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Familienleben und Alltagsorganisation

Johannes Huinink

/ 22 Minuten zu lesen

Eine Familie bei einem Ausflug, nahe Dresden. (© AP)

Freud und Leid des sozialen Miteinanders

Es gibt eine reichhaltige, vor allem in der Sozialpsychologie verankerte Forschung, welche die innerfamilialen Interaktionsprozesse und das damit einhergehende Maß an Beziehungszufriedenheit der Familienmitglieder untersucht. Dabei zeigt sich ein grundlegender Wandel der innerfamilialen Interaktions- und Beziehungsmuster und Rollenbilder, der noch nicht abgeschlossen ist.

  • Erstens ist die schon erwähnte Emotionalisierung der persönlichen Beziehungen in Paargemeinschaften hervorzuheben. Liebe ist ein wichtiger Grund für das Zusammenleben.

  • Zweitens lässt sich eine fortschreitende De-Institutionalisierung von Familienbeziehungen feststellen. Deutlich wird dies am Rückgang der Eheschließungen, am steigenden Anteil nichtehelicher Kinder und an der hohen Instabilität von Ehen, das heißt an den zunehmenden Scheidungsraten.

  • Drittens werden traditionelle, geschlechtsspezifische Rollenmuster, Zuständigkeiten und Autoritätsbeziehungen, wie sie für die bürgerliche Familie konstitutiv waren, immer weniger akzeptiert.

Vorrangiges Ziel der Familienmitglieder ist heute, ihre Beziehungen so zu gestalten, dass gemeinsam eine möglichst hohe Lebens- und damit Beziehungszufriedenheit erreicht werden kann. Im Verlauf einer Paarbeziehung verändert sich allerdings deren emotionale Qualität. Die anfängliche leidenschaftliche, "romantische" Liebe geht nach einiger Zeit in eine durch Zuneigung und gegenseitiges Vertrauen bestimmte "kameradschaftliche" Liebe über - wenn die Paarbeziehung nicht lediglich aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen weitergeführt wird, was immer seltener passiert. Mit zunehmender Beziehungsdauer stellt sich auch eine gewisse Routine bzw. Gewohnheit in den paar- oder familieninternen Handlungsabläufen ein. Sie sind Teil einer gemeinsamen vertrauten Welt geworden, die man miteinander gestaltet. Die Beteiligten (Partner und dann auch die Kinder) gewinnen ihren Platz und ihre persönliche Rolle. Dabei sind sie nicht frei von Erwartungen seitens der sozialen Umwelt sowie von rechtlichenund sozio-normativen Vorgaben betroffen, die ihnen Aufgaben und Verantwortungen zuweisen oder soziale Abhängigkeiten definieren. Doch scheinen die Familienmitglieder inzwischen über einen wachsenden Spielraum zu verfügen, um ihre familiale Beziehungswelt selbst zu gestalten; das macht auch einen großen Teil von deren Attraktivität aus.

Um eine möglichst hohe Beziehungs- und Lebenszufriedenheit als Paar und Familie zu erreichen, bemühen sich die Familienmitglieder, ihren Alltag weitgehend einvernehmlich zu organisieren. Dazu gehören gemeinsame Unternehmungen in der Freizeit, ein erfüllendes Sexualleben der erwachsenen Partner, aber auch die zum Teil nicht besonders beliebten Aufgaben im Haushalt, alles in allem "familiale Zeit" genannt. Die Zeiten für die außerfamilialen Beschäftigungen der Familienmitglieder, die "öffentliche Zeit", werden aufeinander abgestimmt. Vielfach wird auch schon von einem Termin-Management gesprochen, was angesichts der vielen außerfamilialen Verpflichtungen von Eltern und Kindern nicht verwundert. Jedem Mitglied bleibt außerdem ein mehr oder weniger großer individueller Freiraum, die "persönliche Zeit", in dem es eigenen Interessen nachgehen kann. Auch wenn die Bereitschaft zu uneigennützigem Verhalten für diese Beziehungen typisch ist, hängt viel davon ab, wie es den Familienmitgliedern gelingt, ihre nicht immer übereinstimmenden Auffassungen und Interessen unter einen Hut zu bringen.

Es ist daher kein Zufall, dass sich Partner zusammentun, die sich in vielen Merkmalen eher ähneln: "Gleich und gleich gesellt sich gern", etwa im Hinblick auf Intelligenz, Bildung und sozialen Status, kulturelle Vorlieben, Weltanschauung und Religion. Man spricht von der Homogamie in Paarbeziehungen. Auch haben die Partner in der Regel dieselbe Staatsangehörigkeit oder ethnische Zugehörigkeit (Endogamie). Binationale Ehen etwa sind immer noch nicht sehr häufig. Im Jahr 2006 gab es laut Statistischem Bundesamt knapp 47 000 Eheschließungen zwischen Deutschen und Ausländern, was einem Anteil von gut zwölf Prozent an allen Eheschließungen in diesem Jahr entsprach. Der Anteil binationaler Ehen an allen Ehen ist noch deutlich niedriger und lag 2006 bei sechs Prozent.

Es gibt auch den Spruch "Gegensätze ziehen sich an". In diesem Fall sollen sich unterschiedliche persönliche Eigenschaften der Partner, zum Beispiel Einkommen des einen und Attraktivität des anderen, ergänzen und das Paar verbinden. Überzeugende Befunde für eine allgemeine Gültigkeit dieses Aspekts in heutigen Paarbeziehungen gibt es allerdings nicht. Das traditionelle "Hinauf-Heiraten" von Frauen konnte man so deuten, aber die Status- und Bildungshomogamie von Frauen und Männern hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen.

Das Verhältnis von Eltern und Kindern ist zunächst durch Rollen, Bedürfnisse und Interessen geprägt, die sich gegenseitig ergänzen. Kinder bedürfen der Pflege und Anleitung, Eltern können diese geben, richten darauf große Teile ihres Alltags aus und ziehen daraus persönliche Befriedigung. Im Verlauf der Sozialisation gestaltet sich das Verhältnis immer weniger "asymmetrisch". Die Heranwachsenden schaffen sich eigene, nicht von den Eltern kontrollierte Freiräume. Beide stimmen ihre Ansichten aufeinander ab oder versuchen bei Differenzen ein hohes Maß an Toleranz aufzubringen. Konflikte bleiben dabei nicht aus. Entscheidend ist dann, wie die Beteiligten mit diesen umzugehen wissen. Vieles hängt davon ab, wie stark gegenseitiger Respekt und Kooperationsbereitschaft dem anderen, ob Partner, Kind oder Elternteil, gegenüber aufgebracht werden, wenn das Verhältnis zueinander gut und für die Beteiligten befriedigend bleiben und Streit nicht eskalieren soll. Der Familienpsychologe Klaus Schneewind spricht vom Engels- oder Teufelskreis der Eltern-Kind-Beziehung.

Die verschiedenen Phasen des Familienverlaufs stellen Paare oder die einzelnen Personen vor unterschiedliche Herausforderungen. Sie bringen daher unterschiedlich hohe Chancen und Risiken für die Beziehungszufriedenheit in einer Familie mit sich. Die Geburt von Kindern ist für Paare und für schon vorhandene Kinder ein einschneidendes Ereignis, das ein hohes Maß an Umorganisation eines vielleicht schon eingespielten Beziehungslebens erfordert und gewohnte Routinen hinfällig werden lässt. Die Beziehungszufriedenheit der Eltern sinkt in Folge der Geburt eines Kindes. Dieser Verlust wird aber in der Regel durch die Freuden der Elternschaft wieder ausgeglichen. Daher sinkt die Lebenszufriedenheit insgesamt nicht.

Einen großen Einfluss auf die innerfamilialen Beziehungen haben die strukturellen Lebensbedingungen der Menschen und deren Veränderungen. Sie wirken in vielfacher Weise in die Familienbeziehungen hinein. Die Erwerbs- und Einkommenssituation, die Wohnbedingungen und die Wohnumwelt, die sozialen Kontakte sind hier zu nennen. Armut und Arbeitslosigkeit stellen hohe Risiken für das innerfamiliale Verhältnis dar. Das gilt umso mehr, je stärker sie von den Betroffenen subjektiv als Belastung erfahren werden und Empfindungen sozialen Abstiegs und Schamgefühle damit einhergehen. Biografische Veränderungen - wie berufliche Wechsel, belastende und "kritische" Lebensereignisse, der Verlust eines nahestehenden Menschen, Krankheit in der Familie, Veränderungen des sozialen Umfelds von Paaren und Familien, etwa aufgrund von Wohnortwechseln - können sich auf die innerfamilialen Beziehungen auswirken. Die Familie als Solidarverband kann die negativen Folgen solcher Erfahrungen abmildern, letztere stellen aber immer auch Risiken für die Stabilität und Qualität der Familienbeziehungen dar.

Eine gegen die Öffentlichkeit relativ abgeschottete familiale Beziehungswelt hat auch ihre Schattenseiten. Ehe, Familie und Wohnung werden zu Recht als genuiner Teil der Privatsphäre respektiert und rechtlich geschützt. Sie können daher Bereiche sein, in denen unter Ausschluss der Öffentlichkeit Menschen heftige Konflikte miteinander austragen, sich persönlich erniedrigen sowie psychische und physische Gewalt gegeneinander ausüben. Gewalt gegen Kinder und Frauen in Familien war lange Zeit gesellschaftlich legitimiert. Das Züchtigungsrecht des Vaters bzw. der Eltern gegenüber den Kindern gab es in der Bundesrepublik faktisch bis zum Jahr 2000, bis im geänderten Paragraphen 1631 des BGB zum Kindschaftsrecht den Kindern das "Recht auf gewaltfreie Erziehung" zugesprochen und "körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen" für unzulässig erklärt wurden (Paragraph 1631, Absatz 2, Satz 1 des BGB). Auch alte Menschen sowie, in geringerem Umfang, Männer können Opfer innerfamilialer Gewalt sein. Sichere Befunde zum quantitativen Ausmaß all dieser Phänomene gibt es kaum, und Angaben dazu schwanken stark. Die Kriminalstatistik sagt wenig darüber aus, und die Dunkelziffer ist sehr hoch.

Die Ursachen dieser problembehafteten Formen familialer Beziehungen sind vielfältig. Dazu gehören die schon angeführten strukturellen und persönlichen Faktoren, welche das Verhältnis der Familienmitglieder zueinander beeinträchtigen können. Eine geringe soziale Einbettung und fehlende soziale Unterstützung, aber auch Kontrolle, vor allem jedoch fehlende persönliche Anerkennung und sozialer Ausschluss kommen hinzu. Zu weiteren individuellen Faktoren, die das Risiko der Gewaltanwendung erhöhen, gehören eigene Erfahrungen mit Gewalt in der Herkunftsfamilie. Auch persönliche Überforderung und psychischer Stress in der familiären Handlungssituation fördern Aggression und Gewalt. Damit verbunden sind oft problematische Verhaltensweisen wie Alkoholmissbrauch oder verbale Aggressivität zwischen den Familienmitgliedern. Schließlich werden bestimmte Persönlichkeitsmerkmale als maßgebende Faktoren genannt. Häufen sich die Risikofaktoren, ist die Wahrscheinlichkeit für problematische Entwicklungen sehr hoch.

QuellentextGefährliches Zuhause

[...] Der gefährlichste Ort für Frauen ist ihr Zuhause. Nirgendwo sonst werden sie so oft beleidigt, bedroht, geschlagen und sogar getötet. Jede vierte Frau, heißt es in einer Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums, habe körperliche oder sexuelle Gewalt durch Beziehungspartner erlebt. Allzu oft sind Kinder dabei, werden Zeuge oder sogar selbst Opfer. Der Ort, der Liebe und Geborgenheit geben soll, wird nicht selten zur Hölle.
"Gewalt in Paarbeziehungen tritt häufig auf, nachdem Paare in eine gemeinsame Wohnung gezogen sind, geheiratet und/oder Kinder bekommen haben; sie dauert nicht selten über viele Jahre hinweg an und steigert sich mit der Dauer in Häufigkeit und Intensität", heißt es in der Studie der Universität Bielefeld.
Nach der Kriminalstatistik, die alle von der Polizei bearbeiteten Straftaten zählt, sind die Täter in mehr als 75 Prozent aller Frauenmorde Verwandte oder enge Bekannte, mithin überwiegend Ehemänner und Lebenspartner.
Auch im Bereich der Körperverletzungen ist die Statistik alarmierend. Wiederum waren zwei Drittel aller Täter mit den weiblichen Opfern verwandt oder bekannt. Selbst bei vielen anderen Delikten wie Freiheitsberaubung, Vergewaltigung oder sexueller Nötigung stammen die Täter überproportional häufig aus dem engsten Umfeld. [...]
Gewalt in der Familie durchziehe alle Schichten, berichtet Peter Franz, 51, Leiter des polizeilichen Opferschutzes in Hamburg. [...] Oft seien misshandelte Frauen nicht in der Lage, sich aus eigener Kraft von dem gewalttätigen Partner zu lösen.
Deshalb erhält "Pro Aktiv", die Interventionsstelle bei häuslicher Gewalt in Hamburg, nach jedem Polizeieinsatz Name und Telefonnummer des Opfers - sofern es einverstanden ist. "Wir helfen bei den ersten Schritten in einer akuten Krisensituation", sagt Sabine Voigt, 50, die Leiterin der Einrichtung.
Rund 900 Opfer häuslicher Gewalt hat Pro Aktiv im vergangenen Jahr [2006] unterstützt, etwa wenn beim Familiengericht ein Hausverbot gegen den Gewalttäter durchzusetzen ist oder wenn ein Rechtsanwalt vermittelt werden muss. Notfalls sorgt die Einrichtung auch für eine Bleibe und etwas Bargeld für die ersten Tage.
60 Prozent der Frauen, die zu Voigt kommen, sind Migrantinnen, in zwei Drittel der Fälle sind Kinder betroffen. Voigt: "Oft bringt die Angst um die Kinder die Frauen dazu, sich bei uns zu melden." [...]
Für Kinder hat Gewalt in der Familie fast immer dramatische Folgen, selbst wenn kein Elternteil während des häuslichen Schlagabtauschs sein Leben verliert. Entweder müssen sie die verbalen Attacken mitanhören, oder - schlimmer noch - sie müssen zusehen, wie der Vater die Mutter verprügelt. Und allzu oft wendet sich die Gewalt auch gegen sie. [...]

Andreas Ulrich, "Tödliche Aussprache", in: SPIEGEL special Nr. 4 vom 7. August 2007, S. 114ff.

Erziehung und Sozialisation

Im Zuge der Sozialisation entwickelt sich der junge Mensch zu einer individuellen Persönlichkeit und wird zum vollwertigen Mitglied der Gesellschaft. Der Jugendsoziologe und Pädagoge Klaus Hurrelmann, der den aktiven Part des Kindes besonders betont, definiert: "Sozialisation bezeichnet (...) den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt."

Die Familie hat neben engen Beziehungen in Verwandtschaft und Freundschaft als "primäre" Sozialisationsinstanz zentralen Anteil an der Entwicklung der Kinder. Einerseits wird die Ausbildung der individuellen Identität und Handlungsfähigkeit des Kindes gefördert oder gar erst ermöglicht. Andererseits werden ihm Wertorientierungen und Verhaltenserwartungen vermittelt, die im Umgang mit anderen Menschen und sozialen Institutionen in unserer Gesellschaft wichtig sind. Verwandte sowie Freundes- und Gleichaltrigengruppen (peers) können Unterstützung bieten und im Fall von Problemen, die in Familien entstehen können, Belastungen für die Kinder vermindern. Gesellschaftliche Institutionen und Organisationen, wie die Schule und andere Bildungseinrichtungen, werden als "sekundäre" und Freizeitorganisationen, Medien und Gleichaltrige als "tertiäre Sozialisationsinstanzen" betrachtet. Sie und die soziale Umwelt beeinflussen - positiv wie negativ - die Primärsozialisation in der Familie.Zu den institutionellen Rahmenbedingungen gehören die ganze Palette der Familienpolitik mit ihren materiellen Transfers und Steuererleichterungen sowie die Unterstützung durch außerfamiliale Organisationen und Fördereinrichtungen, wie Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe (insbesondere Kinderkrippen und -gärten) sowie Schulen und andere Bildungsinstitutionen.

Man kann argumentieren, dass die institutionelle Übernahme von familialen Aufgaben, etwa im Bereich der Kinderversorgung und -betreuung, den Eltern die Kinder immer mehr entzieht und damit deren Autorität und Verantwortung untergräbt. Auch kann die Qualität dieser Einrichtungen in Zeiten knapper Mittel zur Klage Anlass geben. Aber für den Fall, dass die Erziehungsleistungen in einzelnen Familien nicht ausreichen, und um Kindern gleiche Chancen einzuräumen, wird übereinstimmend eine frühzeitige außerfamiliale Unterstützung befürwortet. Sie kann auch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet förderlich wirken, indem sie den Eltern Freiräume schafft, was deren Lebenszufriedenheit und damit wiederum der Sozialisation der Kinder zuträglich sein dürfte.

Doch häufig wird beklagt, dass die verschiedenen Sozialisationsinstanzen, etwa Elternhaus und Schule, zu wenig vernetzt seien, um den Kindern ein verlässliches und möglichst konstruktives Sozialisationsumfeld zu bieten (Erziehungspartnerschaft).

Wenn Heranwachsende zunehmend in soziale Beziehungen und Aktivitäten außerhalb der Familie oder des näheren familialen Umfelds wie beispielsweise Schule, außerschulische Lernorte oder weiter entfernt wohnende Freunde eingebunden werden, kommt es zur "Verinselung" oder Zersplitterung ihrer Lebenswelt, die auch die Eltern in mehrfacher Hinsicht herausfordert. Sie führt zu einem steigenden Aufwand allein schon für den Hin- und Her-Transport von Kindern zu ihren Freunden und Aktivitäten. Die wohnungsnahen Freiräume für das selbstbestimmte Spiel von Kindern gibt es, wenn überhaupt, meist nur noch auf dem Lande, Kinder bedürfen also zunehmend "flächendeckender" Beaufsichtigung.

QuellentextDie Spielräume werden enger

[...] Hatten Kinder in Deutschland vor 20 Jahren einen Spielradius von 20 Kilometern, bewegen sie sich heute höchstens vier Kilometer von zu Hause fort; sie verbringen gerade mal zwölf Stunden in der Woche außer Haus. Und wenn sie draußen sind, dann fast ausschließlich in Gehegen wie Trainings- oder Spielplätzen mit DIN-gemäßen und TÜV-geprüften Gerätschaften.
Nun klingen all die Erzählungen der Erwachsenen, wie sie mal aus Versehen das Feld vom Bauern Müller angezündet haben, weil sie mit dem Benzinkanister grillen wollten; wie sie unten am Fluss übernachtet haben oder in der Stadt in alten Ruinen herumstromerten; - all diese Erinnerungen klingen für viele heutige Kinder wie Geschichten aus einem fernen Land. Teilweise sind sie das auch: Die BRD der Sechziger- und Siebzigerjahre mit ihren Kriegsbrachen hat wenig zu tun mit dem Land, in dem unsere Kinder heutzutage aufwachsen. Die Stadt ist ein optimal genutzter Raum. Brachen, Wildwuchsflächen, vollgerümpelte Hinterhöfe gibt es kaum noch, schließlich ist das potenzieller Baugrund. [...]
Laut einer Studie des britischen Innenministeriums spielen 33 Prozent aller Kinder bis zu zehn Jahren nie ohne Aufsicht Erwachsener im Freien. Dieselben Eltern wundern sich, wenn ihre Kinder kaum noch dazu in der Lage sind, Spiele zu erfinden und die Eltern dauernd fragen, was sie machen sollen. [...]
Die dank der Elternängste neu entstandene Kindersicherheitsindustrie reibt sich die Hände: Jeder dritte Achtjährige besitzt ein Telefon, damit die Eltern wissen, wo ihr Kind gerade ist. Einige Telefongesellschaften bieten Rundumüberwachung an. Ist das Kind nicht pünktlich zu Hause, können die Eltern es über ihren Computer via GPS auf zehn Meter genau verorten. Bei anderen Handys kann man einstellen, dass sich das Kind nur 500 Meter von zu Hause fortbewegen kann; wird der Radius überschritten, sendet das Handy eine SMS an die Eltern. Da ist es schwer, ein Baumhaus zu bauen. [...]
Eines der erfolgreichsten Sachbücher in Amerika und England war in den vergangenen Jahren übrigens das "Dangerous Book for Boys", ein Buch, das Jungen erklärt, wie man Feuer macht, Baumhäuser baut, Pfeile schnitzt. Ein Zwölfjähriger schrieb an den Verlag einen Dankesbrief, weil ihm das Buch zum ersten Mal gezeigt habe, "dass es okay ist zu spielen".

Alex Rühle, "Ich sehe was, was du nicht siehst", in: Kinderleben. Das Familienmagazin der Süddeutschen Zeitung, 2/2008, S. 10ff.

Ein anderer außerfamilialer Bereich, der massiv auf die Sozialisation der Kinder Einfluss nimmt und dem sich die Eltern stellen müssen, sind die Medien wie Printmedien, Fernsehen, Mobiltelefone, Computerspiele und Internet. Von früh an versuchen ihre Anbieter die Kinder als Konsumenten zu gewinnen. Dabei verfolgen sie vorwiegend wirtschaftliche Ziele, die nicht unbedingt den Interessen der Kinder dienen, sie oft sogar gefährden können.

Die Ressourcen, die Eltern zur Verfügung stehen, haben Auswirkungen auf die Sozialisationsbedingungen ihrer Kinder. Vom Einkommen und Vermögen der Eltern hängen Angebote und Ausstattungsmöglichkeiten ab, die einen wichtigen Einfluss auf die soziale Teilhabe ihrer Kinder und das Anregungspotenzial in ihrem familialen Alltag haben. Eine schwierige Einkommenssituation, materielle Armut und Arbeitslosigkeit der Eltern können sich daher belastend auf die Erziehung der Kinder auswirken, zu Problemen in der Schule führen, die sozialen Kontakte der Kinder beeinträchtigen, ihnen soziale Anerkennung versagen und schließlich physische und psychische Beeinträchtigungen zur Folge haben. Oft führen schwierige wirtschaftliche Verhältnisse zu einer hohen Stressbelastung, die das Entwicklungsumfeld der Kinder stark stören und vereinseitigen kann.

Es ist umstritten, wie stark die Zusammensetzung der Familie die Sozialisation der Kinder beeinflusst. Wegen der Zunahme von Scheidungen und Trennungen wachsen immer mehr Kinder in Ein-Eltern-Familien, Stieffamilien und nichtehelichen Familienformen auf. Allgemeine Aussagen dazu, inwieweit diese die Entwicklung der Kinder beeinträchtigen oder fördern, sind nicht möglich. Zu viele Dinge spielen dabei zusammen. Da aber zum Beispiel das Armutsrisiko für Ein-Eltern-Familien im Vergleich zu anderen Familien wesentlich höher ist, leitet sich schon daraus ein größeres Risiko ab, dass Kinder aus diesen Familien benachteiligt werden.

8- bis 11 Jährigen (in %) beklagen, dass ihre Eltern zu wenig Zeit haben

Auch die Zeit, die Eltern mit ihren Kindern verbringen, spielt für deren Sozialisation eine Rolle. Je weniger Familienzeit zur Verfügung steht, so könnte man schließen, desto eher besteht die Gefahr, dass Kinder - auch schon in früherem Alter - auf sich allein gestellt sind oder gar verwahrlosen. Da die Zeitknappheit vor allem dadurch entsteht, dass beide Eltern berufstätig sind, müssten grundsätzlich Kinder in allen sozialen Schichten der Bevölkerung davon betroffen sein. Befunde der World Vision Studie 2007 für Deutschland zeigen aber, dass keine einfachen Schlüsse zu ziehen sind: "Insgesamt geben 13 Prozent der Kinder an, ihre Eltern hätten beide zu wenig Zeit bzw. ein Elternteil habe zu wenig oder selten Zeit für sie. Davon sind es aber 35 Prozent derjenigen Kinder, die mit einem erwerbstätigen alleinerziehenden Elternteil zusammenleben und 28 Prozent, deren Eltern arbeitslos sind. Aus Sicht der Kinder ist folglich weniger das Ausmaß der Erwerbstätigkeit derEltern ein Indikator für Zuwendungsdefizite, sondern zusätzliche Belastungen, wie sie etwa Alleinerziehende haben oder die Alltagssituation in Familien, in denen Arbeitslosigkeit das Leben dominiert." Auch sind extreme Formen der Vernachlässigung, wie sie etwa im 19. Jahrhundert in Arbeiterfamilien häufig vorkamen, heute sehr selten. Zudem ist nicht allein die Quantität, sondern vielmehr die "Qualität" der Beschäftigung von Eltern und Kindern miteinander in der zur Verfügung stehenden Zeit wichtig.

Wie Eltern und Kinder mit Problemen oder Belastungen umgehen, wie sie Probleme lösen und Stress bewältigen können, ist bedeutsam für die Sozialisation. Da Eltern die Entwicklung ihrer Kinder stark beeinflussen, wirken sich ihre persönlichen Überzeugungen und Leitbilder wesentlich aus. Diese haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert. Die Leitbilder von Gehorsam und Unterordnung sind abgelöst worden durch Selbstständigkeit, Autonomie und freien Willen, Toleranz und Durchsetzungsfähigkeit. Allerdings scheinen unter der über 16-jährigen Bevölkerung Erziehungsziele wie Höflichkeit, Benehmen und Gewissenhaftigkeit bei der Arbeit kaum an Bedeutung verloren zu haben.

Erziehungsstile

Auch die Erziehungsstile haben sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Der autoritäre, strenge und (körperlich) strafende Stil des "Befehlshaushalts" ist zunehmend dem kameradschaftlichen Stil eines "Verhandlungshaushalts" gewichen. Trotzdem ist der Anteil von Familien, in denen die Eltern-Kind-Beziehung konfliktbeladen ist oder die Eltern streng sind und sich den Kindern weniger zuwenden, noch erheblich. Die Familiensoziologin Yvonne Schütze berichtet, dass heutzutage von diesem Stil vor allem Kinder betroffen sind, die in wirtschaftlich und sozial benachteiligten Familien, mit einem alleinerziehenden Elternteil oder in "Mehrelternfamilien" (Mütter und Väter mit neuen Partnern und unter Umständen deren Kindern) aufwachsen.

Empirische Analysen beschäftigen sich mit den Auswirkungen verschiedener Erziehungsstile. Danach scheint sich vor allem ein "autoritativer" Erziehungsstil bewährt zu haben, um "Eigenverantwortlichkeit" und "Gemeinschaftsfähigkeit" zu fördern. Er kontrolliert und setzt Grenzen, bleibt flexibel, begründet Forderungen, akzeptiert das Kind und setzt sich ernsthaft mit dem Kind und seinen Interessen auseinander. Der Familienpsychologe Klaus Schneewind spricht von "Freiheit in Grenzen". Der "autoritative" Erziehungsstil wird mittlerweile vielfach als Erziehungsmodell empfohlen und mit Anschauungsmaterial Familien näher gebracht.

Kinder lernen durch ihre Erfahrungen im Elternhaus. Diese beeinflussen nachgewiesenermaßen ihr späteres Bindungs- und Familienverhalten, ihre Orientierungen und Überzeugungen oder Lebensziele (intergenerationale Transmissionseffekte). Exakte Belege für solche generationsübergreifenden Übertragungseffekte sind nur schwer zu gewinnen und verlangen langfristig angelegte Entwicklungsstudien. In einer solchen Studie des amerikanischen Familienforschers Vern Bengtson, der das Leben kalifornischer Mittelstandsfamilien über vier Generationen hin untersucht hat, konnten nicht nur Effekte der Werteübertragung zwischen Eltern und Kindern, sondern auch zwischen Großeltern und Enkelkindern nachgewiesen werden.

Organisation des Alltags

Die Organisation des Paar- und Familienalltags ist komplizierter geworden. Da heutzutage beide Partner oder Eltern häufig berufstätig sind, muss mehr koordiniert werden, sind unterschiedliche Interessen miteinander in Einklang zu bringen.

Beziehungen, die auf Liebe und emotionaler Zuwendung beruhen, sind so zu organisieren, dass alle Beteiligten das Arrangement gerecht finden. Die Zeiten sind vorbei, in denen sich Ehepartner bereitwillig in ein klar vorgegebenes Raster von Aufgaben- und Rollenzuweisungen fügten, weil dies nach dem bürgerlichen Familienideal als Ausdruck gegenseitiger Liebe verstanden werden konnte oder weil dieses Muster durch konventionellen Zwang vorgegeben war. Heute handeln Partner und Eltern häufig in einem komplizierten Balance-Akt aus, wie sie am besten die emotionale mit der zweckmäßigen Seite einer Partnerschaft verbinden.

So sehr sich die Geschlechtsrollenbilder in unserer Gesellschaft geändert haben mögen - die Aufgaben sind nach wie vor geschlechtstypisch verteilt. Während die Frauen mehrheitlich waschen, bügeln, putzen, kochen, einkaufen und die Kinder betreuen, übernehmen die Männer eher Reparaturen und kümmern sich um finanzielle und behördliche Dinge. Frauen verbringen im Durchschnitt mehr Zeit mit Hausarbeit als Männer, auch wenn beide vollzeiterwerbstätig sind.

Die Ursachen für dieses überholte Rollenverständnis in den Familien und Paargemeinschaften sind nicht einfach zu benennen. Sicher gibt es immer noch Verhaltensnormen, zu denen unter anderem soziale Erwartungen an ein typisches Verhalten von Männern und Frauen im Haushalt gehören, die während der Kindheit vermittelt und verinnerlicht werden. Auch die Zuweisung der Geschlechter zu bestimmten Rollenmustern von Seiten der sozialen Umwelt und gesellschaftlicher Institutionen dürfte weiterhin für die Arbeitsteilung innerhalb von Partnerschaften bedeutsam sein.

Eine Arbeitsteilung im Haushalt ist ja auch durchaus sinnvoll, weil sie die Effizienz des Haushaltens vergrößert. Dass jeder alles macht, ist nicht erstrebenswert. Das Problem ist nur, wie die Hausarbeit organisiert wird und wie verhindert wird, dass man immer wieder aushandeln muss, wer was übernimmt. Die Übertragung traditioneller Geschlechtsrollenbilder könnte dabei eine Rolle spielen. Die Menschen greifen - unbewusst und ohne die Konsequenzen für sich zu bedenken - auf Muster zurück, den Alltag zu regulieren, die sie in der Kindheit kennen gelernt haben, so eine These. Aber auch andere Strategien sind beim internen Kampf um die Hausarbeit möglich - vor allem dann, wenn die Hausarbeit in einer Beziehung eine zunehmend untergeordnete Rolle spielt und pragmatische Lösungen gesucht werden. Personen, die sich weniger engagieren, profitieren vom Einsatz anderer Haushaltsmitglieder: Sie folgen dem Prinzip des geringsten Interesses (principle of least interest) und verhalten sich als "Trittbrettfahrer". Eine Aufgabe im Haushalt muss nur hinreichend lange liegen gelassen werden, bis jemand anderes sie aus eigenem Interesse erledigt. Ein Beispiel ist das Putzen: Derjenige Partner, der Schmutz am wenigsten erträgt, der die niedrigere Schmutzschwelle hat, wird eher beginnen zu putzen, und somit kommt der andere aufgrund seines - realen oder vorgetäuschten - geringeren Interesses an Sauberkeit in den Genuss einer sauberen Wohnung, ohne sich aktiv beteiligen zu müssen.

Aufgabenverteilung im Haushalt

Doch so einheitlich traditionell, wie das Bild sich zunächst darstellt, ist die Arbeit in deutschen Haushalten nicht verteilt. In der Bundesrepublik gibt es zwischen Regionen und Lebensformen Unterschiede: In Ostdeutschland sind die Männer stärker an der Hausarbeit beteiligt als in Westdeutschland. In nichtehelichen Lebensgemeinschaften ist die Arbeitsteilung weniger traditionell, wenn auch in der Regel nicht gleichgewichtig organisiert. Es gibt Unterschiede zwischen verschiedenen Familienphasen. Die gleichberechtigte Organisation des Haushalts zwischen den Partnern klappt häufig solange, wie keine Kinder im Haushalt sind. Die Familiengründung ist dann spätestens der Zeitpunkt, zu dem das traditionelle Muster der Erledigung von Hausarbeit Oberhand gewinnt. Es trifft die Mutter, da sie in der Regel für einige Zeit zu Hause bleibt und dabei nicht nur die Kinder versorgen, sondern auch alle anderen Tätigkeiten überwiegend übernehmen kann. Offensichtlich gelingt es in den meisten Fällen nicht, im Vorfeld der Familiengründung die Männer an den gestiegenen Haushaltsbelastungen zu beteiligen. Die Tatsache, dass dies immer mehr eingefordert wird, soll mutmaßlich ein Grund dafür sein, dass immer mehr Männer darauf verzichten (wollen), eine Familie zu gründen.

Die Beteiligung der Kinder am Haushalt dürfte gering sein. Umfassendere Studien dazu gibt es nicht. Waltraud Cornelißen und Karen Blanke geben 2004 in ihrer Auswertung der Zeitbudgetdaten des Statistischen Bundesamts durchschnittlich eine Stunde "Familienarbeit" pro Tag für Jungen und je nach Alter eineinviertel bis anderthalb Stunden für die Mädchen an.

Auch der rasante Fortschritt der Technik, die bei Hausarbeiten zum Einsatz kommt, hat den zeitlichen Aufwand für Hausarbeit offensichtlich nicht entscheidend verringert. Sie bringt zwar Einsparungen mit sich, schafft aber auch neue Tätigkeitsfelder und -möglichkeiten. Waschmaschinen erleichtern die Reinhaltung der Bekleidung, dafür wird aber auch ein mehr an Kleidung öfter als früher gewaschen (und gebügelt). Eher noch könnte eine weitere Auslagerung von Aufgaben Entlastung schaffen. Damit ist nicht nur die Kinderbetreuung gemeint. Bei der Essenszubereitung kann man auf vorgefertigte Gerichte zurückgreifen. Fast Food hat die Ernährungsgewohnheiten vieler Menschen nachhaltig verändert, und Kinder sind besonders davon betroffen. Oder, wer es sich leisten kann, geht mittags in die Kantine und abends in ein Restaurant. Das Für und Wider dieser Angebote wird allerdings - auch in Hinblick auf die gesundheitlichen Begleitaspekte - kontrovers diskutiert.

Familie und Sozialstatus

Die Leistungen der Familie für ihre Mitglieder hängen wesentlich von den verfügbaren Ressourcen ab, darunter Geld und Vermögen, Bildung und soziale Beziehungen. Wie unterscheiden sich die Lebenslagen von Familien in dieser Hinsicht und wie stark sind diese Unterschiede mit den verschiedenen Familien- und Lebensformen verbunden?

Karikatur

Die Forschung zur sozialen Ungleichheit in einer Gesellschaft hat die Familie stark vernachlässigt. Soziale Ungleichheit wurde aus der gesamtgesellschaftlichen Perspektive betrachtet und als Ungleichheit zwischen sozialen Schichten untersucht und dokumentiert. Diese waren über den Berufsstatus, das Bildungsniveau und das Einkommen bestimmt. Kinder kommen in dieser Forschungstradition ebenfalls nicht ausreichend vor.

Materielle Armut

Die öffentliche Diskussion rückt den Zusammenhang zwischen Familie, Familienformen, Kinderzahl und sozialer Ungleichheit immer stärker in den Vordergrund - nicht zuletzt wegen der von vielen als skandalös empfundenen hohen Armutsquote von Kindern.

So wird im Datenreport 2008 des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2006 eine Armutsquote für Kinder bis 17 Jahren von 16,5 Prozent ausgewiesen. Betroffen von Armut sind vor allem Ein-Eltern-Familien, in denen überwiegend die Mütter mit ihren Kindern leben (35,4 Prozent). Auch Familien mit Migrationshintergrund sind überdurchschnittlich von Armut betroffen.

Einkommensverteilung nach fmilialen Lebensformen 2006

Die Einkommenssituation von Familien unterscheidet sich also sehr voneinander. Mehr als die Hälfte der alleinerziehenden Frauen verfügt nach Schätzungen des Statistischen Bundesamts über ein Familiennettoeinkommen unterhalb von 1300 Euro, das Pro-Kopf-Einkommen ist entsprechend niedrig. Der Spielraum für Ausgaben ist gering. In einer ähnlichen Situation befinden sich Familien mit vielen Kindern.

Kinder zu haben kann also erhebliche wirtschaftliche und damit auch soziale Benachteiligungen mit sich bringen. Beides ist in der Regel nicht auf das Unvermögen der Betroffenen zurückzuführen, sondern zu einem großen Teil Folge struktureller Behinderungen und "Rücksichtslosigkeiten" in der Gesellschaft, die Familien benachteiligen. Die materiellen Folgen sind wesentlich durch den Rückzug der Frauen aus dem Arbeitsmarkt nach der Familiengründung verursacht. Die größten Einbußen im Haushaltseinkommen treten nach der Familiengründung auf, wenn die Mütter nicht mehr oder nur reduziert arbeiten gehen, mit jedem weiteren Kind sinkt dann das Pro-Kopf-Einkommen weiter. Letztlich ist die schwierige Vereinbarkeit von Elternschaft und Erwerbstätigkeit also eine wichtige Ursache für sinkenden materiellen Wohlstand in Familienhaushalten.

Lebenslage von Familien

In der Ungleichheitsforschung herrscht seit einiger Zeit Konsens, dass das Einkommen und das Ausbildungsniveau von Menschen sowie eine daran festgemachte Zuordnung zu sozialen Schichten nicht genügt, um soziale Ungleichheit ausreichend zu charakterisieren und ihre Auswirkungen auf das Leben der Menschen darzustellen. Die Lebenslage der Menschen ist umfassender zu beschreiben - auch wenn sich daran zeigen lässt, wie viel letztendlich doch von Einkommen und Qualifikation abhängt. Zu weiteren Kriterien sozialer Ungleichheit gehören Aspekte der sozialen und beruflichen Sicherheit, Arbeits- und Freizeitbedingungen sowie regional unterschiedliche Lebensbedingungen. Formen der Benachteiligung bzw. Diskriminierung von sozialen Gruppen aufgrund ihrer ethnischen Identität, des Geschlechts oder sexueller Neigungen sind ebenfalls zu beachten.

Auch die Lebens- und Familienform ist Teil der Lebenslage von Personen und beeinflusst ihr individuelles Wohlbefinden, wenngleich auf andere Weise als Geld oder materieller Wohlstand. Allerdings beeinträchtigen materielle bzw. finanzielle Probleme vermutlich die Chancen, einen Partner oder eine Partnerin zu finden sowie eine Familie zu gründen und gefährden den Sozialisationserfolg von Eltern. Zu der materiellen Misere kommt daher oft die soziale hinzu.

Umgekehrt suchen Menschen, denen eine erfolgreiche Ausbildung oder berufliche Laufbahn verwehrt zu sein scheint, möglicherweise den Sinn ihres Lebens in der Elternschaft. So lassen sich zum Beispiel Fälle von Teenagemutterschaft begründen, die in der Bundesrepublik im Unterschied zu den USA oder Großbritannien allerdings selten sind. Die Mädchen versprechen sich von einer Mutterschaft eine Klärung ihrer eigenen Zukunft. Faktisch verbauen sie sich möglicherweise ihre Lebenschancen, wenn ihnen nicht geholfen wird, doch eine Ausbildung zu absolvieren und einen Beruf zu ergreifen. Die unvorteilhaften Lebensbedingungen dieser jungen Frauen am Beginn des Erwachsenenalters können sich darüber hinaus negativ auf die Lebenschancen ihrer Kinder auswirken.

Es gibt weitere Faktoren, an denen sich die Benachteiligungen in den Lebenslagen von Familien zeigen lässt. Familien mit vielen Kindern leiden in West- und Ostdeutschland oftmals unter schlechten oder beengten Wohnbedingungen. Sie leben zudem häufiger in Stadtvierteln mit mangelhafter Infrastruktur und schlechter Bausubstanz und in "sozialen Brennpunkten" der Städte. Untersuchungen zeigen auch, dass sie auf viele Konsumgüter verzichten und an Ausgaben für Möbel, Kleider und Qualitätsprodukte, Urlaub und Freizeitaktivitäten sparen müssen. Sie sind, was ihre Gesundheit, belastende Lebensereignisse, ihr subjektives Wohlbefinden, Alltagsprobleme und persönliche wie materielle Unterstützung durch soziale Netzwerke betrifft, schlechter gestellt.

Bildungsvererbung

In Familien wird soziale Ungleichheit weitergegeben. Offensichtlich haben Kinder aus Familien niedriger Einkommensstufen und eines niedrigeren Bildungsgrades, wie Arbeiter- und Migrantenfamilien, deutlich schlechtere Chancen, einen hohen Bildungsabschluss zu erreichen oder zu studieren, als Kinder aus wirtschaftlich und sozial privilegierten Familien mit hohem Bildungsniveau. Die Ergebnisse der PISA-Studien haben dieses auch Bildungsvererbung genannte Phänomen für alle beteiligten Nationen belegt. Für Deutschland ist dieser Zusammenhang besonders stark.

Ausländer und Deutsche: Ungleiche Bildungswege

Er ist auf zahlreiche Ursachen zurückzuführen: Kinder aus statushöheren Elternhäusern können aufgrund der materiellen Besserstellung wirksamer gefördert werden und sind besser auf die Anforderungen in der Schule vorbereitet. Auch ist der Anteil des Einkommens, den diese Familien für die Bildung und berufliche Zukunft ihrer Kinder aufwenden, geringer als in statusniedrigeren Familien. Letztere müssen daher unter Umständen auf mehr verzichten (Opportunitätskosten), und sie streben deshalb eher nach einer Entlastung, das heißt nach einer kürzeren Bildungslaufbahn der Kinder.

Kinder aus statushöheren Elternhäusern können in der Regel von höheren Wissens- und Bildungskompetenzen der Eltern und einem intellektuell anregenderen Klima profitieren. Sie sind damit auch besser auf die sozialen und kulturellen Anforderungen in der Schule vorbereitet.

Eltern haben zudem unterschiedliche Bildungs- und Berufsziele für ihre Kinder. So wollen Eltern mit einem hohen sozialen Status in der Regel einen Statusverlust für ihre Kinder vermeiden. Für Eltern aus statusniedrigen Schichten ist dieses Motiv weniger wichtig. Ein höherer Bildungsabschluss der Kinder wird von ihnen möglicherweise gar nicht so hoch bewertet, weil ein zu starker Bildungsaufstieg der Kinder dazu führen könnte, dass sich ihre und die Interessen ihrer Kinder zu sehr voneinander entfernen. Die "Bildungsaspiration" von Eltern ist also unterschiedlich hoch.

In statusniedrigeren Familien werden die Risiken einer langen Ausbildung höher eingeschätzt, und ihre Kinder müssen vergleichsweise mehr leisten, damit ihnen eine längere Ausbildung mit dem Ziel eines akademischen Abschlusses zugestanden wird. Die frühe Entscheidung für eine weiterführende Schule in Deutschland (in den meisten Bundesländern nach dem 4. Schuljahr) ist daher besonders ungünstig.

Ein Grund hat allerdings nichts mit der Familie zu tun: Kinder aus sozial schwächeren Familien werden in der Schule, wenn ihre Leistungen eingeschätzt und die Schulempfehlung am Ende der Grundschule ausgesprochen wird, systematisch benachteiligt.

Beziehungen zwischen den Generationen

Die familiären Beziehungen zwischen den Generationen sind auch im Alter für die individuelle Wohlfahrt der Menschen sehr wichtig. Die These vom Zerfall der Familie, die behauptet, dass dieses Solidarnetzwerk immer weniger funktioniert, ist aufgrund der Befunde vieler Studien nicht zu halten. Dies zeigen beispielsweise die Analysen der beiden Erhebungen des Alterssurveys, in denen in den Jahren 1996 und 2002 umfassende Informationen über das Leben älterer Menschen in Deutschland erhoben worden sind. Familienbande sind stark, das gilt bis heute. Die Alterssurveys belegen auch, dass Familie nicht an Haushaltsgrenzen endet, sondern über räumliche Distanzen hinweg als soziales Solidarnetzwerk funktioniert. Und die Generationenbeziehungen werden sogar wichtiger, so die allseits geteilte Auffassung der Familienforschung.

Familienmitglieder unterschiedlicher Generationen verbringen wegen der steigenden Lebenserwartung heute eine so lange Lebenszeit miteinander wie nie zuvor. Das hat zu einer Verstetigung bzw. Dauerhaftigkeit der verwandtschaftlichen Beziehungen geführt und gilt, obwohl Paarbeziehungen zunehmend brüchig werden. Das Verhältnis von Kindern und (Groß)Eltern ist in der Regel unkündbar und daher stabiler und verlässlicher. Ein weiteres Phänomen, das auch in der internationalen Forschung immer öfter betont wird, ist, dass die Großeltern an Bedeutung gewinnen.

Wegen der zurückgehenden Geburtenzahlen verringert sich allerdings das "Personal". Mehr, aber weniger stark besetzte überlebende Generationen sind die Folge dieser Entwicklung, die so genannten Bohnenstangen-Familien. Die drei oder vier Generationen leben, wenn die (Groß)Eltern schon betagt sind, eher nicht in einem Haushalt zusammen. Ältere Kinder und ihre Eltern wohnen aber zu einem hohen Anteil relativ nahe beieinander. Die räumlichen Voraussetzungen für gegenseitige Unterstützung auch im alltäglichen Leben sind daher in der Regel gut. Dabei werden emotionale Nähe und Hilfe sowie Unterstützung durch persönliche Interaktion und Kontakt, materielle und immaterielle Transfers, gegenseitige Hilfeleistung im Alltag oder in Notsituationen, Schenkungen und Vererbung als zentrale Dimensionen der intergenerationalen Solidarität genannt. Demgegenüber betonen andere Forschungen, dass Beziehungen der Generationen untereinander, wie vielleicht allen engen persönlichen Beziehungen, eine eigenartige Ambivalenz innewohne. Diese entsteht durch das Bedürfnis nach Nähe und Solidarität auf der einen Seite und das Streben nach Autonomie bzw. die Abwehr sozialer Kontrolle auf der anderen Seite. Darin ist immer auch der Konflikt als Teil der Realität der Beziehungen zwischen den Generationen angelegt.

Studien belegen, dass Familienmitglieder generell emotional sehr eng verbunden sind. Eltern und Kinder unterstützen sich und kommunizieren eng miteinander, zudem heute räumliche Distanzen einfacher zu überbrücken sind. Nach den Ergebnissen des Alterssurveys 2002 haben von den befragten 75- bis 80-Jährigen mit Kindern fast 90 Prozent mindestens wöchentlich persönlichen Kontakt zu ihnen.

Erbquote und Erbhöhe (in %)

Untersuchungen des Familiensurveys und anderer Studien zeigen auch, welche Leistungen die Generationen füreinander erbringen, wenn Eltern und Kinder ein höheres Alter erreicht haben. Die Eltern unterstützen ihre Kinder überwiegend mit Geld und Sachwerten. Hinzu kommen Schenkungen von Eltern oder Großeltern sowie Erbschaften, die Jahr für Jahr an Umfang und Wert zunehmen. Das heißt natürlich nicht, dass nur materielle Güter vererbt werden, sondern auch Werte, die für die Familie von hoher ideeller Bedeutung sind. Erbschaften bilden somit unter Umständen ein verbindendes Element der Familienbeziehungen, sie geben aber auch Anlass zu erbitterten Auseinandersetzungen.

In der umgekehrten Richtung - von den Kindern zu den Eltern - überwiegen die praktischen Hilfen sowie Dienst- und Pflegeleistungen. Dazu gehört auch die Pflege hilfsbedürftiger alter Eltern. Nur fünf Prozent der Menschen im Alter von 65 und mehr leben in einem Heim. Schätzungsweise werden immer noch neun von zehn Pflegebedürftigen privat in Familien, in der Regel von Frauen, versorgt, wobei natürlich auch auf professionelle Hilfe zurückgegriffen wird. Es liegt aber auf der Hand, dass dieses die Beteiligten zum Teil erheblich belastet, was zu ernsthaften Problemen in den betroffenen Familien führen kann.

QuellentextPflege und Beruf

[...] Für die meisten Arbeitgeber ist es [...] ein großer Unterschied, ob ein Mitarbeiter morgens eine Greisin oder ein Kleinkind füttert. Das eine ist nach wie vor Privatsache, das andere nicht. [...]
Bisher sind Pflege und Beruf ungefähr so schwer zu verbinden wie Kindererziehung und Beruf - und auch dieses Problem müssen in erster Linie Frauen bewältigen, denn pflegende Männer [...] sind noch rar. Während 16 Prozent aller Frauen zwischen 40 und 54 Jahren sich um pflegebedürftige Angehörige kümmern, tun das nur acht Prozent aller Männer gleichen Alters, und dies oft noch in geringerem Umfang. Sie kümmern sich eher ums "Pflegemanagement", heißt es in einer Untersuchung der Universität Mainz. Pflegende Frauen hingegen geben häufig mit Bedauern ihre Stellen auf. Wegen eines Pflegefalls geschehe das genauso oft wie wegen kleiner Kinder, so eine Studie für den jüngsten Altenbericht der Regierung. [...]
Noch stammen die gängigen Vorstellungen davon, wie alte Menschen ihre letzten Wochen und Monate verbringen sollten, aus der Zeit von Großfamilien mit vielen Geschwistern und Enkeln, die alle am selben Ort leben. Tatsächlich werden heute noch mehr als siebzig Prozent aller Pflegebedürftigen zu Hause betreut, in steigendem Umfang von professionellen Pflegekräften, aber oft auch von Angehörigen. Bei alten Männern kümmert sich meist die Ehefrau, bei alten Frauen die nicht berufstätige Tochter oder Schwiegertochter.
In den neuen Bundesländern pflegen mehr Männer ihre Angehörigen als in Westdeutschland, was vermutlich mit der höheren Arbeitslosigkeit dort zusammenhängt. Insgesamt seien die Strukturen in Deutschland "auf die Bedarfe der Pflegebedürftigen, der Betriebe und der traditionellen Aufgabenteilung in der Familie ausgerichtet", heißt es in einem Positionspapier des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Die Pflegenden und ihre Arbeitsplätze kommen in der Debatte bisher kaum vor.
Doch erwachsene Kinder leben häufig nicht mehr am selben Ort wie ihre Eltern. Viele Töchter und Schwiegertöchter haben Jobs, in denen sie flexibel und mobil sein sollen. Gerade auf die Frauen der geburtenstarken Jahrgänge kommen deshalb schwierige Entscheidungen zu. Sie wissen, was von ihnen erwartet wird, wenn die Eltern Hilfe brauchen. Aber wie sollen sie diesen Erwartungen gerecht werden? Und: Wollen sie es überhaupt?
[...] Viele Menschen, die Angehörige pflegen, werden selbst krank. Manchmal quälen sie die hilfebedürftigen Alten sogar und tragen mit Verspätung alte Konflikte aus der Kindheit aus. Oft ertragen sie die psychischen Belastungen nicht. Sie kommen nicht damit zurecht, dass die an Demenz erkrankte Mutter ihre Kinder nicht mehr erkennt oder sich plötzlich Zahnpasta in die Haare schmiert.[...]
"In der Öffentlichkeit ist viel von Missständen in den Pflegeheimen die Rede, aber in den Familien sieht es längst nicht immer besser aus, man erfährt nur weniger von Gewalt und Not", sagt Gabriele Tammen-Parr, Leiterin der Beratungsstelle Pflege in Not in Berlin.[...]
"Neben dem Geschlecht ist vor allem das Einkommen die prägende Dimension gelingender Vereinbarkeit", heißt es im Pflege-Positionspapier des DGB. Je kleiner das Gehalt und je schlechter die Ausbildung, desto größer ist die Bereitschaft, den Beruf zurückzustellen. Da sind schließlich jene 665 Euro im Monat, die die Kassen für die Pflege durch Angehörige zahlen - je geringer das Einkommen, desto eher taugt dieser Transfer als Teilersatz.
Doch für die allermeisten Berufstätigen ist die Pflegeversicherung bestenfalls eine kleine Hilfe. Eine Managerin mit einer 50-Stunden-Woche, deren todkranker Vater in einer anderen Stadt wohnt, braucht nicht in erster Linie Geld, sondern einen kooperativen Arbeitgeber. [...]

Elisabeth Niejahr, "Der heimliche Pflegenotstand", in: Die Zeit Nr. 12 vom 15. März 2007

ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt "Theorie und Empirie der Sozialstruktur" am Institut für empirische und angewandte Soziologie der Univer-sität Bremen. Seine Forschungsgebiete sind die Sozialstruktur-forschung und die Soziologie des Lebenslaufs, insbesondere die Soziologie der Familie und der Lebensformen.

Kontakt: huinink@embas.uni-bremen.de