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Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 | Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 | bpb.de

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Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945

Daniel Mahla

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Jüdisches Leben in Deutschland ist lebendig, vielfältig, widersprüchlich und komplex. Mehr als sieben Jahrzehnte nach dem Ende der NS-Gewaltherrschaft und infolge zwiespältiger Alltagserfahrungen bis hin zu antisemitischen Angriffen auf Juden und jüdische Einrichtungen ist das Verhältnis zur nicht-jüdischen Umgebung jedoch keineswegs unbelastet.

Jüdisches Leben in Deutschland zeigt sich heute vielfältig und bunt, aber auch nicht ungefährdet: In der Alten Synagoge Essen wird im März 2021 die Multimedia-Wanderausstellung "Menschen, Bilder, Orte – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" präsentiert. (© picture-alliance/dpa, Roland Weihrauch)

Der Neuanfang jüdischen Lebens in Deutschland nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft war alles andere als selbstverständlich. Viele Jüdinnen und Juden weltweit standen solch einem Unterfangen ablehnend gegenüber. Auf Deutschland, dem Land der Täter, das für den Holocaust, die Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums, verantwortlich war, lag ein sprichwörtlicher Bann. Dennoch kam es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zum Aufbau von Gemeindestrukturen in den beiden deutschen Staaten, die aufgrund des Ost-West-Konflikts 1949 entstanden waren. Während einige Überlebende des Völkermords – oft aus ideologischen Gründen – in die Deutsche Demokratische Republik, die auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) entstanden war, zurückkehrten, verdankte die zahlenmäßig größere jüdische Gemeinschaft in der Bundesrepublik, die aus den westlichen Besatzungszonen hervorgegangen war, ihre Entstehung in der Nachkriegszeit eher geografischen und geopolitischen Gegebenheiten.

Zwar gab es in den französischen, britischen und US-amerikanischen Besatzungszonen auch aus Deutschland stammende Jüdinnen und Juden, doch das Fundament der jüdischen Gemeinden in Westdeutschland bildeten Überlebende aus Ost- und Zentraleuropa, die im Laufe des Krieges aus ihrer Heimat verschleppt oder versprengt worden waren und nach dem Krieg in den Camps für Displaced Persons (DP-Camps) der westlichen Besatzungszonen Zuflucht gefunden hatten.

In der Phase der deutschen Zweistaatlichkeit bis Ende der 1980er-Jahre befand sich das jüdische Leben in einer eher defizitären Lage. Die Gemeinden zählten nur wenige Mitglieder: Während in Westdeutschland unter 30.000 Jüdinnen und Juden lebten, waren es in der DDR lediglich ein paar hundert. Wieder waren es geopolitische Umstände, die den Umschwung mit sich brachten: Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks wanderten ab den 1990er-Jahren weit über 100.000 Jüdinnen und Juden aus diesen Gebieten in das wiedervereinte Deutschland ein und trugen damit zu einem Aufblühen jüdischen Lebens hierzulande bei. Als Berlin sich dann in den 2000ern zu einem Magneten für Zuwandernde aus aller Welt entwickelte, zog es auch einige tausend Menschen aus Israel in die Metropole sowie in geringerer Anzahl auch in andere deutsche Städte.

Entwicklung der Mitgliederzahlen jüdischer Gemeinden und Landesverbände 1990 bis 2020 (© ZWSt – Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V. Mitgliederstatistik der jüdischen Gemeinden und Landesverbände, https://zwst.org/de/publikationen/statistik)

Parallel dazu kam es in den vergangenen Jahrzehnten in der nicht-jüdischen Bevölkerung zu einer schrittweisen Auseinandersetzung mit dem Völkermord und zu einem verstärkten Interesse an der deutsch-jüdischen Geschichte. Doch persönliche Kontakte mit in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden blieben eher die Ausnahme. Zum einen war deren Anzahl auch nach dem Zuwachs der 1990er-Jahre noch immer verhältnismäßig gering. Zum anderen wurden Jüdinnen und Juden oftmals auf eine reine Projektionsfläche in der deutschen Auseinandersetzung mit dem Holocaust reduziert. Anstatt die Unterschiedlichkeit jüdischer Identitäten und Positionen wahrzunehmen, wird Jüdinnen und Juden in dieser Auseinandersetzung meist eine bestimmte Funktion zugewiesen. In einer Art "Gedächtnistheater", wie es der Soziologe Michal Bodemann in seinem gleichnamigen Buch bezeichnet, wird Jüdinnen und Juden seitens der Deutschen vornehmlich als Opfer gedacht, um sich mit diesem Gedenken selbst und vor der Öffentlichkeit zu entlasten.

Unterbelichtet oder gar ausgeblendet bleiben dabei die enorme Vielfalt und nicht selten Widersprüchlichkeit jüdischer Identitäten und Lebensentwürfe. Bereits die Frage, nach welchen Kriterien eine Zugehörigkeit zum Judentum definiert werden kann, füllt nicht nur Bände religiöser, juristischer und wissenschaftlicher Gelehrsamkeit, sondern beschäftigt ganz konkret immer wieder jüdische Institutionen und Gemeinden. Während auf der kommunalen Ebene konkrete Regelungen gefunden werden müssen, wenn es um die Mitgliedschaft in einer Gemeinde geht, steht es den Einzelnen frei, wie sie ihr Judentum persönlich definieren – ob religiös, kulturell, ethnisch oder auf anderer Basis.

Schließlich ist der Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland nicht verschwunden. Im Gegenteil traten nach dem Holocaust zu überlieferten und rassistischen Vorurteilen weitere Formen des Judenhasses. Neben Beleidigungen und Diffamierungen kommt es dabei immer wieder zu tätlichen Übergriffen. Ein jüngeres Beispiel dafür ist der Anschlag auf die Synagoge in Halle vom 9. Oktober 2019, bei dem nur die Standhaftigkeit der Synagogentür den rechtsradikalen Täter davon abhielt, unter der dort zum Beten versammelten Gemeinde ein Massaker anzurichten. Solche Gewalterfahrungen und die dadurch nötigen Sicherheitsvorkehrungen erschweren nicht selten einen offenen und lebendigen Austausch mit der Nachbarschaft jüdischer Einrichtungen: Nichtsdestotrotz wächst das beiderseitige Interesse und gibt die Hoffnung für ein harmonischeres Zusammenleben.

Dr. Daniel Mahla ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der Ludwig-Maximilian-Universität (LMU) München und Koordinator des Zentrums für Israel-Studien. Er beschäftigt sich mit der modernen jüdischen Geschichte in Zentraleuropa und Palästina/Israel. Seine Monografie "Orthodox Judaism and the Politics of Religion: From Prewar Europe to the State of Israel” ist 2020 erschienen.
Dr. Daniel Mahla hat die Koordination für diese Themenausgabe übernommen.