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Kommentar: Angriff des Kreml auf Memorial | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Angriff des Kreml auf Memorial

Nikolay Petrov London) Nikolay Petrov (Chatham House

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Der Angriff auf Memorial hat sowohl taktische wie auch strategische Gründe. Bereits die Funktionsbeschreibung einer Gesellschaft für historische Aufklärung und Menschenrechte birgt das, was einem zielstrebig autoritärer werdenden Regime kategorisch missfällt.

Der Senatspalast, Teil des Amtssitzes des russischen Präsidenten Putin, hinter der Mauer vom Kreml auf dem Roten Platz. (© picture-alliance/dpa, Christian Charisius)

Alljährlich am 30. Oktober wird in Russland der Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen begangen. In diesem Jahr veröffentlichte Memorial am Vorabend die Information, dass es im Land derzeit mindestens 442 politische Gefangene gibt. Es folgte die von Memorial jedes Jahr organisierte "Rückgabe der Namen", bei der den ganzen Tag lang die Namen derjenigen verlesen werden, die während des Großen Terrors 1937–1938 erschossen wurden. Eine Woche später klagten Staatsanwaltschaften bei Gericht auf die Auflösung zweier verwandter Organisationen, der Gesellschaft für historische Aufklärung, Bildung, Fürsorge und Menschenrechte "Memorial International" und des Menschenrechtszentrums "Memorial". Beide Organisationen waren von den Behörden als "ausländische Agenten" eingestuft worden, erstere 2016 und letztere 2014. Den Staatsanwaltschaften zufolge verstoßen die Organisationen grob gegen die Gesetzgebung über "ausländische Agenten".

Dieser Angriff, das haben die ersten Gerichtsverhandlungen gezeigt, erscheint hinsichtlich der von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Belege absolut schlecht vorbereitet und ad hoc. Das Oberste Gericht, das das Verfahren gegen Memorial International verhandelt, vertagte sich nach dem ersten Sitzungstag auf den 14. Dezember. Das Stadtgericht Moskau, vor dem das Verfahren gegen das Menschrechtszentrum verhandelt wird, vertagte sich auf den 16. November. Die Daten sind wichtig, weil für den 9. Dezember das jährliche Treffen von Präsident Putin mit dem Menschenrechtsrat angesetzt ist, der bereits erklärt hat, dass er dort die Geschehnisse um Memorial ansprechen werde.

Es ist klar, dass sowohl die Entscheidung, die Anträge bei den Gerichten zu stellen, als auch die Entscheidung über den Ausgang der Verhandlungen eine rein politische ist, die letztlich Wladimir Putin persönlich trifft. Eine Analyse der juristischen Begründung und der nur schwerlich einleuchtenden Forderungen des Regimes, wie sie in den Klagen formuliert sind, hat wenig Sinn. Man denke nur an die Formel, die in der Zeit der Repressionen unter Stalin kursierte und mal diesem selbst, mal Staatsanwalt Wyschinskij zugeschrieben wird: "Haben wir jemanden erstmal, wird sich schon ein Paragraf finden".

Der aktuelle Angriff gegen Memorial hat sowohl taktische wie auch strategische Gründe. Bereits die Funktionsbeschreibung einer Gesellschaft für historische Aufklärung, Bildung und Menschenrechte birgt das, was einem zielstrebig autoritärer werdenden und totalitäre Züge annehmendem Regime kategorisch missfallen. Wenn sich das Regime mit der Geschichtskomponente noch abfinden könnte, so geht das bei den Bereichen Bildung und Menschenrechte in keinster Weise. Bei Memorial geht es schließlich nicht nur darum, die Erinnerung an die Repressionen unter Stalin zu wahren und bürgerschaftliche Bildung zu fördern, etwa bei jungen Menschen. Memorial lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die politischen Repressionen, die heute in Russland erfolgen. Die russische Gesellschaft und die internationale Gemeinschaft werden über die politische Situation im Land informiert. Memorial ist ein Sammelpunkt für die gesamte russische Zivilgesellschaft, es ist eine Plattform, und Tribüne, wie es im Land praktisch kaum noch eine gibt.

Die politischen Repressionen werden jetzt in Russland nicht nur ausgeweitet, mit einer Ausweitung des Kreises der zivilgesellschaftlichen Strukturen, Medien oder einfach Personen, die zu "ausländischen Agenten" oder "unerwünschten Organisationen" erklärt wurden. Die Repressionen werden auch intensiver, indem Organisationen geschlossen und Menschen außer Landes getrieben, verhaftet und ins Gefängnis geworfen werden.

Seit Memorial zu einem "ausländischen Agenten" erklärt wurde, hat der Druck des Kreml auf Memorial zugenommen, die Schlinge zog sich allmählich zu. Es wurde versucht, Memorial mit gewaltigen Geldstrafen zu ersticken. In Karelien und Inguschetien wurden die Leiter der jeweiligen regionalen Organisation von Memorial aufgrund fabrizierter Straferfahren verurteilt. Das Regime versuchte, Veranstaltungen von Memorial zu stören und setzte dazu junge Neonazis ein, wie kürzlich bei der Vorführung eines Filmes von Agnieszka Holland über den Holodomor.

Es stimmt, dass Memorial durch all diese Maßnahmen geschwächt wurde, sowohl in Bezug auf die im Vergleich zu früher stark eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten, als auch hinsichtlich der Unterstützung von Seiten der Gesellschaft. Eine vor kurzem durchgeführte Umfrage des Lewada-Zentrums ergab, dass nur ein Viertel der Befragten von Memorial wussten, und von diesen wiederum fand nur die Hälfte die Arbeit von Memorial gut. Ein gleicher Anteil ist der Ansicht, dass das Vorgehen gegen Memorial politisch motivierter Druck durch die Regierung ist. Immer weniger junge Menschen wissen von Memorial; und immer weniger wissen um die stalinistischen Repressionen gegen Angehörige der eigenen Familie.

Zudem war und bleibt Memorial ein Feind des in Russland triumphierenden Tschekismus, der früher genötigt gewesen war, sich mit der Existenz einer solchen Organisation abzufinden, der heute aber spürt, dass der Preis, der innerhalb wie außerhalb Russlands wegen einer Schließung von Memorial zu zahlen wäre, geringer geworden ist.

Derzeit sind unterschiedliche Szenarien für die nahe Zukunft denkbar, die Entwicklung wird von der Haltung der russischen Gesellschaft und der internationalen Gemeinschaft abhängen. Dass eine Reihe offizieller und semioffizieller Personen sowie Organisationen unterschiedlich deutlich ihre Unterstützung für Memorial International gezeigt haben (zwar nur für dieses, und nicht für das Menschenrechtszentrum), könnte bedeuten, dass letzteres zum Hauptziel wird; der Kreml könnte vorläufig das eine Memorial begnadigen und das andere schließen.

Es ist klar, dass dies auf keinen Fall das Ende der Geschichte ist. Memorial – und zwar die Hauptorganisation und das Menschenrechtszentrum – werden ihre Mission nach Kräften fortführen, und sei es unter härteren Bedingungen. Klar ist auch, dass die Linie, die Organisationen zu isolieren und ihre Rolle in der Gesellschaft zu schwächen, weiterverfolgt werden wird, selbst wenn sie jetzt nicht per Gerichtsbeschluss geschlossen werden sollten. Memorial bleibt dabei nicht einfach nur eine sehr wichtige Verteidigungslinie, sondern ein Symbol der gesamten russischen Zivilgesellschaft. Wenn Memorial geschlossen und in den Untergrund gedrängt werden könnte, bedeutete das, dass der Kreml im Umgang mit Strukturen der Zivilgesellschaft nun völlig entfesselt agieren kann.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Fussnoten

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Nikolay Petrov ist Senior Research Fellow im Forschungsprogramm Russland und Eurasien bei der britischen Denkfabrik Chatham House in London. Zuvor war er unter anderem Wissenschaftler am Carnegie Center Moscow und Professor für Politikwissenschaft an der Higher School of Economics in Moskau. In den Jahren 2015 bis 2018 organisierte Petrov in Kooperation mit Memorial die öffentliche Expertendiskussionsreihe "Das Land, in dem wir leben".