Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Jüdisches Leben in der DDR | Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 | bpb.de

Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 Editorial Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 Neuanfänge Jüdisches Leben in der Bundesrepublik Jüdisches Leben in der DDR Im vereinten Deutschland Antisemitismus in Deutschland nach 1945 Juden in Deutschland und der Staat Israel Literarische Auseinandersetzungen Jüdische Präsenz auf Bühne, Leinwand und Bildschirm Religiöse Strömungen und jüdische Feiertage Ausblick Glossar Karten Literaturhinweise Impressum

Jüdisches Leben in der DDR

Susanne Talabardon

/ 20 Minuten zu lesen

Die DDR definierte sich als antifaschistischer Staat und moralisch überlegener Gegenentwurf zum westdeutschen Nachbarn. Nach dem Vorbild der Sowjetunion prägten allerdings staatliche Repressionen sowie antizionistische und antiisraelische Propaganda den Alltag vieler Jüdinnen und Juden in der DDR. Erst in den 1980er-Jahren kam es innerhalb der SED zu einem teilweisen Kurswechsel.

Die DDR versteht sich als antifaschistischer Staat: Alfred Neumann, 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, hält am 8. September 1974 eine Rede auf einer Großkundgebung zum Gedenken an die Opfer des Faschismus auf dem Bebelplatz in Ost-Berlin. (© picture-alliance/akg)

Spätestens seit Ende der 1990er-Jahre erschienen eine beachtliche Zahl historischer Arbeiten über die DDR und mit ihr auch Forschungen über die Geschichte der Jüdinnen und Juden im Osten Deutschlands. Erst von diesem Zeitpunkt war der Zugriff auf Archive und Dokumente möglich, die zuvor unter Verschluss gehalten worden waren. So ließ sich Einsicht in die Vorgänge selbst, aber auch in die Motive der damaligen Akteurinnen und Akteure gewinnen. Seit jenen Tagen sind die Grundlinien der wissenschaftlichen Darstellungen fixiert und in groben Zügen allgemein bekannt. Trotzdem ist zu beachten, dass die Auskünfte darüber, wie es der jüdischen Minderheit in der DDR (und in Westdeutschland) erging, oft in bereits vorgezeichnete Erzählungen eingepasst wurden, denen es letztlich vor allem darum ging, das eigene politische System zu legitimieren.

Das Staatsverständnis der SED und das Judentum in der DDR

Alexander Muschik charakterisiert in seinem Artikel "Die SED und die Juden 1985–1990" im Deutschland Archiv von 2012 die Bestrebungen der DDR-Staatsführung wie folgt: "Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 und der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober desselben Jahres führte zu einer Konkurrenzsituation, die die Außenbeziehungen der beiden deutschen Staaten bis zum Ende des Kalten Krieges maßgeblich bestimmen sollte. […] Da die Nichtanerkennungspolitik des Westens die Stabilisierung der DDR dauerhaft gefährdete, suchte die SED die Gründung des zweiten deutschen Staates anderweitig zu legitimieren. Aus diesem Grund stilisierte die SED den Antifaschismus zum Gründungsmythos der DDR, der den ostdeutschen Staat zum moralisch überlegenen und darum rechtmäßigen Deutschland erklärte. […] Diese Geschichtsinterpretation sollte zudem die DDR-Bevölkerung von einer (Mit-)Schuld an den Naziverbrechen freisprechen und sie auf diese Weise an den ‚Arbeiter-und-Bauern-Staat‘ binden. Gleichzeitig aber verhinderte dieser Ansatz eine tiefgreifende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Ostdeutschland, da der SED zufolge das Problem des Nationalsozialismus allein die westdeutsche Gesellschaft betraf."

In beiden deutschen Staaten war die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit beinahe von Anfang an durch den Kalten Krieg geprägt. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ; ab Oktober 1949: DDR) begründeten die Verantwortlichen die gravierenden Eingriffe in das jüdische Leben mit dem Bestreben, sich als "erster sozialistischer Staat auf deutschem Boden" gegenüber dem mächtigeren westlichen Zwilling moralisch zu legitimieren. Das Verhältnis der DDR, des "Arbeiter- und-Bauern-Staates", zu seinen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern stand – weit mehr als das kirchliche Leben der christlichen Minderheit – gleichzeitig im Schatten und im Scheinwerferlicht größerer politischer Prozesse. Das frühe Ende der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der NS-Diktatur, die Propagandakampagnen gegen die Beteiligung hochrangiger Akteure des NS-Regimes in den Regierungen Konrad Adenauers während der 1950er- und 1960er-Jahre, die aggressive Propaganda gegen Israel von 1956 bis 1989 bis hin zum spät einsetzenden Interesse an jüdischer Geschichte: Stets fungierte die Beziehung der DDR zu ihrer jüdischen Minderheit als eine Art Bühnenbild gänzlich anderer Interessen und fand kaum Beachtung um ihrer selbst willen.

Der Schriftsteller und Chronist Günter de Bruyn fasste die Ambivalenz jenes Verhältnisses in seinem Roman "Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht" von 2011 folgendermaßen zusammen: "Die antifaschistische Staatspropaganda verurteilte zwar die Judenverfolgung, gedachte aber nur jener Opfer der Hitlerjahre, die auf kommunistischer Seite gestanden hatten; denn es ging nicht um Trauer und Schuldbewußtsein, sondern um gegenwärtige Politik. Das jüdische Eigentum, das die Nationalsozialisten verstaatlicht hatten, wurde ohne Skrupel als zum sozialistischen Staat gehörend betrachtet und an Wiedergutmachung nicht gedacht. Da die Schuldigen an der Judenverfolgung nach offizieller Lesart alle im Westen saßen, war im neuen Deutschland, wo Optimismus und Zukunftsglaube gefordert wurden, nicht Erinnerungs-, sondern Verdrängungsleistung gefragt."

Zur Erklärung für das Unvermögen der politisch Verantwortlichen in der DDR, eine tragfähige Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur und ihren Verbrechen zuwege zu bringen oder auch nur zuzulassen, diente häufig die "Dimitroffsche Definition" des Faschismus. Der bulgarische Funktionär Georgi Dimitroff (1882–1949), damals Generalsekretär der Kommunistischen Internationale (Komintern), hatte auf dem VII. Weltkongress seiner Organisation 1935 den Faschismus als "offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" bezeichnet.

Diese Deutung dominierte die theoretische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Schule und Universität der DDR. Die "Dimitroffsche Definition" ermöglichte es ihr, sich als naturgegeben antifaschistisch zu verstehen: Da in der ehemalig sowjetisch besetzten Zone der Sozialismus aufgebaut würde, hätten "die am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" dort keine Möglichkeit, ihr unheilvolles Wirken zu entfalten. Die DDR war nach Auffassung der SED der moralisch überlegene Gegenentwurf zur Bundesrepublik und hatte es demzufolge nicht nötig, sich mit Fragen von deutscher Schuld und Verantwortung auseinanderzusetzen. Die Interpretation des deutschen Nationalsozialismus als der aggressivsten Form des Kapitalismus verkürzte die Analyse vor allem um die rassistisch und antisemitisch motivierten Verbrechen jener Jahre.

Das in der Öffentlichkeit des vereinigten Deutschlands dominierende Narrativ behauptet demzufolge, im Unterschied zur Bundesrepublik habe es in der DDR keine wie auch immer geartete Auseinandersetzung mit der Shoah gegeben. Einblicke in die offiziellen Verlautbarungen der DDR zu Massenmord und Vertreibung der Jüdinnen und Juden Europas in der NS-Zeit und zum modernen Staat Israel scheinen diesen düsteren Eindruck zu bestätigen. Mit der staatlich verordneten Perspektive ist das Gesamtbild jedoch nicht hinreichend erfasst. Neben der "offiziellen Lesart", wie sie in Medien und Lehrplänen vorgetragen wurde, sollte auch die andere Perspektive Berücksichtigung finden, die sich in Büchern, Filmen, Veranstaltungen und kirchlichen Aktivitäten um Kenntnisse über jüdische Geschichte und Kultur bemühte und eine Auseinandersetzung mit der Shoah zum Ziel hatte.

Von den Anfängen bis zum Beinahe-Abbruch jüdischen Lebens (1945-1953)

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entschieden sich viele kommunistisch oder sozialdemokratisch sozialisierte Emigrantinnen und Emigranten bewusst für die SBZ/DDR als ihre Wahlheimat. Sie wollten am Aufbau eines besseren, eines antifaschistischen Deutschlands mitwirken. Diese Hoffnung spiegelt sich auch in den Autobiografien vieler jüdischer Überlebender, die in der DDR ein neues Zuhause fanden – wie zum Beispiel bei Helmut Eschwege (1913–1992). Er war einer der wenigen DDR-Autoren, denen es (wenn auch unter großen Mühen) gelang, Sachbücher zu jüdischen Themen und zur Shoah zu veröffentlichen.

In seinen 1991 erschienenen Erinnerungen bemerkt er zu seinen Motiven, sich nach 1945 in der SBZ/DDR anzusiedeln: "Auf den Gedanken, in die damalige sowjetisch besetzte Zone Deutschlands einzuwandern, kam ich, als die linken Pressorgane über die unterschiedlichen Verhältnisse in den besetzten Zonen berichteten. Ich las vom Willen der Arbeiterparteien in der damaligen Ostzone, das Potsdamer Abkommen über die Entnazifizierung und Bekämpfung der Rassenhetze in die Tat umzusetzen. Hinzu kam – und vielleicht war das auch der wesentliche Grund –, daß mehrere Freunde in Israel bereits beschlossen hatten, in die Ostzone zurückzukehren. […] Heute überlegend, ob ich 1946 den richtigen Weg gewählt habe, möchte ich sagen, daß ich die Jahre seither mit allen Tiefen und Höhen nicht missen möchte."

Maxim Leo (geb. 1970), der Autor einer "ostdeutschen Familiengeschichte", kann als repräsentativer Vertreter der dritten Generation einer in die SBZ/DDR migrierten deutsch-jüdischen Familie gelten. Über die Hoffnungen seines kommunistisch geprägten Großvaters Gerhard Leo (1923–2009) mutmaßt er: "Eines […] blieb an ihm kleben: dieses Gefühl, eigentlich nirgendwo zu Hause zu sein. Ich glaube, dieses Gefühl hat Gerhard noch lange mit sich herumgetragen. Es war vielleicht sogar der wichtigste Grund für ihn, später in die DDR zu gehen. In dieses Land, in dem so viele Heimatlose nach einem neuen Anfang suchten."

Zwar stiegen tatsächlich auch jüdische Funktionäre in die Führungsetagen der Staats- und Parteiführung auf, doch die Erwartungen der meisten Rückkehrenden erfüllten sich nicht. Sie konnten nicht ahnen, dass die Entwicklung der Sowjetischen Besatzungszone längst im Sinne eines stalinistischen Staatssozialismus vorherbestimmt war. Zudem gerieten die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus wie auch der Wiederaufbau des geteilten Landes in den Sog des Kalten Krieges. Es etablierte sich eine Art Wettbewerb der Systeme darum, wer mit welcher Legitimität den glaubwürdigeren Bruch mit Shoah, Krieg und Völkermord vollzogen habe. Der Konsens der Siegermächte, durch Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Demokratisierung und Entflechtung der Konzerne eine neue Ära in den besetzten Territorien einzuläuten, zerbrach allzu bald. In der Folge wurden die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens von der Sowjetunion auf der einen und den westlichen Alliierten auf der anderen Seite unterschiedlich interpretiert. Auf der Strecke blieb dabei die Frage nach konkreter Schuld und Verantwortung für die Verbrechen der NS-Diktatur.

Im Jahre 1949 erklärte man die "Etappe der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" (und mit ihr die systematische Entnazifizierung) in der DDR kurzerhand für beendet und ging unmittelbar zum "Aufbau des Sozialismus" über. Die herrschende SED wurde – nach sowjetischem Vorbild – endgültig in eine stalinistisch geprägte "Partei neuen Typs" umgeformt. Der Einfluss Stalins setzte auch in der Frage von Entschädigungen und Rückgabe die entscheidenden Akzente: Die Sowjetische Militäradministration (SMAD) zeigte sich nicht an einer Restitution der von den Nationalsozialisten enteigneten Unternehmen interessiert, schon um eigene Reparationsansprüche zu realisieren (Befehl Nr. 64 der SMAD vom 17.4.1948). Zusätzlich bemühte man den "Aufbau des Sozialismus" als Argument gegen eine Rückübertragung zum Beispiel jüdischen Eigentums: Bereits im Jahre 1948 wurde die "Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse" im Sinne des Sozialismus festgeschrieben. Im Zuge dessen legte der Gesetzentwurf "Über die Betreuung der Verfolgten des Naziregimes und die Vorbereitung für Wiedergutmachung" vom 26. Januar 1948 die Umwandlung "kapitalistisch" geführter Betriebe und Einrichtungen in Volkseigentum als unumkehrbar fest.

Die im selben Jahr (1948) erschienene Broschüre Siegbert Kahns (1909–1976) "Antisemitismus und Rassenhetze" setzte hingegen völlig andere Akzente. Der Autor, ein KPD-Funktionär, marxistischer Ökonom und Direktor des Deutschen Wirtschaftsinstituts in der DDR, resümierte seine Abhandlung über die Jahrhunderte währende Verfolgung von Jüdinnen und Juden folgendermaßen:

"Die Ausrottung des Antisemitismus und jeder Form des Rassenhasses aus dem Denken und Handeln des deutschen Volkes ist eine unerläßliche Voraussetzung seiner demokratischen Wiedergeburt. […] Neben der Bestrafung und Enteignung der Kriegsverbrecher und Kriegsinteressenten, die in allen Teilen Deutschlands durchgeführt werden muß, ist auch die Bestrafung aller jener Verbrechen gegen die Menschlichkeit notwendig, die in Deutschland bereits vor Ausbruch des Krieges begangen worden sind und für die der Nürnberger Kriegsgerichtshof sich als unzuständig erklärt hat. Jeder Deutsche, der jüdisches oder anderes fremdes Eigentum angetastet oder im Verlauf der ‚Arisierung‘ erschlichen hat, jeder, der sich an Unschuldigen vergangen, der jüdische oder ausländische Zwangsarbeiter mißhandelt oder ausgebeutet hat, sie alle müssen der strafenden Gerechtigkeit ausgeliefert werden. Wenn erst der letzte Deutsche begriffen hat, daß es keine ‚Herrenrasse‘ und keine ‚Rechte der Herrenmenschen‘ gibt, sondern daß jedes Vergehen gegen die elementarsten Gesetze auch seine Strafe findet, dann ist der wichtigste Schritt zur völligen moralischen Genesung des deutschen Volkes, zur Wiederherstellung seiner Ehre und zu seiner Anerkennung als gleichberechtigte zivilisierte Nation zurückgelegt." Damit war ein Maßstab formuliert, an dem letztlich beide deutsche Staaten scheitern sollten.

Als die bundesdeutsche Regierung 1952 das Luxemburger Abkommen mit Israel unterzeichnete, geriet auch die DDR unter Zugzwang, Entschädigungsleistungen an Israel zu vereinbaren. Die SED-Führung zog sich jedoch darauf zurück, dass sie die im Potsdamer Abkommen für sie festgelegten Reparationsleistungen an die Sowjetunion und die sozialistischen Länder sowie die "Ausrottung des Faschismus mit Stumpf und Stiel" bereits hinlänglich erfüllt habe und daher zu keinerlei weiteren Entschädigungen hergenommen werden dürfe. Diese Position wurde im Grunde bis zum Ende des ostdeutschen Staates aufrechterhalten.

Mit dem Ende der "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" erstarrte die Selbstdefinition der DDR als antifaschistisches Deutschland gänzlich zu einer Legitimierungsstrategie: Der kommunistische Widerstand gegen den Nationalsozialismus und das Bündnis mit der Sowjetunion wurden zum Markenkern des ersten sozialistischen Staats auf deutschem Boden erklärt. Letztlich wurde mittels dieser ideologischen Konstruktion die gesamte DDR-Bevölkerung pauschal von der Nachfrage nach einer Verstrickung in nationalsozialistische Verbrechen entlastet.

Von spätstalinistischer Verfolgung und den Anfängen antizionistischer Propaganda

Die letzten Jahre der Herrschaft Stalins waren durch eine weitere Verfolgungswelle geprägt, die im Vorgehen gegen die sogenannte Ärzteverschwörung 1952–1953 gipfelte. Letzteres richtete sich vor allem gegen jüdische Mediziner, die angeblich geplant hatten, hohe Partei- und Militärfunktionäre der Sowjetunion zu vergiften. Die antisemitische Paranoia Stalins zeitigte allerdings schon deutlich früher verheerende Auswirkungen – insbesondere auf das jüdische Kulturleben. Als Initialereignis gilt der Tod des sowjetischen Regisseurs Solomon Michoels (1890–1948). Der Vorsitzende des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAK) kam in Minsk unter ungeklärten Umständen ums Leben. Zeitgleich wurden wichtige jüdische Institutionen geschlossen. Begleitet von zahlreichen Festnahmen, entfaltete die sowjetische Presse eine Kampagne gegen die als "wurzellose Kosmopoliten" gebrandmarkten Jüdinnen und Juden, die auch von anderen Ländern des Ostblocks aufgegriffen wurde. Im November 1949 wurde das JAK aufgelöst und seine Mitglieder wurden verhaftet. "Kosmopolitismus" und die "imperialistische Verschwörung" etablierten sich seither als Standardvorwürfe gegen jüdische Bürgerinnen und Bürger innerhalb des sozialistischen Lagers.

Seinen Tiefpunkt erreichten die antisemitischen Verfolgungen außerhalb der Sowjetunion mit dem berühmten Prager Slánský-Prozess vom 20.–27. November 1952. Von den vierzehn Mitgliedern der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, die einer "trotzkistisch-titoistisch-zionistischen Verschwörung" angeklagt und für schuldig befunden wurden, waren elf Juden. Nur drei der Verurteilten überlebten das Verfahren.

Die "Entlarvung" zionistischer Verschwörer wurde auch in der DDR eifrig betrieben. Hier traf es vor allem die sogenannten Westemigrantinnen und -emigranten – darunter etliche Jüdinnen und Juden, die während der NS-Zeit nicht in der Sowjetunion Zuflucht suchen konnten oder wollten. Ihnen wurde pauschal unterstellt, "imperialistischen Kreisen" Einfluss auf den ersten sozialistischen Staat verschaffen zu wollen. Als das perfideste und zugleich einflussreichste Dokument jener antisemitischen Verfolgungswelle in der DDR erwiesen sich die "Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slánský", ein Beschluss des Zentralkomitees der SED vom 20. Dezember 1952. Darin heißt es: "Der Prozeßverlauf in Prag und die Aussagen einiger der angeklagten Verbrecher beweisen, daß es eine Methode dieser Verbrecher war, wachsame, fortschrittliche Genossen durch die Bezichtigung des Antisemitismus zu diskreditieren. [...] Die zionistische Bewegung hat nichts gemein mit Zielen der Humanität und wahrhafter Menschlichkeit. Sie wird beherrscht, gelenkt und befehligt vom USA Imperialismus, dient ausschließlich seinen Interessen und den Interessen der jüdischen Kapitalisten."

Nur wenige Jahre nach dem Ende der Shoah verbreitete eine Partei, die sich kurz zuvor noch einer "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" gerühmt hatte, antisemitische Vorurteile wie die Verschwörung zur Vergiftung oder die enge Verbindung zwischen Judentum und Finanzkapital. Die einzigen Zugeständnisse an die besondere Situation der deutschen Kommunisten könnten darin bestanden haben, dass es in der DDR zu keinem regelrechten Schauprozess (mehr) kam und dass der als Galionsfigur auserkorene Hauptangeklagte, der Gewerkschafter und Kommunist Paul Merker (1894–1969), kein Jude war. Die klar antisemitisch untersetzten Vorwürfe in den "Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slánský" richteten sich gegen einen Menschen, dessen einzige "Schuld" darin bestand, sich bereits während seines Exils in Mexiko für eine Restituierung jüdischen Eigentums und die Gründung eines jüdischen Staates in Israel eingesetzt zu haben. Neben Paul Merker wurden zahlreiche weitere (auch jüdische) Westemigrantinnen und -emigranten als wahlweise "zionistische" oder amerikanische Agenten bespitzelt, "entlarvt", verhört und verhaftet.

Alfred Kantorowicz (1899–1979), ein jüdischer Publizist und Literaturwissenschaftler, kam 1957 seiner Verhaftung durch Flucht in die Bundesrepublik zuvor, wo er zwar frei publizieren durfte, aber als ehemaliges SED-Mitglied Benachteiligungen erdulden musste. In seinem "Deutschen Tagebuch" kommentierte er die Begleitumstände der Slánský-Prozesse: "Das ist die Sprache Streichers, die Gesinnung Himmlers, die Atmosphäre der Gestapoverhöre und der Volksgerichtshofverhandlungen unter Freislers Vorsitz, die ,Moral‘ der Menschenschlächter von Dachau und Buchenwald, der Vergaser von Auschwitz und Majdanek. Es ist unmenschlich. Hitler, du hast Schule gemacht – nicht nur im Westen ..., sondern auch im Osten."

Jüdische Gemeinden in der DDR

Sinkende Mitgliederzahlen

Im Zuge der antisemitischen Verfolgungen jener Jahre sahen sich die jüdischen Gemeinden im Osten Deutschlands wachsenden Repressionen ausgesetzt und wurden systematisch vom Ministerium für Staatssicherheit überwacht. Jüdische Mitglieder der SED zogen sich bereits 1951 aus den Gemeinden zurück. Angesichts der akut bedrohlichen Situation entschieden sich am 13./14. Januar 1953 fünf der acht Vorsitzenden jüdischer Gemeinden in der DDR zur Flucht in den Westen. Mit ihnen verließen etwa 400 bis 500 Jüdinnen und Juden, insgesamt circa 20 Prozent der Gemeindemitglieder, den "sozialistischen" deutschen Staat.

Nach der Shoah war es eigentlich für die meisten kaum vorstellbar gewesen, in Deutschland je wieder jüdisches Leben zu etablieren. Dennoch hatten sich in den Nachkriegsjahren die eigentlich nur als Durchgangsstation zu einer Emigration gedachten Gemeinden zu dauerhaften Einrichtungen verfestigt. Die zahlenmäßig größte unter ihnen war die (noch nicht in Ost und West geteilte) Berliner jüdische Gemeinde, die Anfang 1946 noch 7070 Mitglieder zählte. Daneben gründeten sich etliche weitere Gemeinden, unter denen die Leipziger innerhalb der SBZ/DDR die größte war (1946: 300 Mitglieder). Kleinere Gründungen mit weniger als 20 Mitgliedern wie Plauen, Jena, Gera oder Eisenach stellten Ende der 1940er-/Anfang der 1950er-Jahre ihre Tätigkeit wieder ein. Neben Leipzig und Berlin-Ost überdauerten auf dem Gebiet der DDR die Gemeinden in Dresden, Erfurt, Halle/Saale, Chemnitz bzw. Karl-Marx-Stadt, Magdeburg und Schwerin. Nach den Repressionen der frühen 1950er-Jahre sanken die Mitgliederzahlen beträchtlich – in Leipzig beispielsweise von 317 (1950) auf 173 im Sommer 1953. Für das Jahr 1955 wies die Statistik nur noch 1715 Mitglieder für alle jüdischen Gemeinden der DDR aus. Dies zeigt einen deutlichen Verlust an, wenn auch nicht der gesamte Rückgang auf das Konto der antisemitischen Verfolgungen gegangen sein mag.

QuellentextDie SED und ihr Verhältnis zu jüdischen Gemeinden

Juri Rosov [der Mitte der 90er-Jahre aus der Ukraine kam und heute Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Rostock ist] ist stolz auf seine große jüdische Gemeinde in Rostock. Auszüge aus einer Radioreportage über ihn, seine Gemeinde und das Judentum in der DDR 2015 [...] Zu DDR-Zeiten arrangierten sich die ostdeutschen Juden mit dem real existierenden Sozialismus. Der Beginn der jüdischen Gemeinden nach 1945 deutete schon an, dass die Koexistenz von Judentum und Sozialismus nicht immer einfach sein würde. […] Der damalige mecklenburgische Minister für Volksbildung und Kultur, Gottfried Grünberg, hielt der jüdischen Gemeinde vor, dass sie Hilfspakete aus den USA erhielt […]. Und in der Tat sorgten die sogenannten Joint-Pakete für Begehrlichkeiten. Joint – das war eine amerikanische Hilfsorganisation zur Unterstützung bedürftiger Juden. Die begehrten Pakete mit Büchsenmilch und Butter, Käse und Kaffee, Zigaretten und Zahnpasta hatten zur Folge, dass die jüdischen Gemeinden Anträge auf Neuaufnahmen kritisch durchleuchten mussten, um nicht Trittbrettfahrer, die keine Juden waren, aufzunehmen. […]

Nach dem Krieg gab es in Mecklenburg und Vorpommern rund 150 Jüdinnen und Juden. Die meisten von ihnen hatten die KZs überlebt, einige führten sogenannte Mischehen, andere kamen aus dem Exil zurück. […] Die meisten, die aus dem Exil kamen, wollten sich oft auch nicht öffentlich zum Judentum bekennen.

Ein Grund, warum sich gerade kommunistische Juden immer mehr von den Gemeinden entfernten, war wohl der Druck der SED. […]. Der Potsdamer Historiker Mario Keßler erläutert:

"Es ist richtig, dass ein im starken Maße von der Sowjetunion initiierter Antisemitismus dazu führte, dass im Winter 1952/53 die jüdischen Gemeinden pauschal als potenzielle Agentenzentren westlicher Geheimdienste galten. Es gab Verhaftungen, es gab Fluchtbewegungen in den Westen."

Betroffen von Verfolgungen waren auch jüdische Spitzenfunktionäre wie Julius Meyer, Vorsitzender des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR. Er wurde tagelang verhört und sollte eine Erklärung unterschreiben, dass es in der DDR keinen Antisemitismus gebe und die DDR ein antifaschistischer Staat sei. Meyer, seit 1930 in der KPD und Auschwitz-Überlebender, floh daraufhin im Januar 1953 in den Westen. […]

Nach Stalins Tod 1953 ließ der Druck der SED auf jüdische Bürger nach. SED-Parteigenossen durften auch wieder Mitglied der jüdischen Gemeinden werden. Doch der Aderlass war unübersehbar. Aus dem gesamten Norden der DDR kamen Juden nun nach Schwerin, um den Minjan zu erfüllen: Das heißt, die Vorschrift, dass mindestens zehn religionsmündige Männer anwesend sein müssen, um einen Gottesdienst zu feiern.

Von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde die jüdische Gemeinschaft erst wieder 1967 – beim Sechstagekrieg zwischen Israel und den drei arabischen Staaten Ägypten, Syrien und Jordanien.

Der DDR-Verband der jüdischen Gemeinden hatte beschlossen, keine antizionistischen Erklärungen abzugeben, obwohl die SED Druck ausübte, dass die jüdischen Gemeinden sich gegen Israel positionieren sollten. […] Es unterschrieben aber nur acht mehr oder wenige prominente jüdische DDR-Bürger diese Erklärung. […]

Auch in den 70er-Jahren stand die Israel-Politik der SED zwischen den jüdischen Gemeinden und der Staatsführung der DDR. Irene Runge, die seit den 60er-Jahren Mitglied der jüdischen Gemeinde im Osten Berlins war, erzählt von der Empörung in den Gemeinden, als damals eine Karikatur in einem SED-Parteiblatt eine jüdische Menora als Flammenwerfer gegen unschuldige Palästinenser darstellte.

"Ich erinnere mich noch, dass wir gemeinsam einen Brief verfassten an das ZK und dagegen protestierten. Ab Mitte der 70er-Jahre gab es da einen klaren Widerspruch seitens der Gemeinden."

[…]. In der Öffentlichkeit tauchten jüdische Gemeinden fast nicht auf. Viele Juden waren seit den 70er-Jahren vor allem auf der Suche nach einer Identität, sagt die Soziologin Irene Runge […].

So ging sie regelmäßig in das einzige Geschäft der DDR, in dem man koscher einkaufen konnte: "Ich habe da Fleisch gekauft, weil es damals schwierig war, gutes Rindfleisch in der DDR zu kriegen. Und dieses Gefühl, dazu zu gehören, war ja immer wichtig. Wenn man so in einer Schlange steht, dann wird man sich ja auch vertrauter. Dann haben sie Matze verkauft und koscheren Wein. Nicht, dass man wusste, wozu das nötig ist. Ich glaube, wir haben alle angefangen einen Davidstern um den Hals zu tragen, was ja völlig Quatsch war. Man sucht ja etwas, womit man sich nach außen hin auch definiert. Und dann will man sich eigentlich abgrenzen, aber eigentlich will man natürlich immer noch dazugehören."

In den 80er-Jahren entspannte sich das Verhältnis der SED zum Judentum. "Die DDR ging allgemein in den 80er-Jahren viel unbefangener mit dem jüdischen Erbe deutscher Geschichte um. Es gab zwei Tabus: Das eine war die Kampagne der Jahre 52/53, darüber wurde geschwiegen. Das andere Tabu war die Rolle dissidenter jüdischer Marxisten in der Arbeiterbewegung, wie zum Beispiel Paul Levy, wie Arthur Rosenberg oder wie August Thalheimer. Und fast bis zuletzt war natürlich der Name des größten kommunistischen Dissidenten, der zugleich Jude war, nämlich Leo Trotzki, ein Tabuthema."

Die neue Ausrichtung der SED war auch in Schwerin zu spüren. […] Mitte der 80er-Jahre wird so aus dem jüdischen Gemeindehaus am Schweriner Schlachtermarkt ein kleines Museum. "Es war das erste Museum in der DDR, das sich mit der Judenverfolgung auseinandergesetzt hat." […]

Noch heute finden sich rund 50 jüdische Friedhöfe in Mecklenburg-Vorpommern; 20 wurden zu DDR-Zeiten zweckentfremdet, meist ohne Protest des Landesverbandes. "[…] Die haben gesagt: Wir brauchen Geld, wir brauchen das Gelände nicht mehr, verkaufen wir. Wäre heute undenkbar, aber zu DDR-Zeiten wurde das öfter gemacht hier oben."

Am Ende der DDR gab es in den Nordbezirken keine zehn jüdischen Gemeindemitglieder mehr. Doch nach der friedlichen Revolution kamen Anfang der 90er-Jahre Zigtausende jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland – auch nach Mecklenburg-Vorpommern. Heute leben dort in den jüdischen Gemeinden mehr als doppelt so viele Menschen wie vor dem Holocaust.

Michael Hollenbach, "Vom Überleben einer Minderheit", in: Deutschlandfunk vom 17. Oktober 2015

Die verlorene jüdische Identität?

Das spirituelle Leben in den jüdischen Gemeinden im Osten Deutschlands litt jedoch nicht nur unter dem dramatischen Rückgang an Mitgliedern, sondern auch unter dem Mangel an elementarer Infrastruktur, an fehlenden Bildungsmöglichkeiten und rabbinischer Begleitung. Nach der weitgehenden Zerstörung der jüdischen Einrichtungen während der NS-Zeit war es äußerst schwierig, Tora-Rollen oder Gebetbücher, Literatur über jüdische Festtage oder koschere Lebensmittel zu beschaffen. Zudem war die weit überwiegende Mehrzahl der in der DDR verbliebenen Jüdinnen und Juden areligiös sozialisiert, hatte also längst jede Bindung an die Tradition ihrer Vorfahren aufgegeben. Nach dem Ende der DDR verstärkte sich in der Generation der Kinder und Enkel der Wunsch, die verloren gegebene jüdische Identität zurückzugewinnen, was in einer größeren Anzahl von biografischen und literarischen Recherchen zu beobachten ist.

Durch Stalins Tod am 5. März 1953 und die nachfolgende Kurskorrektur der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) flaute die unmittelbare Repression gegen die Jüdinnen und Juden innerhalb und außerhalb der Gemeinden ab. Die meisten Verfolgten wurden aus der Haft entlassen; manch einer an Körper und Seele gebrochen. Andere – wie der einstige Chefredakteur des SED-Parteizeitung "Neues Deutschland", Lex Ende (1899–1951) – überlebten den Parteiausschluss und die "Bewährung in der Produktion" nicht. Erst im Jahre 1989 wurde er "rehabilitiert".

QuellentextEine kleine, eingeschworene Gemeinschaft

Alle jüdischen Familien hatten Tote zu beklagen, die meisten Synagogen waren in der Pogromnacht verbrannt. Und trotzdem entschieden sich einige, ins Land der Täter zurückzukehren oder zu bleiben. Manche setzten große Hoffnungen in die DDR, die sich als antifaschistischer Staat definierte. Doch wie lebten Juden in dem atheistischen Land? […]

Renate Aris überlebte den Holocaust versteckt in Dresden, ihr Vater war dort nach dem Krieg 30 Jahre lang Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde. Seit den 1960er-Jahren lebt sie in Chemnitz.

Nach dem Krieg begann für die Familie ein neues Leben in Deutschland. Ein Neuanfang im Land der Täter? Diese Frage stellte sich so nicht, wie sich Renate Aris erinnert. Nach Jahren der Angst, endlich ein normales Leben führen, in die Schule gehen zu können – das allein zählte für das junge Mädchen. […]

In Dresden, wo die Familie […] Aris lebte […], gab es nach 1945 keine Synagoge mehr – sie war in der Pogromnacht und den Tagen danach zerstört worden. So erlebte Renate Aris 1948 ihre Bat Mizwa in dem Gemeindehaus in Dresden-Neustadt, als erste nach dem Krieg:

"Als ich die zehn Gebote auf Hebräisch vortrug, war plötzlich ein ganz lautes Schluchzen zu hören. Normalerweise ist eine Bat Mizwa Anlass zur Freude für die Familie und die Gemeinde. Man wird in die Erwachsenengemeinschaft aufgenommen. Ich fragte eine alte Dame, die lange im KZ war, warum? ‚Ja, sagte sie: Wir haben jahrelang täglich dem Tod ins Auge geschaut. Dass wir noch einmal so ein wichtiges Fest erleben, hätten wir uns nicht träumen lassen.‘" (Renate Aris) […]

Die DDR verurteilte Antisemitismus und finanzierte in Erfurt und Dresden Anfang der 1950er-Jahre den Bau oder Umbau der Synagogen – als "Akt der Wiedergutmachung". Aber einfach war es damals nicht für die Juden im Osten. 1952 und 1953 wurden unter Stalin jüdische Intellektuelle verfolgt – das verbreitete auch in der DDR Schrecken in den jüdischen Gemeinden. Religiös gebunden zu sein, galt als Relikt aus vor-sozialistischen Zeiten.

Den neu gegründeten Staat Israel hatte Stalin als imperialistischen Feind definiert. Jüdischen Gemeinden standen so in Verdacht, potenzielle Agentenzentren für den Westen zu sein. Gerade aktive jüdische Gemeindemitglieder verließen den vermeintlich "besseren Teil Deutschlands" wieder gen Westen.

"Der Dresdner Vorstand ist geschlossen weggegangen. Die Menschen hatten einfach Angst, dass diese politische Situation, wie sie sich in der Stalin-Ära in dieser Zeit war, überschwappt." (Renate Aris)

Nach Stalins Tod 1953 ließ der Druck nach. Die Familie […] Aris […] [blieb] im Land und zeigte […] sich auch in Folge weitestgehend staatstreu. Der DDR waren die Juden insofern wichtig, als sie ein Beleg für gelebten Antifaschismus sein sollten. Entschädigt, wie in der BRD, wurden die Juden nicht. Denn die DDR sah sich eben wegen ihrer Antifaschismus-Doktrin nicht als Rechtsnachfolger des NS-Regimes. Aber es gab Vergünstigungen; eine etwas höhere Rente, die Erlaubnis, öffentliche Verkehrsmittel kostenlos zu nutzen. […]

Renate Aris lobt die ausgezeichnete ärztliche Betreuung durch die sogenannten VdN-Ärzte (VdN – Verfolgte des Nazi-Regimes): "Man ging dann zu diesen Ärzten. Wir konnten auch jederzeit, wenn der Arzt das für nötig hielt, eine Kur antreten. Das war hervorragend."

Bis 1961 hatten "alle acht jüdischen Gemeinden in der DDR wieder ihr eigenes Heim", wie die DDR-Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" zur Einweihung des Karl-Marx-Städter Gemeindehauses am 23. Oktober 1961 berichtete. Aber die Gemeinden waren klein und überaltert. Das erlebte auch Renate Aris, als sie nach Karl-Marx-Stadt, das heutige Chemnitz, zog, um am Theater als Kostümbildnerin zu arbeiten.

"Es war eine eingeschworene Gemeinschaft in der DDR, die Gemeinden wurden immer kleiner, es kam ja niemand hinzu. Ein Gottesdienst beispielsweise kann nur stattfinden, wenn zehn Männer da sind, die eine Bar Mitzwa hatten. So viele gab es hier gar nicht mehr." (Renate Aris) […]

Ende 1980er-Jahren lebten etwa 400 Jüdinnen und Juden in der DDR. Auf die Frage, ob sie sich als Minderheit gefühlt oder Antisemitismus erfahren habe, antwortet Renate Aris: "Ich habe persönlich keine Erfahrungen damit machen müssen. Aber das will nichts besagen. Wir haben gelebt, wie jeder DDR-Bürger auch." Nach der Wende hat sie die neuen Gemeindemitglieder willkommen geheißen. Heute hat sie etwa 500 Mitglieder. […]

Zeitzeugen berichten "Ich war ein DDR-Bürger und auch jüdisch", MDR vom 9. Oktober 2020; Externer Link: www.mdr.de/religion/juedisches-leben/juden-in-der-ddr-renate-aris-herbert-lappe100.html

Sozialistische Staatsbürger jüdischen Glaubens? Die 1960er- und 1970er-Jahre

Insbesondere der Antisemitismus der späten Stalin-Ära sowie die Hinwendung des Ostblocks zu den arabischen Ländern in den frühen 1960er-Jahren verhinderten eine kontinuierliche Entwicklung der jüdischen Gemeinden im Osten Deutschlands. Diese führten in der Regel ein Nischen- und Schattendasein abseits öffentlichen Interesses. Manchmal allerdings wurden die "Vertreter jüdischen Lebens", wie es in den Zeitungen der SED oder der mit ihr verbündeten Blockparteien zumeist hieß, unfreiwillig ans Licht gezerrt – wenn es nämlich darum ging, die vermeintlichen Untaten des Staates Israel in Resolutionen oder Leserbriefen anzuprangern.

Die Hallstein-Doktrin/Beziehungen zu Israel

Die ohnehin antizionistische Ausrichtung der DDR wurde durch den Anspruch der Bundesrepublik Deutschland verschärft, die einzig legitime Vertreterin des deutschen Volkes zu sein. Jener "Alleinvertretungsanspruch" fand seinen Ausdruck in der (zu Unrecht) nach Staatssekretär Walter Hallstein benannten Grundlinie, der Hallstein-Doktrin (1955–1969). Sie besagte, dass die Aufnahme diplomatischer Beziehungen eines Staates mit der DDR als "unfreundlicher Akt" gegenüber der BRD angesehen und auf den mit nicht näher bezeichneten Gegenmaßnahmen reagiert werden würde.

Die Hallstein-Doktrin führte zu einer Art Wettbewerb der beiden Staaten um die exklusive Gunst anderer Länder und zu einer spiegelbildlichen An- und Aberkennung diplomatischer Beziehungen. Als der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser (1918–1970) im Januar 1965 das Staatsoberhaupt der DDR, Walter Ulbricht, zu dessen erstem und einzigem Staatsbesuch außerhalb der Staaten des Warschauer Vertrages einlud, kam dies einem schweren Affront gegen die Bundesrepublik gleich. Mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel im Mai desselben Jahres waren die Fronten gewissermaßen geklärt. Nun brachen neun arabische Staaten die Beziehungen zum westdeutschen Teilstaat ab – erkannten die DDR aber erst 1969 diplomatisch an. Zu dieser Zeit hatte die DDR im Nahostkonflikt bereits deutlich und scharf Stellung zugunsten der arabischen Länder bezogen. Die Kritik am jüdischen Staat, die mit den Jahren und den wiederholten Kriegen zwischen Israel und den palästinensischen Akteuren bzw. ihren arabischen Verbündeten immer massiver und unsensibler vorgetragen wurde, belastete die jüdischen Gemeinden schwer. Die Angriffe auf den jüdischen Staat gipfelten darin, dass DDR-Medien das Vorgehen Israels im Jom-Kippur-Krieg 1973 oder im Libanonkrieg 1982 mit NS-Methoden gleichsetzten.

Die nur noch aus wenigen hundert Mitgliedern bestehenden jüdischen Gemeinden – 1971 waren es noch 1110 Mitglieder, zwei Jahre später nur noch 710 – ließen sich größtenteils nicht zu Propagandazwecken instrumentalisieren. Trotz wiederholter Aufforderung zu öffentlicher Stellungnahme lehnten die meisten Jüdinnen und Juden die Haltung der Partei- und Staatsführung zum Staat Israel ab. Dies galt insbesondere für die von der DDR unterstützte Gleichsetzung des Zionismus mit Rassismus, wie sie in der UNO-Resolution 3379 vom 10. November 1975 zum Ausdruck kam.

Zweckgebundene Kursänderung: die 1980er-Jahre

Als die DDR in den 1980er-Jahren in große ökonomische Schwierigkeiten geriet, schien sich das Blatt für die zahlenmäßig kaum noch messbare jüdische Gemeinschaft zu wenden. Die Staatsführung der DDR hoffte, durch eine Einladung zu einem offiziellen Staatsbesuch Erich Honeckers in die USA ihre internationale Reputation aufzuwerten. In diesem Zusammenhang strebte die Regierung der DDR danach, sich mit den wichtigsten jüdischen Organisationen und deren Repräsentanten gut zu stellen, ohne in der Frage der Entschädigung jüdischer Opfer größere Zugeständnisse machen zu müssen.

Eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Aktivitäten wurde initiiert oder seitens der SED mit Wohlwollen oder direkter Unterstützung begleitet: Angehörige der Freien Deutschen Jugend (FDJ), der Jugendorganisation der SED, entkrauteten den jüdischen Friedhof in Weißensee, die "Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum" wurde mit dem Ziel ins Leben gerufen, die Synagoge in der Oranienburger Straße wiederaufzubauen. Sogar der amerikanische Rabbiner Isaac Neumann durfte von Herbst 1987 bis zum Mai 1988 in der DDR amtieren – ein Experiment, welches allerdings schnell an den kaum miteinander zu harmonisierenden Erwartungen von Gemeinde und Rabbiner sowie erheblichen Mentalitätsunterschieden scheiterte.

Zum 50. Jahrestag der Pogromnacht im November 1988 organisierten das Ministerium für Kultur und der Staatssekretär für Kirchenfragen in Zusammenarbeit mit dem Verband der Jüdischen Gemeinden in der DDR im Berliner Ephraim-Palais eine große Ausstellung zur jüdischen Geschichte mit dem Titel "… und lehrt sie: Gedächtnis!" Schulklassen und Arbeitskollektive fanden sich (nicht immer freiwillig) zur Besichtigung ein.

Das Schicksal der DDR war indessen längst besiegelt. Mit dem dramatischen ökonomischen Niedergang und der friedlichen Revolution von 1989 endete auch für die Jüdinnen und Juden im Osten Deutschlands das Leben in einem Staat, der sich selbst als antifaschistisch und sozialistisch deklarierte und seinen Bürgerinnen und Bürgern eine individuelle Stellungnahme dazu konsequent verwehrt hatte.

Eine Geschichte, die noch zu erzählen ist: jüdischer Alltag in der DDR

Bereits in den 1980er-Jahren begannen sich einzelne Jüdinnen und Juden der zweiten und dritten Generation nach der Shoah für die Traditionen ihrer Familien zu interessieren. Einer von ihnen, Jochana’an Trilse-Finkelstein, erklärt dazu: "Sicherlich hat es mit der Gesamtsituation zu DDR-Zeiten zu tun, als das Jüdische nun nicht gerade unterdrückt wurde, aber im allgemeinen Antifaschismusbegriff unterging, und wenn Jüdisches vorkam, dann war es religiös. Wo blieb also der nichtreligiöse Jude?"

Innerhalb der binären Vorstellungswelt der Parteifunktionäre konnte es so etwas wie säkulares Judentum nicht geben: Kommunistinnen und Kommunisten waren selbstverständlich säkular, dann aber nicht wirklich jüdisch – oder sie waren jüdisch, dann aber religiös und also nicht kommunistisch. Für die Nachfahren derjenigen Jüdinnen und Juden, die bewusst in den Osten Deutschlands eingewandert waren, stellte sich die Situation jedoch anders dar. Sie hinterfragten die Ideale ihrer Eltern und Großeltern, die mit der Wirklichkeit im Sozialismus der DDR oft heftig kollidierten. Sie suchten nach ihrem Ort in der Gesellschaft, hatten es aber aufgrund der Andersartigkeit ihrer Familien – die sie zwar empfanden, aber nicht verstanden – schwerer, sich zu orientieren.

Erst nach dem Ende der SED-Diktatur schufen sich die Kinder und Enkel der einstigen Migranten ein eigenes Forum: den Jüdischen Kulturverein Berlin, der aus einer informellen Gruppe mit dem bezeichnenden Namen "Wir für uns – Juden für Juden" hervorgegangen war.

Christlich-jüdische Beziehungen in der DDR

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Bearbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, insbesondere des Genozids an den europäischen Jüdinnen und Juden, ebenso wie die Restitution jüdischen Lebens in der DDR eine Geschichte des Scheiterns war. Diese Analyse sollte jedoch um die Erkenntnis ergänzt werden, dass die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen auch im Westen Deutschlands zunächst wesentlich von einem individuellen bürgerschaftlichen Einsatz getragen war, der sich häufig massiven Widerständen gegenübersah.

Ein solches zivilgesellschaftliches Engagement konnte unter den Bedingungen der Diktatur im Osten Deutschlands nicht in vergleichbarem Umfang gedeihen. Es gab jedoch zu jeder Zeit Menschen, denen es um eine gründliche und ernsthafte Bearbeitung der deutschen Schuld und um eine glaubwürdige Auseinandersetzung mit der Shoah ging. Sie mussten sich allerdings – anders als in der Bundesrepublik – in der Regel unter dem Dach der evangelischen Gemeinden zusammenfinden, um ihren Aktivitäten nachzugehen oder Recherchen zu unternehmen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Arbeitskreise und Initiativen, wie die Aktion Sühnezeichen in der DDR oder die Arbeitsgemeinschaft Judentum und Christentum des Berliner Pfarrers Johannes Hildebrandt. Auch die feindselige Haltung des SED-Regimes gegenüber dem modernen Staat Israel traf innerhalb der Evangelischen Kirche der DDR auf Widerstand. So distanzierten sich deren Bischöfe in einer Erklärung der Konferenz der Kirchenleitungen am 10. Januar 1976 von der UNO-Erklärung zum Zionismus vom 10. November 1975.

Die zivilgesellschaftlichen Nischen unter kirchlichem Dach boten auch den wenigen jüdischen Aktivisten ein Forum, das sie anderenorts vermissten. Hier konnten sie ihre Themen einem Publikum vorstellen und diskutieren. Der Dresdener Jude Helmut Eschwege schildert in seinen Erinnerungen verschiedene Episoden seiner Vortragstätigkeit in Kirchgemeinden und Pfarrkonventen sowie Tagungen der evangelischen Akademien – beginnend etwa im Jahre 1954: "Der Anstoß zur Unterstützung und zur Zusammenarbeit mit der ‚Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit‘ ergab sich aus meiner Enttäuschung darüber, daß nach dem Slánský-Prozeß die regierende sozialistische Partei unter der Devise ‚Kampf dem Kosmopolitismus‘ den Antisemitismus propagierte. Vor allem deshalb suchte ich mir einen neuen Wirkungskreis, den ich in meiner Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und Kultur und in den Bewegungen ‚Arbeitsgemeinschaft Kirche und Judentum‘ fand, deren Verhalten zum Judentum sich grundlegend geändert hatte. Diese christlichen Kreise waren auf wenige Theologen und Gemeindemitglieder und vor allem auf die Jugendbewegung ‚Aktion Sühnezeichen‘ beschränkt. […] Ab 1979 beteiligte ich mich regelmäßig an den Jahrestagungen der Leipziger Arbeitsgemeinschaft ‚Kirche und Judentum‘, die zum Teil auch in Dresden stattfanden. Meist waren etwa 50 Personen anwesend, ein Kreis, der die gehaltenen Referate auch weitertragen konnte, so zum Beispiel Pfarrer, Katecheten, Vikare, Theologiestudenten und andere. Die Referate behandelten vorwiegend jüdische Themen, und oft hatte ich eines übernommen."

Aufarbeitung durch die Kultur

Außerhalb kirchlicher Kreise gab es für die Bevölkerung der DDR immerhin vielfältige Möglichkeiten, sich über die Shoah zu informieren. Zwar wurde in den offiziellen Verlautbarungen, in Schule und Universität, Betrieben und Parteiveranstaltungen, in Zeitungen und Jugendzeitschriften eine aggressive Propaganda gegen den modernen Staat Israel vorgetragen, die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus fanden jedoch selten explizit Erwähnung. Zur gleichen Zeit aber erzählte die Kinder- und Jugendliteratur der DDR von jüdischen Opfern der Shoah, zeigten landesweit laufende Kino- und Fernsehfilme zahlreiche Facetten der antisemitischen Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur auf. Schriftsteller und Dichter der DDR beschrieben differenziert die Ereignisse jener Jahre sowie den Umgang mit Tätern und (jüdischen) Opfern nach 1945. Es scheint, als hätte die DDR-Kulturpolitik das Verdikt ihrer Außen- und Bildungspolitik relativieren wollen.

Auch wenn die Haltung der SED-Führung zu Israel und zur Shoah durch nichts zu rechtfertigen ist; auch wenn die verhinderte Bearbeitung der individuellen und kollektiven Verantwortung im Osten Deutschlands als eine schwere Hypothek jener Zeit gelten muss: Die Positionen einer diktatorischen Führungsschicht waren und sind nicht zwingend identisch mit den Haltungen und Einsichten aller von ihnen beherrschten Menschen. Was die DDR-Bürgerinnen und Bürger über die Shoah wussten oder wissen konnten; ob sie sich von den zahlreichen künstlerischen Beiträgen zur jüdischen Geschichte Deutschlands mehr beeindrucken ließen als von der staatlich verordneten Ideologie sind Fragen, die noch ihrer Beantwortung harren.

QuellentextWar die DDR ein antisemitischer Staat?

Die reale Staatspolitik, ja

von Anetta Kahane
Neulich hat mir ein DDR-Offizieller erzählt, dass es Juden, die in den Westen zurückkehrten, passieren konnte, dass ihr Restitutionsantrag von dem gleichen Beamten bearbeitet wurde, der schon ihre Enteignung abwickelt hatte; so etwas hätte in der DDR nicht passieren können, sagte der Mann. Ja, habe ich geantwortet, das konnte in der DDR nicht passieren, weil dort ein Jude keinen Rückgabeantrag stellen konnte. Antisemitismus war zwar nicht Bestandteil der Staatsräson, aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der DDR antisemitische Politik betrieben wurde. Man kann schon in den frühen 50er-Jahren ein systematisches Misstrauen des Staates sowohl gegenüber religiösen wie kommunistischen Juden nachweisen; es gab eine komplette "Judenliste" in der SED. […]

Der systematische Antisemitismus in der DDR drückte sich zum Beispiel in unterschiedlichen Rentenhöhen für jüdische und kommunistische Opfer des Nationalsozialismus aus. Den Juden wurde indirekt eine Mitschuld an ihrem Leid gegeben: Sie hätten ja nicht, wie die Kommunisten, gegen den Faschismus gekämpft, sondern sich ihrem Schicksal ergeben.

Bei all dem wähnte sich die SED auf der marxistisch sicheren Seite: Der Faschismus galt in der Definition von Georgi Dimitroff, Generalsekretär der Komintern, als "die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals". […] Zwar außerhalb der Definition, aber doch leicht erkennbar, ist diese Behauptung antisemitisch konnotiert: Man denkt an den "reichen Juden", den "jüdischen Banker". […] [Die DDR argumentierte], dass die Juden ja keine Nation oder Volk seien, sondern bloß eine Religion bildeten. Dieser Blick auf Juden hatte Auswirkungen auf die Ehrung der Opfer des Holocaust: Die Juden wurden unter den Gruppen der Ermordeten einfach nicht aufgelistet. Die seien ja Staatsbürger mit einer bestimmten Religion, hieß es. Aber jüdische Holländer wurden ja nicht ermordet, weil sie Holländer waren! Dass es die Juden waren, die ganz gezielt zu Opfern der Nazis wurden, verschwieg man systematisch. Ihr Andenken wurde gelöscht und abgelöst durch eine instrumentalisierte Geschichtsbetrachtung, die der Rechtfertigung der DDR als antifaschistischem Staat diente. Diese ideologisierte Erinnerung wurde benutzt, um im Kalten Krieg die Rolle des moralisch Überlegenen gegenüber dem von Nazipräsenz durchzogenen westdeutschen Staat zu spielen. […]

Die ideologische Basis der DDR, ihre deutsche Geschichte und ihre Bevölkerung, die nach dem Ende des Krieges keinesfalls von einem anderen Stern, sondern aus dem gleichen Deutschland der Täter und Mitläufer kam, waren so etwas wie das Betriebssystem, auf dem Antisemitismus fortgeschrieben, betrieben und ignoriert wurde. […] War die DDR also ein antisemitischer Staat? Ja und nein. Nein, weil der Antisemitismus nicht zur Staatsräson gehörte. Ja, weil die reale Staatspolitik immer von Antisemitismus durchsetzt war.

Nicht pauschal, nein

von Nora Goldenbogen
Ich denke in dieser Pauschalität kann man das nicht sagen. Erstens ist das eine Frage der verschiedenen historischen Phasen des Staates DDR, die man detailliert betrachten muss. Zweitens war der Antisemitismus in der DDR keine Staatsdoktrin. Deswegen bin ich vorsichtig, wenn es heißt, die DDR sei ein antisemitischer Staat gewesen. Außerdem besteht die Gefahr, damit die auf Antisemitismus beruhenden Menschheitsverbrechen der Nazis zu nivellieren.

Es gab Phasen in der DDR-Geschichte, in denen Antisemitismus in der politischen Ausrichtung eine Rolle gespielt hat. Vor allem zwischen 1949 und 1953, während der spätstalinistischen "Säuberungen" in der SED und im Staatsapparat. […] In dieser Phase kann man durchaus von judenfeindlichen Zügen in der Politik sprechen. […]

Die Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1949 beurteile ich allerdings anders. Die Anfänge sahen Antifaschismus als Grundkonsens vor. Die Auseinandersetzung, warum der Antisemitismus zu den Grundlagen der NS-Ideologie gehörte, warum antisemitische Klischees so tief im Denken vieler Menschen verwurzelt waren, wurde allerdings auch damals schon viel zu selten geführt. […]

Was die Situation der jüdischen Gemeinden im Osten Deutschlands betrifft, so sollte man auch hier historisch korrekt bleiben. Kurz nach 1945, als sich die ersten Gemeinden wieder gegründet hatten, gab es ein sehr enges Miteinander mit den jeweiligen Landesverwaltungen. Es gab Unterstützung und Akzeptanz. Viele Funktionäre der jüdischen Gemeinden waren davon überzeugt, dass es notwendig war, einen gemeinsamen Neuanfang zu wagen. […] [Es] gab bis zum Ende der DDR eine ausreichende finanzielle Unterstützung für die jüdischen Gemeinden. Die Ausübung der Religion war gewährleistet, auch wenn sie nicht besonders gefördert wurde. Spätestens seit Ende der 60er-Jahre wurden die Gemeinden auch gesellschaftlich wieder stärker wahrgenommen. Probleme traten dann auf, wenn aus den Gemeinden und ihren Vorständen kritische Äußerungen zur Politik der DDR oder zur Haltung des Staates gegenüber Israel kamen. Aber ich weiß nicht, ob diese Konflikte unter dem Begriff Antisemitismus zu subsumieren sind, oder ob sie nicht eher etwas damit zu tun haben, dass gesellschaftliche Kritik und unterschiedliche Meinungen zu politischen Fragen von vielen Verantwortungsträgern in der DDR nicht zugelassen wurden. […]

Unbedingt sollte aber noch ein generelles Defizit erwähnt werden, das die Geschichte der DDR durchzieht: die unzureichende Beschäftigung mit dem Judentum, sowohl im Schulunterricht als auch an den Universitäten. Das ist bis heute zu spüren. Ähnliches gilt für die Auseinandersetzung mit dem historischen Phänomen des Antisemitismus, seinen Wurzeln und Erscheinungsformen. Hier haben wir immer noch großen Nachholbedarf.

"War die DDR ein antisemitischer Staat", in: Jüdische Allgemeine vom 13. November 2008

Prof. Dr. Susanne Talabardon ist Professorin für Judaistik an der Otto- Friedrich-Universität Bamberg. Sie lehrt und forscht unter anderem zur jüdischen Religionsgeschichte, zu den christlich-jüdischen Beziehungen und zum osteuropäischen Chassidismus. Sie hat wichtige Einführungen zu Judentum und jüdischen Feiertagen veröffentlicht und auch aufgrund ihres biographischen Hintergrundes (in Ostberlin geboren) ein Interesse an der Geschichte der Jüdinnen und Juden in der Deutschen Demokratischen Republik.