einen früheren Auszug notwendig. Das Familienleben wurde zunehmend gegenüber der Öffentlichkeit abgegrenzt, auch lebten in der Regel nicht mehr mehrere Generationen in einem gemeinsamen Haushalt. Die Familie galt als privater Raum, der nur begrenzt für die soziale Umwelt offen war.

Familienintern wurde eine strikte geschlechtsspezifische Rollenteilung zwischen Mann und Frau praktiziert: Der Mann ging als Haupternährer der Erwerbsarbeit außer Haus nach, der Frau kam die Rolle als Hausfrau und Mutter zu. Daraus leitete sich der bleibende Autoritätsanspruch des Mannes innerhalb der bürgerlichen Familie ab. Auch wenn die Hausfrau und Mutter einen eigenständigen sozialen Status beanspruchen konnte, wurden die Hausarbeit und die Erziehung der Kinder doch gegenüber der Erwerbsarbeit, mit der das nötige Einkommen erwirtschaftet wurde, als eher unproduktive Tätigkeit abgewertet. Die Arbeitsteilung zwischen den Ehepartnern verstärkte sich gegenüber der Praxis in den früheren Familienhaushalten, die Rollen von Mann und Frau waren so klar voneinander abgegrenzt wie kaum zuvor. Dieses Bild der bürgerlichen Familie blieb in den westlichen Gesellschaften bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dominant. Es bot ein hohes Maß an institutionalisierter Ordnung und Organisation des privaten Lebens von Männern und Frauen.

Die wesentlichen demografischen Veränderungen, die mit dem Wandel der Familie im Zuge der Industrialisierung einhergingen, waren durch einen drastischen Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit, einen Anstieg der Lebenserwartung der Menschen und einen starken Rückgang der Geburtenhäufigkeit bestimmt. Dieser Wandel führte unter anderem dazu, dass nun erst in größerem Umfang Familien mit drei und mehr Generationen über einen längeren Zeitraum zusammenleben konnten, wie der Historiker Arthur Imhof es mit dem Ausdruck der "gewonnenen Jahre" deutlich gemacht hat. In der heutigen Zeit ist das Ausmaß der Zeit, die mehrere Generationen einer Familie gemeinsam verleben, so groß wie nie zuvor. Dieses Faktum wird häufig vergessen, wenn in der Öffentlichkeit vorschnell vom Zerfall der Familie gesprochen wird.

Aufgaben und Leistungen

Die heutige Bedeutung der Familie für Individuum und Gesellschaft lässt sich mittels einer Systematik von typischen Aufgaben und Leistungen der Familie ermessen, die der Schweizer Familiensoziologe Franz X. Kaufmann vorgeschlagen hat. Die Familie wird als eine soziale Institution angesehen, die für ihre Mitglieder und die Gesellschaft bestimmte Aufgaben erfüllen soll. Die Individuen erwarten von der Familie, dass sie ihrem Wohlbefinden dient und zur Befriedigung von Bedürfnissen beiträgt, die so von keinem anderen Teil der Gesellschaft übernommen werden können. Im Laufe des skizzierten Wandels ist die Familie zur wichtigsten Institution geworden, um die emotionalen Bedürfnisse von Kindern und Erwachsenen zu befriedigen. Die Gesellschaft erwartet von der Familie, dass sie wesentliche Leistungen für den Erhalt und den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft erbringt. Sie entwickelte sich zu einer leistungsfähigen Institution der Sozialisation der nachwachsenden Generation. Die moderne Familie hat aber auch wichtige ökonomische Funktionen behalten und steht für ihre Mitglieder dort ein, wo die Sozialleistungen des Staates nicht oder nicht mehr greifen (Subsidiaritätsprinzip). Alle Aufgaben, die die Familien nach Auffassung der Gesellschaft zu erbringen haben, sind Bestandteil eines bestimmten Familienleitbildes, das auch die Vorstellungen beinhaltet, in welcher Familienform diese Aufgaben erfüllt werden sollten.

Auf die Leistungen der Familie wird das Augenmerk gerichtet, wenn man betrachtet, wie Familien und ihre Mitglieder ihre Aufgaben erfüllen. Das, was Familien und die Mitglieder von Familien tatsächlich mit- und füreinander tun, für das soziale Gemeinwesen und dessen verschiedene Bereiche wie Gemeinde und Staat, Wirtschaft, Öffentlichkeit und Kultur, kann man als Leistungen der Familien für die Gesellschaft ansehen.

Welche Aufgaben der Familie, über die in unserer Gesellschaft weitgehender Konsens besteht, sind konkret zu nennen? Welche Leistungen für die Individuen, also die Familienmitglieder, und die Gesellschaft sind damit verbunden? Im Folgenden soll dazu ein kurzer Überblick gegeben werden.

Persönlicher Zusammenhalt und emotionale Zuwendung

Die Familie soll für Eltern und deren Kinder den Raum bieten, in dem sie in besonders engen und vertrauten Beziehungen sozialen Zusammenhalt und persönliche emotionale Zuwendung erfahren können. Nirgendwo anders in der Gesellschaft findet sich die besondere Art der intimen, sehr persönlichen sozialen Beziehungen zwischen Partnern sowie Eltern und Kindern; und das hohe Maß der Bereitschaft, sich ohne Wenn und Aber gegenseitig zu unterstützen.

In der modernen Gesellschaft, in der die Individuen außerhalb der Familie in mehr oder weniger anonymen sozialen Rollen agieren, gibt es ein konkretes Bedürfnis für diese Art von sozialen Beziehungen. Die Familienmitglieder können im besten Fall über alles miteinander sprechen, sie sind in Bezug auf alle persönlichen Aspekte und Umstände präsent. In einer funktionierenden Familie erfahren sie persönliche Selbstvergewisserung und positive Erfahrungen von Selbstwirksamkeit. Durch verschiedene Formen persönlicher Zuwendung über die Generationen hinweg bieten sich die Familienmitglieder ideellen und emotionalen Beistand. Dazu gehört auch Sexualität der erwachsenen Lebenspartner als wichtiger Teil des intimen Miteinanders. Sie war denn auch gemäß dem modernen, bürgerlichen Familienbild noch ausschließlich verheirateten Partnern oder Eltern vorbehalten. Diese "Regulierungsfunktion" von Ehe und Familie ist allerdings seit der Mitte der 1960er Jahre radikal in den Hintergrund gedrängt worden.

Gut funktionierende persönliche Beziehungen in Familien fördern nicht nur das individuelle Wohlbefinden und die seelische wie körperliche Gesundheit der Familienangehörigen, sondern ermöglichen es ihnen auch, sich als handlungsfähige, autonome Akteure in der modernen Gesellschaft erfolgreich zu behaupten.

Damit ist die Leistung für die Gesellschaft offensichtlich: Ein gelingendes Familienleben erhöht die Chancen, dass Menschen in der Gesellschaft zurecht kommen. Zerrüttete Beziehungen in der Familie und das Verzichten-Müssen auf Anerkennung und persönliche Zuneigung erhöhen die Gefahr, dass Menschen in der Gesellschaft scheitern.

Unterstützung im Alltag

Familien sind keine Produktionsgemeinschaften im klassischen Sinne mehr. Heute wird von dem Zusammenleben in einem Familienhaushalt erwartet, dass es eine effiziente Basis für die Alltagsorganisation und gegenseitige Hilfe der Menschen bietet. In dieser Hinsicht hat es Vorteile im Vergleich zum Alleinleben. Aufgaben können im Familienhaushalt (und darüber hinaus) aufgeteilt werden. Familienmitglieder, die füreinander einspringen, entlasten sich gegenseitig zeitlich und körperlich.

In Familien, so wird erwartet, und so drückt es sich im rechtlich verankerten Subsidiaritätsprinzip aus, sollen sich Menschen in alltagspraktischen Dingen gegenseitig unterstützen und helfen. Das gilt auch für die Zeit, wenn die Kinder das Elternhaus verlassen haben Die Familie ist als Basis der Solidarität zwischen den Generationen nach wie vor intakt. Viele Analysen zeigen, dass die Transferleistungen zwischen Kinder- und Elterngeneration kaum an Bedeutung verloren haben und nach wie vor für die Familien wirtschaftlich relevant sind.

Gegenseitige Entlastung, Unterstützung und Solidarität sind als Leistungen der Familie für die Gesellschaft von hohem Wert, weil Menschen produktiver sind, wenn sie regenerieren können. Darüber hinaus stärken und erhalten Familien so die intergenerationale Solidarität in der Gesellschaft, die wichtig ist für den übergeordneten sozialen Zusammenhalt. Allerdings werden inzwischen viele dieser Leistungen - zum Beispiel die Kinderbetreuung - auch vom Markt oder vom Staat angeboten. Dies wird zunehmend in Anspruch genommen, weil in vielen Familien beide Partner erwerbstätig sind und damit die für die Familienarbeiten verfügbare Zeit in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zurückgeht.

Fortpflanzung

Die Familie wird als die soziale Basis der Nachwuchssicherung angesehen, in Familien sollen nach Möglichkeit Kinder heranwachsen. In Erfüllung dieser Aufgabe leistet die Familie den physischen Erhalt der Gesellschaft. Während die Aufgabe, persönlichen Zusammenhalt zu wahren und emotionale Zuwendung zu gewähren, eher ein modernes Phänomen ist, gilt die Fortpflanzung traditionell als ureigenste Aufgabe der Familie. Gleichwohl hat sich die Motivation zur Elternschaft und damit auch das, was sie für die Eltern bedeutet und "leistet", im Verlauf der Zeiten geändert. Heute steht die Sicherung des Überlebens nicht mehr im Vordergrund. Sexualität und Fortpflanzungsfunktion sind voneinander getrennt. Der Begriff der "Generativität" aus dem Stufenmodell der psycho-sozialen Entwicklung des deutsch-amerikanischen Psychoanalytikers Erik H. Erikson drückt recht treffend aus, was Elternschaft aber noch bedeuten kann: der zukünftigen Welt etwas Bleibendes, ureigen Geschaffenes und in gewisser Weise ja auch Gestaltetes zu hinterlassen. Daneben ist die Geburt eines Kindes in der Regel auch der Beginn einer sehr engen sozialen Beziehung, in der man Freud und Leid in besonderer Wiese miteinander teilen kann.

Erziehung und soziale Integration der Kinder

Die Familie ist für die Erziehung und für grundlegende Bereiche der Bildung der Kinder verantwortlich. Für Kinder bietet sie den idealen Raum, in dem sie sich entwickeln und entfalten können. Der deutsche Sozialanthropologe und Soziologe Dieter Claessens hat dies in seinem Konzept der Sozialisation in sehr plastischer Weise beschrieben: Die erste Phase ist die "Soziabilisierung" als zweite, "sozio-kulturelle Geburt" des Menschen, in deren Verlauf den Kindern emotionale Grundlagen, erste Kategorien von Weltverstehen und -vertrauen sowie eine erste soziale Positionsbestimmung in dieser Welt vermittelt werden. Es folgt die Phase der "Enkulturation", in der die Heranwachsenden im Zusammenspiel mit Eltern und Bezugspersonen ihre spezifische individuelle Formung bzw. "sozio-kulturelle Prägung" erfahren und auf die Übernahme ihrer sozialen Rolle in der Gesellschaft vorbereitet werden. Die Entwicklungspsychologie und neuerdings auch die Neurowissenschaften betonen den besonderen Wert der engen intimen Beziehung der Kinder zu ihren Eltern als verlässlichen Bezugspersonen - besonders in den ersten Lebensjahren. Die Erziehung umfasst dabei "alle gezielten und bewussten Einflüsse auf den Bildungsprozess", mit dem Eltern oder andere versuchen, "auf die Persönlichkeitsentwicklung anderer Menschen Einfluss zu nehmen", so der Pädagoge Klaus Hurrelmann. Sie ist damit von großer Bedeutung für das zukünftige Leben der Kinder. Die Eltern geben ihren Kindern nicht nur Wissen und Bildung (Sozialisation und Erziehung), sondern auch materielle Güter durch Vererbung mit auf den Lebensweg.

Aus gesellschaftlicher Sicht sind die Erziehungs- und materiellen Transferleistungen der Eltern dadurch begründet, dass die biologische Reproduktion allein nicht ausreicht. Für die Sicherung des gesellschaftlichen "Humanvermögens" sind sie von essenzieller Bedeutung, weil sie nur sehr bedingt von anderen gesellschaftlichen Institutionen, etwa durch Bildungseinrichtungen, übernommen werden können. Der Begriff "Humanvermögen" beschreibt die in einer Gesellschaft durch Erziehung, Ausbildung, Weiterbildung und Erfahrung erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse. Im Unterschied zu dem nicht unumstrittenen Begriff des "Humankapitals" geht es hierbei nicht nur um Fähigkeiten, die ökonomisch verwertbar sind, sondern zum Beispiel auch um solche wie Solidarität oder Empathie. Der Begriff "Humanvermögen" wurde mit dem Fünften Familienbericht 1994 in den familienpolitischen Diskurs eingebracht; und zwar, um die gesamtgesellschaftlich bedeutsamen Leistungen von Familien zu verdeutlichen unddie Forderungen nach einem gerechten Ausgleich für die Leistungserbringung zu unterstützen. Da Familien ihren Kindern nur in jeweils spezifischer Form und in höchst unterschiedlichem Ausmaß materielle und nicht-materielle Werte mit auf den Weg geben können, tragen Familien gleichzeitig zu einer "Vererbung" sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft bei.

Fazit

Für die Individuen bieten Partnerschaft und Familie Leistungen, die zum Teil gar nicht oder nur schwer anderswo zu bekommen sind. Allerdings hat der Wohlfahrtsstaat in den letzten 150 Jahren viele Aufgaben oder Funktionen übernommen, die vormals allein der Familie zugeordnet waren und von ihr den gesellschaftlichen Verhältnissen mehr oder weniger angemessen erfüllt wurden. Die Menschen sind weniger auf die Familie angewiesen, wenn es um die Sicherung individueller Wohlfahrt, Hilfe bei Krankheit und die existenzielle Absicherung im Alter geht. Daher wird vielfach die These vom Funktionsverlust der Familie vertreten. Diese dient als Begründung dafür, dass die Motivation, eine Familie zu gründen, beständig zurückzugehen scheint. Allerdings dürfte diese Argumentation zu kurz greifen.

Soziale Beziehungen in der Gesellschaft, in der Arbeitswelt und Öffentlichkeit können zu materiellem Erfolg, sozialem Status und sozialer Anerkennung verhelfen. Die emotionale Bedeutung der Familienbeziehungen kann aber nicht durch diese Arten individuellen Erfolgs aufgewogen werden.

Der Wohlfahrtsstaat ist auf diese Leistungen der Familien angewiesen. Da aber Menschen Familien nicht deshalb gründen, um die damit verbundenen Leistungen für die Gesellschaft zu erbringen, sondern aus einem individuellen Interesse am Familienleben, muss die Gesellschaft einen Beitrag dazu leisten, dass dieses individuelle Interesse erhalten bleibt. Sie muss ebenso Sorge dafür tragen, dass Familien in der Lage sind, die von ihnen erwarteten Aufgaben in befriedigender Weise zu erfüllen. Denn die Auswirkungen des Handelns von Individuen in Familien können für die Gesellschaft sehr problematisch werden und mit hohen sozialen Kosten verbunden sein, so zum Beispiel, wenn Eltern ihren Erziehungsaufgaben nicht mehr oder nicht hinreichend nachkommen.

Wird den Menschen der Raum gewährt, den sie brauchen, um die gewünschten Leistungen in Familien zu erbringen? Wir haben es in Deutschland - stärker als in vielen anderen Ländern - mit einem paradoxen Widerspruch zwischen einem noch vorherrschenden konventionellen, am bürgerlichen Familienideal orientierten Familienleitbild und den Anforderungen des post-industriellen Zeitalters an die Individuen zu tun. Während die bürgerliche Familie mit ihrer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung noch das adäquate Arrangement bot, um der aufstrebenden Industrialisierung zu ihrem Sieg zu verhelfen, hat ein wesentliches Element dieser Ordnung, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zwischen Erwerbsarbeit und Haushalt, zunehmend an Gültigkeit verloren. Eng damit verknüpft ist die steigende Tendenz zur dauerhaften Berufstätigkeit der Frauen. Sie hat ihre Rolle in Partnerschaft, Familie und Gesellschaft nachhaltig verändert, die weibliche Normalbiographie neu strukturiert und zu einem veränderten Selbstverständnis geführt, das mit dem traditionellen bürgerlichen Familienleitbild nicht mehr vereinbar ist. Wenn dieses nicht mehr adäquat funktioniert, was tritt an seine Stelle? Es müssen Vereinbarungen geschaffen werden, die es Frauen und Männern erlauben, familiales und außerfamiliales Engagement in Einklang miteinander zu bringen.

ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt "Theorie und Empirie der Sozialstruktur" am Institut für empirische und angewandte Soziologie der Univer-sität Bremen. Seine Forschungsgebiete sind die Sozialstruktur-forschung und die Soziologie des Lebenslaufs, insbesondere die Soziologie der Familie und der Lebensformen.

Kontakt: huinink@embas.uni-bremen.de