Unter dem Motto "Tore zur Freiheit. Vor 60 Jahren: Rückkehr aus sowjetischer Haft 1955. Vor 25 Jahren: Die Wiedervereinigung Deutschlands 1990" fand vom 5. bis 7. Juni 2015 in Magdeburg die Jahrestagung der Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion statt. Die Mitglieder teilen das gemeinsame Schicksal, als Zivilisten Opfer des Sicherheits- und Repressionsapparates des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes NKWD beziehungsweise der sowjetischen Militärjustiz in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) geworden zu sein, die ihre Zuständigkeit für die Strafverfolgung in der SBZ aus der sowjetischen Militärgerichtsordnung von 1926 ableitete. Sie alle wurden unter völligem Ausschluss der Außenwelt und unmenschlichen Haftbedingungen zumeist zu 25 Jahren Freiheitsstrafe zur Verbüßung in “Besserungs-Arbeitslagern” des sowjetischen GULags verurteilt.
Workuta wurde zum Symbol des GULag und zum Inbegriff für Zwangsarbeit und Repression im Stalinismus. Einige Mitglieder der Lagergemeinschaft waren beim Streik am 1. August 1953 in Workuta dabei. Die Gefangenen hatten nach dem Tode Stalins unter anderem die Überprüfung ihrer Urteile und den Briefverkehr mit ihren Angehörigen zu Hause gefordert. Der Streik wurde blutig niedergeschlagen, über 60 Menschen starben und 120 wurden schwer verletzt.
Die Lagergemeinschaft
Die Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion gehört heute als ein Verband ehemaliger politischer Häftlinge der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) an. Mit einem Mitglied ist die Lagergemeinschaft im Stiftungsbeirat für die Gedenk- und Erinnerungsarbeit für die Zeiten der sowjetischen Besatzung und der SED-Diktatur (1945-1989) vertreten, einer von drei Beiräten der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt.
Die Gründung der Lagergemeinschaft geht auf die Initiative von Sigurd Binski und dem heute fast 91-jährigen Sprecher Horst Schüler zurück. Seit fast 25 Jahren finden jährliche Zusammenkünfte mit dem Ziel statt, die Werte von Demokratie und Freiheit zu stärken. Die Mitglieder der Lagergemeinschaft sehen die Notwendigkeit der Aufarbeitung diktatorischer Systeme dabei nicht nur in der Erwachsenenbildung, sondern auch in der schulischen und außerschulischen Bildung.
Tagungen und Internationale Verbindungen
Eine der ersten Tagungen der Lagergemeinschaft Workuta mit Bürgern der Russischen Föderation fand im Februar 1994 im ehemaligen Zuchthaus "Roter Ochse" in Halle (Saale) statt (I. Halle-Forum). Hier nahm Leonid Pawlowitsch Kopalin, Oberst der Justiz und Leiter des Referats Rehabilitierung ausländischer Staatsbürger bei der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft in Moskau als kenntnisreicher Sachverständiger zum Thema "Rehabilitierung – Möglichkeiten und Grenzen" teil. Er berichtete in seinem Vortrag über den Stand der Rehabilitierungen, erläuterte die Ablehnungsgründe und beschrieb die Grenzen des Gesetzes. Es findet zum Beispiel keine Anwendung bei den vielen administrativ Festgenommenen, den nicht verurteilten Speziallagerhäftlingen zwischen 1945 und 1950.
Das II. Halle-Forum 1995 sowie das III. Halle-Forum 1996 standen unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Reinhard Höppner, und wurden als Erfahrungsaustausch ehemaliger politischer Häftlinge in der Gedenkstätte "Roter Ochse" von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. Diese jährlichen Treffen dauern bis heute an.
Die Jahrestagungen der Lagergemeinschaft Workuta/GULag finden in verschiedenen Städten, meist in den ostdeutschen Bundesländern, statt. Seit 1998 wird die Durchführung der Tagungen durch die 1998 vom Deutschen Bundestag gegründete Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Rahmen der Projektförderung unterstützt.
"Tore zur Freiheit"
Zu den rund 75 Teilnehmenden des diesjährigen Zusammentreffens gehörten ehemalige politische Häftlinge, ihre Familienangehörigen, am Thema Interessierte und Freunde. Thematische Schwerpunkte waren die Rückkehr aus sowjetischer Haft vor 60 Jahren und die deutsche Wiedervereinigung vor 25 Jahren.
Unter dem Motto "Tore zur Freiheit" wurden neben der historischen Einordnung der Jahre 1955 und 1990 der Freiheitsbegriff, das Grenzdurchgangslager Friedland, die Verbesserung von Entschädigungsleistungen und die Zukunftsperspektive der Lagergemeinschaft diskutiert.
Eröffnet wurde die Jahrestagung von Detlef Gürth, Präsident des Landtages von Sachsen-Anhalt. Er wies auf die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit diesem Teil deutscher Geschichte für die Existenz von Toleranz und Solidarität in unserer Gesellschaft hin.
Prof. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung und Forschung, thematisierte in ihrem Vortrag die Wechselwirkung zwischen Verantwortung und Freiheit. Sie stellte fest: "Freiheit braucht Verantwortung". Unter anderem wies sie auf die unterschiedliche Behandlung von Rückkehrern und Rückkehrerinnen aus der sowjetischen Lagerhaft in der ehemaligen DDR und in Westdeutschland hin: gänzliche Tabuisierung des Themas in der ehemaligen DDR - es war den ehemaligen Gefangenen verboten, über ihre Lagererlebnisse zu berichten, um kein schlechtes Licht auf die Sowjetunion zu werfen - und zunehmend geringeres Interesse in Westdeutschland, wo den Opfern ein eher unbedeutender Platz zugewiesen wurde.
In seinem Vortrag "Friedland das Tor zur Freiheit" beschrieb Klaus Bittner vom Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport die Geschichte des Aufnahmelagers Friedland und die aktuellen Entwicklungen. Auf Anordnung der britischen Besatzungsmacht am 20. September 1945 als erste Anlaufstelle für Flüchtlinge, Vertriebene und Heimkehrer eingerichtet, ist das Grenzdurchgangslager bis heute für mehr als vier Millionen Menschen zum "Tor zur Freiheit" geworden. Das erlebten auch viele Deutsche, als sie 1955/56 aus sowjetischer Haft entlassen wurden und in Friedland eine Erstaufnahme fanden.
In seinem Grußwort betonte Kai Langer, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt, dass die schweren Menschenrechtsverletzungen während der Zeiten der sowjetischen Besatzung dargestellt und hierüber Kenntnisse verbreitet werden sollten. Er lobte den Einsatz von Mitgliedern der Lagergemeinschaft, die einen wesentlichen Beitrag dazu leisten. Auch Reiner Haseloff, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, hob in seinem Grußwort die Bedeutung von Zeitzeugen für die Vermittlung historischen Wissens hervor und betonte, dass dabei auch zukünftig die Opferperspektive nicht ausgeblendet werden darf.
Durch zahlreiche Veröffentlichungen sorgen Mitglieder der Lagergemeinschaft seit Jahren immer wieder dafür, dass die Arbeit sowjetischer Repressionsorgane in Deutschland bekannter wird. Auf der diesjährigen Tagung konnte Prof. Werner Gumpel sein Buch "Workuta – Die Stadt der lebenden Toten. Ein Augenzeugenbericht", erschienen im Universitätsverlag Leipzig, als Neuerscheinung vorstellen. Er wurde 1950 als Mitglied eines losen Verbundes oppositioneller Leipziger Studenten, der später als "Belter-Gruppe" bekannt wurde, zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
Das Thema Entschädigungen
Ein Thema, das seit Jahren auf der Tagesordnung der Lagergemeinschaft steht, ist die Verbesserung von Entschädigungsleistungen für das aus politischen Gründen erlittene Unrecht. Von den Teilnehmenden, die heute noch an den Folgen der Haft und Zwangsarbeit leiden, wurde auch diesmal wieder die unmittelbare Hilfe für ehemalige politische Häftlinge diskutiert. Sie kritisierten die unzureichende versorgungsrechtliche Akzeptanz gesundheitlicher Schäden, die auch erst nach Jahrzehnten in Form von psychischen oder anderen Erkrankungen auftreten können. Die Anerkennung von gesundheitlichen Folgeschäden der Haft-, Folter- und Zwangsarbeitsbedingungen nach dem Bundesversorgungsgesetz durch die oft nicht ausreichend geschulten medizinischen Gutachter der Versorgungsämter liegt im Durchschnitt bei zehn Prozent. Es muss im Einzelfall nachgewiesen werden, dass die heute zu spürenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen zweifelsfrei aus der Haft herrühren. Das ist nach so vielen Jahren kaum mehr möglich. Vor dem Hintergrund ähnlicher Haftbedingungen fordern deshalb die Betroffenen eine Beweislastumkehr und eine Behandlung nach dem Bundesentschädigungsgesetz analog zu den Opfern des Nationalsozialismus, bei denen ein Zusammenhang des gesundheitlichen Schadens mit der Haftzeit vorausgesetzt wird.
Horst Schüler, Sprecher der Lagergemeinschaft, bei der Gedenkminute im Hof der Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg (© Margreet Krikowski)
Horst Schüler, Sprecher der Lagergemeinschaft, bei der Gedenkminute im Hof der Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg (© Margreet Krikowski)
Bei einem Besuch der Gedenkstätte Magdeburg Moritzplatz, der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit, informierten sich die Tagungsteilnehmenden über die Erinnerungsarbeit in Sachsen-Anhalt und gedachten der Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft in einer Schweigeminute.
Während der Tagung beschlossen Kinder ehemaliger Häftlinge, die zweite Generation, zukünftig verstärkt miteinander in Kontakt zu bleiben und sich in die Arbeit der Lagergemeinschaft einzubringen.
Die Vorbereitung und Durchführung der Veranstaltung wurden von der Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Stasi-Unterlagen, Anne Drescher, die sich seit vielen Jahren den sowjetisch Repressierten widmet, und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert. Die Vereinigung der Opfer des Stalinismus in Sachsen-Anhalt und das Bürgerkomitee Magdeburg unterstützten die Veranstaltung logistisch. Organisiert wurde sie von Edda Ahrberg, der ehemaligen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt, die auch die Lagergemeinschaft im Gedenkstättenbeirat Sachsen-Anhalt vertritt.
Für das Treffen im Juni des kommenden Jahres wurde Schwerin (Mecklenburg-Vorpommern) als Tagungsort festgelegt.
Zitierweise: Ivanka Graffius, "Tore zur Freiheit. Vor 60 Jahren: Rückkehr aus sowjetischer Haft 1955. Vor 25 Jahren: Die Wiedervereinigung Deutschlands 1990", in: Deutschland Archiv, 21.7.2015, Link:http://www.bpb.de/209851.