Gesprächsstrategie im Kalten Krieg: Volkskammerdelegierte 1952 im Bundestag
Hermann Ehlers: "Vieles vertrug sich, was sonst unverträglich nebeneinander steht..."
Andreas Meier
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Im September 1952 beobachtete die Weltpresse den ersten Empfang einer Volkskammerdelegation im Deutschen Bundestag. Heute erwähnt ihn kein Schulbuch. Dieser Beitrag thematisiert eine "vorwegnehmende Utopie", mit der der damalige Präsident des Deutschen Bundestages Hermann Ehlers (CDU) 1952 im Kalten Krieg – gegen die Koalition von Bundeskanzler Adenauer (CDU) mit der SPD – gesellschaftliche Gesprächsforen in beiden deutschen Staaten politisch nutzen wollte mit dem Ziel, die deutsche Einheit in freiheitlicher Ordnung herbeizuführen.
"Am 8. Juli 1954 abends hat Bundestagspräsident Dr. Ehlers und der Volkskammerpräsident Dr. Dr. Dieckmann eine interne Besprechung im Hotel International gehabt. Wie bekannt wurde, haben sie sich mit du und dem Vornamen angeredet. Diese Mitteilung stammt von einem GI" (bis 1968 in der DDR offizielle Abkürzung für "Geheimen Informator" der Staatssicherheit). Der Geheimdienst der DDR wurde eingesetzt, um politische Gefährdungen durch den Kirchentag zu verhindern. Im "Stimmungsbericht über den Deutschen Evangelischen Kirchentag in Leipzig vom 7. bis 11. Juli 1954" heißt es: "a) positiv: "Dieckmann – Nuschke einseits [sic], Ehlers-Strauß (Staatssekretär) andererseits haben am runden Tisch zusammen gesessen. Beide westdeutsche Teilnehmer haben sich befriedigt geäußert und Ehlers sagte: 'Der Alte (Adenauer) wird toben, aber er wird sich fügen müssen!‘"
Ein Dutzend ost- und westdeutscher Politiker trafen sich "in den Objekten des Kirchentages". Politisch war dieser als freies gesellschaftliches Gesprächsforum ein einzigartiges gesamtdeutsches Ereignis. "Das evangelische Kirchenvolk stellt heute die stärkste Klammer der deutschen Einheit dar und lebt das praktisch vor, was die Politiker noch nicht verwirklichen konnten", hatte Kirchentagspräsident Reinold von Thadden-Trieglaff in der Vorbereitung des Leipziger Kirchentages gesagt. Nach diesem mahnte Bundestagspräsident Hermann Ehlers im Bundeshaus vor der Presse, "eine gewisse Reserve in der Begeisterung [zu] wahren. Die eigentlichen verantwortlichen Machthaber der Sowjetzone sind nicht in Leipzig gewesen [...]. Daß ich und Nuschke gemeinsam gebetet hätten, würde ich nicht für eine nationale Katastrophe halten."
Berichte über kirchlich-religiöse Ereignisse und Entwicklungen gehörten zu den Informationen, welche das Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung als politisches Informationsorgan regelmäßig veröffentlichte, etwa: "Kirchentage und Katholikentage, das gewandelte Verhältnis der Konfessionen in Deutschland" und "'daß wir den Segen nicht verlieren'. Kampf der Kirche um ihr Bestehen im totalitären System der sowjetischen Besatzungszone" von 1954. Gesamtdeutsche kirchliche Aktionen wurden also im Kalten Krieg politisch aufmerksam verfolgt. Wenn historisch-politologische Untersuchungen über die Geschichte der beiden verfeindeten deutschen Staaten kirchenhistorische Untersuchungen kirchlicher innerdeutscher Kontakte übergehen, mag das an der "Hierarchie der [wissenschaftlichen] Disziplinen [liegen...]. Es ist für einen Politologen unter seinesgleichen förderlicher, einen Juristen zu rezipieren als einen [...] Theologen."
Ehlers‘ Rückblick auf den Leipziger Kirchentag ist ein Beispiel für den oft umgangenen kirchlich-religiösen Begegnungsraum in beiden deutschen Frontstaaten. Denn der Bundestagspräsident erkannte vorbehaltlos die Leistung ostdeutscher Einrichtungen an: "Die amtlichen Stellen der Sowjetzone und der Stadt Leipzig hatten jede mögliche Hilfe geleistet, Polizei, Post, Straßenbahner und viele andere hatten voll mitgearbeitet [...] Das erstaunlichste waren die Kontraste in Leipzig. Plötzlich vertrug sich vieles miteinander, was sonst unverträglich nebeneinander steht." Heute muss in der Beurteilung des "Kalten Krieges" berücksichtigt werden, was schon 1954 überraschte: Menschliche Selbstverständlichkeiten verdrängten auf gesamtdeutschen Kirchentagen die bedingungslose politische Feindschaft der ost-und westdeutschen Frontstaaten. Erstaunlich war, dass Bundestagspräsident Ehlers Volkskammerpräsident Dieckmann im Eröffnungsgottesdienst in Leipzig mit den Worten die Hand gab: "Wir sind ja schließlich beide VDSter". Bundesbruderschaft und Kirchenmitgliedschaft verbanden über politische Feindschaft hinweg.
Solche grenzübergreifenden gesprächsoffenen menschlichen Bindungen sportlicher, religiöser oder anderer gesellschaftlicher Art waren zwangsläufig ein Politikum. Die DDR-Machthaber setzten Geheimdienstkräfte ein, um diese zu kontrollieren oder um über sie wenigstens informiert zu sein. Ehlers zeigte, wie dem auszuweichen war. 1954 stieg er "in Leipzig nicht in dem offiziellen Hotel (International) ab, das ihm zugedacht war. Er wählte auf eigene Faust ein kleines Privathotel und brachte damit den Fahrplan durcheinander. Der SSD (Staatssicherheitsdienst)-Offizier, dem Dr. Ehlers anvertraut war, verlor ihn aus den Augen, und es kam darüber zu erregten Szenen, als Dr. Ehlers wieder aufgespürt wurde", berichtete das Hamburger Echo am 3. September 1954 – in der Meldung "Dr. Ehlers war verschwunden. Erregte Szenen um den Bundestagspräsidenten." Die Kirchentagswelt war im Nachkriegsdeutschland also ein theologisch-politischer Komplex.
"Staatsgrenzen sind keine Kirchengrenzen": Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) als letzte gesamtdeutsche Institution
Es waren kirchliche Gesprächskreise, die nach der Gründung beider deutscher Staaten offiziell Verfeindete gesamtdeutsch am intensivsten verbanden. Hermann Ehlers lebte geradezu in ihnen und reiste unbefangen durch Ostdeutschland. Nach seiner Wahl zum Bundestagspräsidenten 1950 wurde er zwar von seinen Amtspflichten als Oberkirchenrat der Oldenburgischen Landeskirche entbunden, er blieb aber Synodaler, in Kirchentagsarbeit und kirchlich aktiv. Als Politiker und Journalist, der wöchentlich einen – oft von Tageszeitungen übernommenen – "Sonntagsspiegel" in der Oldenburger Kirchenzeitung neben überregional verbreiteten Namensartikeln schrieb, wirkte er geschickt mit weitem Echo sowohl im politischen wie im kirchlichen Streit. Er wollte kirchlich und politisch Räume des Möglichen freihalten, um nicht von politischer Frontbildung vereinnahmt zu werden. In KIRCHE und MANN. Zeitschrift der Evangelischen Männerarbeit der EKD stellte er 1951 fest: "Zu jeder Zeit kann von jeder Seite aus mit oder ohne Absicht ein Krieg aus den verschiedensten Gründen ausgelöst werden" – nicht nur vom Osten. Ebenso unvoreingenommen argumentierte der US-Diplomat und Laienprediger G.F. Kennan, der alle Menschen zum Totalitarismus veranlagt sah.
Seine Kompromissfähigkeit machte Ehlers zum wohl wichtigsten Gründungsvater der EKD – einerseits als Vorsitzender des Gründungsausschusses des Bruderrats der Bekennenden Kirche, einer der über die Grundordnung der EKD streitenden Kirchengruppen, andererseits war er Mitglied der Verfassungskommission, welche die im westdeutschen Treysa 1945 konstituierte provisorische EKD eingesetzt hatte. In dieser ungewöhnlichen doppelten Verpflichtung konnte er, selber seit 1945 Oberkirchenrat einer lutherischen Kirche, alle Kirchen von den Vorteilen der Ordnung der EKD als gesamtdeutscher Bund von Landeskirchen überzeugen, die die Kirchenversammlung im ostdeutschen Eisenach 1948 beschloss.
Der von der Synode gewählte Rat der EKD suchte anfangs "Äquidistanz" zu beiden deutschen Staaten. Otto Dibelius, seit 1949 Ratsvorsitzender und Bischof von Berlin Brandenburg, schlug unter anderem vor, die Kirchen könnten gesamtdeutsche Wahlen organisieren. Dies hatte er in einer Rede vor Pfarrern formuliert. Danach "haben mir Vertreter der Alliierten, der Bundesregierung und die Parteien das Haus eingelaufen, um zu erfahren, was das bedeuten soll", erzählte er.
Hermann Ehlers: "Es gibt keinen genormten CDU-Typ"
Aber auch wenn Ehlers mit dem Auto durch die Ostzone fuhr, sich dort Hotels suchte und sich an Gesprächen außerhalb des offiziellen Protokolls beteiligte, vermied er gesprächsstrategisch konsequent offiziell vereinbarte Gespräche mit Ostpolitikern. Er wollte keinesfalls durch offizielle Gesprächsvereinbarungen den von Politikern der DDR gesuchten Anschein bestätigen, dass die demokratisch nicht legitimierten DDR-Politiker wie ihr ostdeutscher Teilstaat als gleichberechtigte Gesprächspartner anerkannt seien.
"Würden Sie, mein lieber Bruder Ehlers, sich in der Lage sehen, allein oder zusammen mit irgendjemand anderem einer Einladung in mein Haus zu folgen, zu der gleichzeitig Herr Diekmann oder sonst jemand von den Kommunisten kommen würde?", fragte der Ratsvorsitzende der EKD am 21. April 1952 Ehlers brieflich. Dessen Antwort: "Lieber Bruder Dibelius! Ich habe große Zweifel, ob die von Ihnen vorgeschlagene Art der Begegnung mit Leuten aus dem Osten in irgendeiner Weise förderlich sein kann. Ich habe mich verpflichtet gefühlt, diese Frage auch mit dem Bundeskanzler zu besprechen, der naturgemäß der gleichen Meinung ist."
In einem Vortrag in Witten am 19. November 1951 erörterte Ehlers grundsätzlich "Deutsche Politik in einem geteilten Deutschland": "Das Gespräch ist an sich keine Lösung. Die Unvereinbarkeit der Ausgangspositionen lässt ein Kompromiss, der normalerweise das Ziel der Politik ist, nicht zu", heißt es im handschriftlichen Manuskript. Ehlers nahm auch an inszenierten westlichen Demonstrationen für die Wiedervereinigung nicht teil. Kalten Kriegern lag an der Zahl der "gegen den Osten" Mobilisierten, ohne sich für deren glaubwürdiges Verhalten zu interessieren. Auf dem Kirchentag in Groß-Berlin 1951 scherte Ehlers‘ Protest gegen diese formale Mobilisierung "gegen den Osten" aus. Ein Antibolschewist zeichnete sich für ihn nicht nur durch die Ablehnung des Ostens, sondern auch durch glaubwürdige eigene nichtbolschewistische Lebensführung aus.
In der politisch unsicheren Lage, in der 1951/52 "Momente der Resignation" sogar den Kanzler quälten, erwies Ehlers‘ Gesprächsstrategie ihre situationsgebundene Beweglichkeit. In einem Interview mit der Wochenschrift Hier und heute der Frankfurter Hefte forderte der neu gewählte Bundestagspräsident am 21. Februar 1951: "Mehr Initiative im Ost-West-Gespräch". Schwer wog sein Zweifel, ob in Deutschland "beiderseitige innere Bereitschaft [zur Wiedervereinigung] vorhanden wäre". Dieser Zweifel entsprach der US-Kritik vom Frühjahr 1950 an der defensiven deutschen Wiedervereinigungspolitik. "Ich habe einen sehr genauen Einblick in die innerpolitische Situation der Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone", sagte Ehlers, der sich dennoch in realistischer weltpolitischer Vorsicht scheute, die im Osten verfolgten politischen Ziele zu nennen. Es ging ihm darum, gesprächsstrategisch das Ergehen und Miteinander Ost- und Westdeutscher zu verbessern.
1951 hatte sich "zwischen Bundesregierung und DDR ein lebhaftes Geflecht um taktische Positionsgewinne und propagandistische Vorteile in der innerdeutschen Auseinandersetzung entwickelt […], vor allem mit Regierungserklärungen und Entschließungen des Bundestags und der Volkskammer." Am 30. November 1950 hatte der DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl an Kanzler Konrad Adenauer geschrieben und die Bildung eines gesamtdeutschen Konstituierenden Rates vorgeschlagen. Das hatte in Bonn Unsicherheiten hervorgerufen. Wie sollte man auf die vermeintliche Offerte reagieren? "Wir sind alle in unserem Denken festgefahren", kommentierte Vizekanzler Franz Blücher (FDP) im geschäftsführenden Ausschuss der FDP, dessen Protokoll in Besitz der SED gelangte.
Für Ehlers war "die Aktion Grotewohls und der Volkskammer ein Bestandteil des politischen Spiels Moskaus." Statt "Deklamation gegen Deklamation zu stellen, müssen wir heraus aus der propagandistischen Defensive." Ehlers wollte politisch mitspielen, Moskau spielerisch übertrumpfen – mit dem nüchternen Argument: Ostdeutsche müssten sich schließlich täglich mit den DDR-Machthabern arrangieren. Zwar verbot sich deren Anerkennung durch den Westen, aber Ehlers insistierte, dass die in Bonn in Verantwortung für alle Deutschen betriebene Politik auf Vorschläge aus dem Osten auch für Ostdeutsche erkennbar eingehen müsse. "Groß" nannte er im Januar 1952 im Bonner Melanchthonhaus "die Gefahr des menschlichen Auseinanderwachsens von Ost und West".
Verunsichernd wirkte – in beiden deutschen Staaten – die unerwartete Stalin-Note vom 10. März 1952 mit ihren deutschlandpolitischen Angeboten an die Westmächte. Nach Beobachtung Michael Lemkes schwankten SED-Funktionäre "zwischen offizieller Begeisterung und latenter Ablehnung". Um sich mit Moskau keinesfalls zu überwerfen, forcierten alle SED-Funktionäre den sozialistischen Aufbau. Ehlers warnte im Januar 1952: Der Westen dürfe keinesfalls "nur noch 'Tagespolitik' betreiben." Es sollte zu keiner "Brüskierung" der Vorschläge der Ostdeutschen kommen. Um "das Auseinanderwachsen von Ost und West" zu stoppen, war Ehlers zu großen politischen Konzessionen bereit: Wir sollten "nüchtern die Frage, was aus den Gebieten östlich der Oder und Neiße wird, auf die Zeit vertagen, wo wir diese beiden anderen Gebiete, in denen die Masse der Deutschen [...] lebt, zusammengeführt haben." Neutralismus kam als Alternative für ihn nicht infrage, "weil Neutralitätspläne ein Vakuum schüfen, in das die östliche Ideologie einfließen könnte." Folglich betonte er in Die junge Stimme: Eine Zeitung junger Christen: "Es gibt keinen Weg, Deutschland zwischen Ost und West als eine Art dritte Kraft zu gestalten". Ehlers trumpfte mit seiner eigenwilligen Überlegung nicht tagespolitisch gegen die Regierungspolitik auf. Meinungsvielfalt war für ihn in der CDU eine Selbstverständlichkeit, erläuterte er in einer Rede in Schleswig: Man sei "gewiß auch in der CDU nicht um jeden Preis mit allem einverstanden, was Dr. Adenauer tue. Gerade auf die Eigenständigkeit einer politischen Meinung kommt es an. Es gibt keinen genormten CDU-Typ."
Ehlers‘ Propagandabumerang
Mit zustimmender "Heiterkeit" quittierte der Bundestag am 19. Oktober 1952 Ehlers‘ Wortmeldung: "Sie wissen ja, daß ich auch schon einmal den Versuch gemacht habe, auf meine Weise der deutschen Einheit zu dienen. Auch damals gab es ja schon eine gewisse Einmütigkeit der Ablehnung." Gegen den Empfang der Volkskammerdelegation durch das Bundestagspräsidium am 19. September 1952 hatten sich Adenauer und die SPD in einer Großen Koalition gegen den Bundestagspräsidenten vereint. Ungeachtet dieser Konfrontation gaben einen Monat später die Delegierten des CDU-Bundesparteitags in Berlin bei der Wahl zum Stellvertretenden Vorsitzenden Ehlers wie Adenauer als Vorsitzendem 302 Stimmen.
Seit Herbst 1952 galt Ehlers als "Kronprinz des Kanzlers" – trotz oder wegen des Empfangs der Volkskammerdelegation? Ist er in der historischen Forschung wegen seiner widerständigen, utopischen Züge zumeist übergangen worden? Nicht zufällig wurde der Empfang wegen Ehlers‘ gesprächsstrategischer Eigenständigkeit als zweiter Mann in der Bundesrepublik in die "Protest-Chronik 1949–1959: Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie" aufgenommen.
Der Präsident der Volkskammer, Johannes Dieckmann von der liberaldemokratischen Partei Deutschlands (LDPD), hatte den Empfang der Volkskammerdelegation vorbereitet. Seit 1950 schickte er dem "sehr geehrten Herrn Präsidenten" im Bundestag Texte der Volkskammer, die Ehlers an den Bundeskanzler und/oder die Fraktionen mit diplomatischen Formulierungen weiterleitete, ohne die beteiligten/erwähnten DDR-Institutionen als "sogenannte" zu relativieren, wie es bundesrepublikanischen Gepflogenheiten entsprochen hätte. Wie ungewohnt es für westdeutsche Politiker war, einen Brief des "Präsidenten der Volkskammer in der sowjetisch besetzten Zone" in Empfang zu nehmen, zeigt die Bitte des Geschäftsführers der SPD-Fraktion Wilhelm Mellies, Ehlers möge "nach Eingang eines solchen Schreibens eine kurze Besprechung mit einigen Mitgliedern des [zwanzigköpfigen] Ältestenrates ansetzen – also ohne die KPD-Mitglieder. Leider ist der einschlägige Schriftwechsel Ehlers‘ mit dem Volkskammerpräsidenten verschwunden, weil ein Teil des Aktenbestandes von Bundestagspräsident Ehlers im Bundestagsarchiv "kassiert", also vor der Archivierung vernichtet worden ist. Sicher ist aber, dass am 9. September 1952 ein Telegramm aus der DDR Ehlers erreichte: "Die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik wählte am 5. September 1952 eine aus den Abgeordneten Hermann Matern, Otto Nuschke, Dr. Karl Hamann, Heinrich Homann und Ernst Goldenbaum bestehende Delegation mit dem Auftrage, Ihnen und dem Präsidium des Deutschen Bundestages ein Schreiben an alle Abgeordneten des Bundestages zu überreichen, in dem eine Verständigung über den Weg zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands als eines demokratischen friedliebenden und unabhängigen Staates über eine gesamtdeutsche Mitwirkung beim Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland sowie über die Durchführung freier gesamtdeutscher Wahlen vorgeschlagen wird." Sie sei bereit, über eine Entsendung von Vertretern beider Staaten zur Viermächte-Konferenz und über "freie gesamtdeutsche Wahlen" zu verhandeln.
Obwohl es nach Ehlers Ansicht das bekannte "Moskauer Spiel" war, überzeugte der Bundestagspräsident die Vizepräsidenten Carlo Schmid (SPD) und Hermann Schäfer (FDP), den Brief von der Delegation in Empfang zu nehmen, und informierte telefonisch das Kanzleramt über die zustimmende Antwort. Dann zog Carlo Schmid seine Zustimmung zurück wegen "der besseren Einsicht seines Parteivorstandes. Schmid war nicht die einzige Figur auf dieser Bühne des politischen Dilettantismus; das ganze Bonner Ensemble geriet aus dem Text und fand die Worte nicht mehr, die nötig gewesen wären."
Die SPD plakatierte vielerorts: "Wir brauchen keine Moskauer Briefträger". In den Regierungsparteien gingen die Meinungen wild durcheinander. Während der Kabinettssitzung am 16. September, in der Adenauer den Empfang als Eigenmächtigkeit Ehlers‘ verurteilte, "wird bekannt, daß der Vorstand der CDU/CSU-Fraktion einstimmig beschlossen hat, an der Absicht des Empfanges festzuhalten", Ehlers also zu unterstützen. Die Presse überfiel das Bundeskanzleramt mit Anfragen. Ein Stuttgarter Redakteur wollte wissen, ob die Delegation "an der Grenze von einer Polizeieskorte“ empfangen und nach Bonn gebracht werde. "Da die Regierung offiziell von der Anwesenheit der Volkskammer-Delegation keine Notiz nehme und daher über irgendwelche Maßnahmen keine Auskunft geben könne", verwies eine Mitarbeiterin die Journalisten an das Präsidium des Bundestages.
Am Freitag, den 19. September, brachten sowjetische Luxuslimousinen die mit einem polnischen Flugzeug eingetroffenen Delegierten vom Flughafen Düsseldorf nach Bonn. An der Rheinbrücke in Beuel empfing sie der mit faulem Obst bewaffnete westdeutsche "Volkszorn", unterstützt von Lautsprecherwagen der antikommunistischen Propagandaorganisation "Volksbund für Frieden und Freiheit." 18 Minuten dauerte die Übergabe des Briefes an Ehlers im Bonner Bundeshaus, Vizepräsident Schäfer war wegen einer auswärtigen Vortragsverpflichtung nicht in Bonn. SED-Funktionär Matern trug den Wunsch eines Gespräches zur Beseitigung der "widernatürlichen Spaltung" Deutschlands vor. Ehlers versicherte, den Brief den Abgeordneten nach der Sitzungspause zukommen zu lassen. Eine kurze Unterrichtung über parlamentarische Demokratie folgte: "Wir haben eine Scheidung zwischen Legislative und Exekutive, und die Aufgabe der Verhandlung ist nicht unmittelbar Sache des Bundestages, sondern Sache der Regierung". Um in Frieden und Freiheit einen Friedensvertrag zu erarbeiten, sei wegen der unfreien Wahlen in der DDR und der Folter im Zuchthaus Waldheim zu klären, "in welcher Weise das realisiert wird."
Die Delegation bezog ein Hotel in Remagen (in der über die Zukunft des Saarlands zerstrittenen französischen Zone), wo sie abends mit westdeutschen Politikern sprach. Zu diesen gehörte Hermann Etzel von der Bayernpartei, der behauptete, dass eine Einladung der 13 westlichen Wiedervereinigungspolitiker aus verschiedenen Parteien die Delegierten nach Bonn führte. Propagandistisch sollte so Ehlers‘ Einladung zur Aktion dieser Minorität gemacht werden. Die DDR hatte den in Duisburg 1900 geborenen CDU-Volkskammerabgeordneten Walter Rübel in die Bundesrepublik gesandt, um für die Delegation Gespräche zu organisieren. "Über Erfolg und Mißerfolg führte er Buch in seinem Notizbuch", berichtete Der Spiegel. So erfuhr Adenauer, mit welchen Politikern Rübel sich unterhalten hatte. Dessen Gespräche ergaben nichts; er wurde verhaftet, als er in Remagen war – obwohl sein Interzonenpass nur für Hamburg galt – im Bundeskriminalamt vernommen und abgeschoben.
Seit der Öffnung der sowjetischen Archive ist der "streng geheime Entwurf" eines Beschlusses des ZK der KPdSU im Februar 1951 bekannt. Er begrüßte die Vorschläge der Genossen Pieck, Grotewohl und Ulbricht, "daß die Volkskammer dem Bonner Bundestag vorschlägt, sich gemeinsam an die vier Großmächte [...] zu wenden." Als der Empfang 1952 bevorstand, organisierte die DDR massenhaft Sympathieerklärungen und setzte auch bayerische Kommunisten ein.
Im Stadtrat Münchens teilte Oberbürgermeister Thomas Wimmer (SPD) am 23. September 1952 mit: "Herr Kollege (Josef) Lettenbauer (KP-Stadtrat) hat mich gefragt, was ich dagegen hätte, wenn die Abgeordneten der Volkskammer die Möglichkeit hätten, auch nach München zu kommen. Ich habe gesagt, [...] sie würden genauso behandelt wie jeder andere auch, der einen Antrag einreicht, um in München vorübergehend durch das Zuzugsamt eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen." Das Bayerische Volks-Echo hatte am selben Tag auf der Titelseite die Meldung Lettenbauers gebracht: "Volkskammerdelegation nach München eingeladen." Der Artikel landete in Ost-Berlin bei Volkskammerpräsident Dieckmann. "Nach der dritten Maß" habe Lettenbauer die Nachricht im KP-Blatt übermittelt, meinte im Stadtrat Stadtratskollege Franz Xaver Fackler (CSU).
Ehlers‘ Empfang der Volkskammerdelegation: Widerstand und Utopie
"Ehlers tat das Vernünftigste, was in diesem Augenblick zu tun war. Er beantwortete den Propagandatrick der Ostzonalen mit einem ebensolchen Schritt" kommentierte "Ken" in der Badischen Zeitung vom 16. September. Als Propagandabumerang gab er den Delegierten die Chance, die Glaubwürdigkeit ihrer Vorschläge in westlicher Öffentlichkeit unter Beweis zu stellen. Der Umgang mit alltäglicher westlicher Journalistenneugier überforderte sie. Nach der Übergabe des Briefes stand Ehlers allein vor der Bundespressekonferenz, weil die Ostdeutschen kniffen. Der als "Begleiter" getarnte SED Propagandasekretär Fred Oelßner war machtlos. Als die Delegierten sich am nächsten Tag in Bad Godesberg stolz mit der ausländischen Presse unterhielten, unterliefen ihnen in ihrer Nervosität peinliche Formulierungen. Noch entsprächen die Verhältnisse im Osten "nicht ganz den Modalitäten einer normalen Demokratie", meinte etwa Nuschke. Auf die Entführung des Juristen Walter Linses vom Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen (UFJ) in West-Berlin am 8. Juli angesprochen, sagte der stellvertretende Ministerpräsident, der Staatssicherheitsdienst unterstehe nicht der Regierung, sondern handele in eigener Verantwortung. Und Goldenbaum erklärte auf die Frage, ob die Sowjetzone ein Wiedergutmachungsabkommen mit Israel schließen wolle, noch sei nichts bezahlt, weil Israel nicht danach gefragt habe. In welcher Form daraufhin das israelische Außenministerium in Ost-Berlin vorstellig wurde, ist unbekannt.
Der in Bonn von der am Straßenrand kochenden antikommunistischen Volksseele nicht überzeugte Matern kommentierte nach dem Bericht des Spiegel: "Die Demonstrationen waren uns nicht spontan genug. Das hätten wir besser gekonnt." Ein Leserbrief im Rheinischen Merkur berichtet, wie der "Volksbund für Frieden und Freiheit" antikommunistischen Volkszorn organisierte: "Am Samstag 20. September, rief vormittags ein Vertreter des Volksbundes für Frieden und Recht bei der studentischen Arbeitsvermittlung [...] an und suchte für die Zeit von 12:30 Uhr bis 14:30 Uhr 50 Studenten als Demonstranten gegen die Volkspostboten. Bezahlung 5,- DM für 2 Stunden. Trotz meines Protestes wurde ein Aushang gemacht, nach dem 50 Studenten für Sonderauftrag von 12:30 Uhr bis 14:30 Uhr für 5,- DM gesucht wurde. Zu melden [... folgte die Adresse des ‚Volksbundes‘] Stud. phil. Georg Pfalz, Pressereferent des AStA Bonn." Um dies richtigzustellen, schrieb der Vorsitzende jenes Allgemeinen Studentenausschusses, der evangelische Theologiestudent Wilfried Meinhard Gaddaum, einen Brief nicht an den für den Empfang verantwortlichen Ehlers, sondern an den Minister für gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser, dessen Ministerium den "Volksbund" finanzierte. Die Wahl des Adressaten signalisierte Gaddaums Distanz zu Ehlers‘ Empfang der Delegation.
Ehlers wies den Volksbundprotest zurück ohne den Volksbund zu nennen: Protest sei möglich, müsse aber gegenüber der Öffentlichkeit und den ostdeutschen Delegierten glaubwürdig sein. "Liebe zum eigenen Volke dürfe niemals organisiert und subventioniert sein". Er stimmte dem Kommentar im Bayerischen Rundfunk zu: "Was sich in Bonn vor Nuschke und Matern abgespielt hat, beschämt nicht den Osten, sondern uns."
Reptilienfonds gegen "vorwegnehmende Utopie"
Antonius John vom Handelsblatt stellt die entscheidende Frage, wer die Demonstrationen finanzierte: "Man spricht davon, daß der Reptilienfonds des Kanzlers eine wichtige Rolle gespielt habe." Der Bundeshaushalt stellte 1952 dem Kanzler 3.058.250 D-Mark "für die Förderung von Film, Bild und Publikationen" zur Verfügung, "die Mittel sind übertragbar", nach dem Haushaltstitel unterlag die Auszahlung der Mittel keiner parlamentarischen Kontrolle. Ob der machtbewusste Adenauer sich im Kalten Krieg so an seinem eigenständigen "Kronprinz" rächte, bleibt aufgrund fehlender Unterlagen offen. Ehlers‘ auch in kirchlichen Jugendzeitschriften pointiert dokumentierte diplomatische Gesprächsstrategie setzte sich im Empfang gegen den rituellen Angstruf Adenauers vor einer drohenden Anerkennung der DDR durch. An sie dachte niemand, als die Delegierten sich in ungewohnter westlicher Öffentlichkeit als fiktive Demokraten blamierten. Erst die Abwesenheit der beiden Vizepräsidenten hatte den Empfang der Volkskammerdelegierten zum Duell gemacht, bei dem Ehlers Adenauer ausstach.
Am Freitag, den 13. Januar 1961, Monate vor dem Mauerbau, sprach der Präsident der Volkskammer Dieckmann in Marburg auf Einladung der Hochschulgruppe des Liberalen Studentenbundes Deutschland (LSD) über "Möglichkeiten zur deutschen Wiedervereinigung." Er verwies auf den Delegationsempfang 1952, den auch seine "Beziehungen zu Ehlers" ermöglichten. Mit dem habe er sich 1954 in Leipzig "freundschaftlichst [...] stundenlang ausgetauscht." Die westdeutsche Presse überging dies – auch den von Paul Dessau 1963 vertonten "Marburger Bericht für Tenor- und Baßsolo, gemischten Chor, Kinderchor und Orchester".
Ehlers hatte nicht erwartet, dass "der Empfang wesentlich Neues erbringen würde und dass man neue Erkenntnisse über etwaige Veränderungen der politischen Haltung und Zielsetzung drüben gewinnen würde." Ehlers‘ Absicht war: "Ich habe die Volkskammerdelegation nicht empfangen, weil ich diese Menschen als rechtmäßige Vertreter anerkenne, sondern um der Menschen jenseits des Vorhanges willen, wo die Delegierten die politische Macht haben." Eigenständig widerstand der "zweite Mann" der Bundesrepublik den totalitären Zwangsläufigkeiten der Frontbildung im Kalten Krieg. Er reagierte so auf die Unsicherheit, in der noch halbkolonialen Bundesrepublik Politik betrieben wurde. "Man muß, wenn man den Weg der Jahre 1949–1955 [in Deutschland] nachzeichnet, den Gedanken ernst nehmen, daß es auch anders hätte ausgehen können.", bilanziert Peter Graf Kielmannsegg. Im Januar 1951 konnte Ehlers Adenauer zwar nach dem Bericht von Otto Lenz nicht überzeugen, dass nur der Bundestag auf die Antwort, die Grotewohl auf die Erklärung des Bundeskanzlers gegeben hatte, "zu antworten habe." Kühn stellte Ehlers im November unter der Überschrift "Die Verantwortung des Parlaments" öffentlich fest, dass "der Bundestag Funktionen hat, die man mit den Bestimmungen des Grundgesetzes nicht ohne weiteres beschreiben kann. Der Deutsche Bundestag versteht sich in stärkstem Maße als Organ der Repräsentation der deutschen Einheit [...], der gesamten Deutschen, die zur Zeit in zwei Staatswesen zerteilt in Ost und West ihr gesondertes Leben führen müssen."
Als Politiker der halbkolonialen Bundesrepublik musste Ehlers klären, ob die Allierten dem Empfang widersprächen. Das "spätsommerlich freundschaftliche Gespräch" des neuen Hohen Kommissars aus den USA Walter Donnelly mit Sowjetgeneral Tschuikow in Berlin war, wie der Spiegel vermutete, "einer der Beweggründe für Ehlers [...], ebenfalls mit sowjetzonalen Delegierten zu sprechen. Ehlers hatte auf einem Lunch mit Donnelly Einzelheiten über das "nützliche Gespräch" des Amerika¬ners in Berlin erfahren." Der zuvor in Wien eingesetzte Hohe Kommissar hatte erlebt, wie Österreicher im Gespräch mit den Alliierten die „österreichische Lösung“ einer allseits respektierten Neutralität erarbeiteten. Unabhängig davon, daß diese Lösung auf das gewichtigere Deutschland nicht übertragbar war, wird Donnelly Ehlers zum Empfang der Volkskammerdelegation ermutigt haben, weil er wusste, wie Österreicher die neue freiheitliche Ordnung prägten.
Der erste "Diplomatenempfang" eines Bundestagspräsidenten, zu dem Ehlers am 16. Juni 1952 in das Bundeshaus einlud, der ihn wohl mit Donnelly zusammenführte, zeigt dessen politische Ambitionen.
In der weltpolitisch unsicheren Situation Deutschlands setzte Ehlers den Empfang als "vorwegnehmende Utopie" ein, um zukunftsoffen gegen die Verfestigung der Teilung zu protestieren und um die Möglichkeit zu eröffnen, in Bonn Politik für den innerdeutschen Gesprächskreis – wie die EKD-Synode in Elbingerode – "nicht für 50 Millionen, sondern für 70 Millionen (zu) betreiben." Die "Bilder und Zeugnisse deutscher Geschichte" im "Deutschen historischen Museums" (DHM) erwähnen diese widerständig utopische Aktion im Kalten Krieg nicht. Da Ehlers 1954 fünfzigjährig starb, konnte er nicht als Nachfolger Adenauers Deutschlands Politik widerständig-utopisch gestalten.
Zitierweise: Andreas Meier, Gesprächsstrategie im Kalten Krieg: Empfang einer Volkskammerdelegation im Deutschen Bundestag 1952, in: Deutschland Archiv, 10.2.2016, Link: www.bpb.de/220059
Dr., theol.; geboren in Heidelberg, Studium der evangelischen Theologie und Geschichte in Deutschland, Österreich und Schweiz. Redenschreiber der Berliner Schulsenatorin Dr. Hanna Renate Laurien (CDU) und des brandenburgischen Innenministers Dr. Alwin Ziel (SPD), Promotion in Münster. Dozent und Publizist, Veröffentlichungen vor allem über Personen und Themen deutscher Zeitgeschichte, Tradition und Eigenart der "Jugendweihe-JugendFeier" sowie den französischen Protestantismus.