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Selenskyjs vs. Putins Rhetorik / Gesellschaftlicher Widerstand / Deutschlands Blick auf die Ukraine / Selenskyjs Erfolge / Ukrainische Verhandlungsposition / Russische Kriegsverbrechen (11.04.2022) Analyse: Zweierlei Spiegelungen. Putins und Selenskyjs rhetorische Strategien Analyse: Was mobilisiert den ukrainischen Widerstand? Analyse: Deutschland, die Ukraine, Russland und das Erbe des deutschen Kolonialismus in Osteuropa Analyse: Herausragende Leistung: Selenskyj als Präsident der geeinten Ukraine dekoder: Neutrale Ukraine – ein Ausweg aus dem Krieg? Dokumentation: Human Rights Watch: Ukraine: Apparent War Crimes in Russia-Controlled Areas Dokumentation: Internationale Hilfen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine Chronik: 2. bis 10. März 2022

dekoder: Neutrale Ukraine – ein Ausweg aus dem Krieg? Ukraine-Analysen Nr. 266

Cindy Wittke Stefan Wolff Gwendolyn Sasse

/ 8 Minuten zu lesen

Ob die Neutralität der Ukraine zu einem Ende des russischen Angriffskrieges führen könnte, lässt dekoder im dritten Teil ihrer FAQ von Wissenschaftler:innen beantworten.

Rettungskräfte auf den Trümmern eines von russischen Truppen zerstörten Hauses in einer Kleinstadt westlich von Kyjiw. (© picture-alliance, Photoshot)

Zusammenfassung

Einleitung von dekoder: Inmitten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gab es bereits mehrere Verhandlungsrunden. Viel Hoffnung auf eine schnelle diplomatische Lösung besteht nicht. Und doch fällt immer wieder ein Stichwort: ein "neutraler" Status für die Ukraine und die Verankerung eines solchen Status in der ukrainischen Verfassung. Aber was heißt das überhaupt? Geht das? Und: Könnte der Krieg dadurch wirklich (so einfach) beendet werden?

1. Neutrale Ukraine – ist doch DIE Lösung, oder?

Die Idee klingt tatsächlich nach einer einfachen Lösung: Die russische Führung würde mit einem neutralen Puffer-Staat ("cordon sanitaire") bekommen, was sie verlangt, und der Krieg könnte schnell enden.

So einfach ist es aber nicht und zwar aus drei zentralen Gründen:

Erstens: Die Ukraine ist kein Objekt von Verhandlungen, sondern ein souveräner Staat. Entscheidend ist also, was die ukrainische Regierung und die Menschen im Land als mögliche Lösung für den Krieg sehen. Präsident Wolodymyr Selensky hat betont, dass Sicherheitsgarantien zum Schutz seines Landes zunächst am wichtigsten sind.

Zweitens: Egal, ob es am Ende um einen "neutralen" Status geht oder um einen anderen Kompromiss – Sicherheitsgarantien sind dabei das Kernproblem, wie bisherige Forderungen der Ukraine zeigen. Alles dreht sich in dem, was dazu bislang bekannt ist, um die Frage, wer einer möglichen "neutralen" Ukraine im Fall eines Angriffs militärisch beistehen würde, ohne Wenn und Aber. Andernfalls sähe sich die Ukraine als Nicht-NATO-Mitglied schutzlos einem Angreifer ausgeliefert. Entscheidend sind also Garanten, sprich: (Schutz-)Staaten (USA, Großbritannien etc.) oder internationale Organisationen, die rechtsverbindlich verpflichtet wären einzugreifen, notfalls militärisch. Allen voran müsste sich auch Russland darauf erst einmal einlassen. Und die Ukraine muss sich sicher sein können, dass die Garantien das Papier, auf dem sie stehen, auch wert sind.

Drittens: Die jüngere Geschichte der Ukraine mahnt zur größten Vorsicht, weil Russland mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 bereits ein Schutzabkommen gebrochen hat, nämlich das Budapester Memorandum von 1994. Über das Abkommen war der Ukraine territoriale Integrität, Souveränität und Schutz zugesichert worden – von Russland selbst, außerdem von den USA und Großbritannien. Im Gegenzug hat die Ukraine damals die auf ihrem Gebiet aus Sowjetzeiten "geerbten" Atomwaffen abgegeben (aber keine "Neutralität" versprochen). Die Annexion hat gezeigt, dass das Budapester Memorandum keinen effektiven Schutz bot. Der Angriffskrieg seit dem 24. Februar 2022 unterstreicht das nur ein weiteres Mal.

Ganz grundsätzlich stellt sich die Frage, ob sich die russische Seite mit einer "Neutralität" allein wirklich zufrieden geben würde. In den TV-Ansprachen vor der Invasion hat Russlands Präsident Wladimir Putin die Existenz der Ukraine als Staat wiederholt und mit Nachdruck generell infrage gestellt.

Cindy Wittke, Stefan Wolff

2. Was genau liegt überhaupt auf dem Verhandlungstisch?

Momentan fungiert das Stichwort "Neutralität" vor allem als eine Art Türöffner für die ersten Verhandlungsrunden zwischen Russland und der Ukraine – wobei unklar ist, ob das irgendwo hinführen kann.
Die zentralen Punkte, sowohl auf der russischen, als auch auf der ukrainischen Seite, zeigen, wie weit die Vorstellungen dabei auseinander liegen.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat drei zentrale Maximalforderungen genannt.

Erstens: Neutralität der Ukraine, verbunden mit einer Entmilitarisierung
Zweitens: Anerkennung der Krim als Teil Russlands
Drittens: Anerkennung der Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken im Donbass

Das Ziel eines Regimewechsels in Kiew, der im russischen Propaganda-Narrativ "Entnazifizierung" impliziert war, ist im Zuge der eigentlichen Verhandlungen kaum noch betont worden. Damit wird nun der ursprünglich angestrebte Regimewechsel in Kiew nicht explizit angesprochen und der Weg für direkte Gespräche zwischen Wladimir Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky offen gehalten.

Selensky hat auf die russischen Verlautbarungen bisher deutlich ablehnend reagiert, insbesondere auf die Forderungen zwei und drei, die die territoriale Integrität der Ukraine infrage stellen.

Auch eine mögliche Neutralität legt Selensky anders aus.

Erstens: Er verwendet eine enge Definition von Neutralität und meint damit den Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft, die mit noch zu definierenden Sicherheitsgarantien durch eine größere Anzahl von Garantstaaten (darunter die USA, Großbritannien, Frankreich, Russland, oder auch die Türkei, Polen, Israel) abgesichert werden soll. Diese Sicherheitsgarantien und die Frage, wie sie durchgesetzt werden können, sind der eigentliche Knackpunkt.
Zweitens: Eine Entmilitarisierung wird von der Ukraine abgelehnt.
Drittens: Es besteht Selbstbestimmungsrecht in der politischen und wirtschaftlichen Westorientierung der Ukraine (EU-Integration).

Die mehrheitliche gesellschaftliche Zustimmung in der Ukraine für die NATO-Mitgliedschaft ist seit 2019 gestiegen und bleibt auch jetzt im Krieg hoch. Daher ist unklar, ob ein möglicher Kompromiss seitens Selenskys überhaupt auf die nötige gesellschaftliche Akzeptanz stoßen würde. Der ukrainische Präsident hat ein Referendum über ein Abkommen angekündigt. Territoriale Fragen der Ukraine würden dabei voraussichtlich noch kontroverser in der Bevölkerung aufgenommen als ein Verzicht auf einen NATO-Beitritt.

Gwendolyn Sasse

3. War die Ukraine bislang nicht sowieso neutral?

Die Kurzversion: Ja, die Ukraine gehört weder der NATO noch der EU an. Für die Ukraine gab und gibt es mittelfristig auch keine Perspektive, in die NATO aufgenommen zu werden. Was die EU angeht, hat sich dagegen seit dem Assoziierungsabkommen von 2014 eine potentielle Beitrittsperspektive eröffnet, wobei der Weg zum offiziellen Status als Beitrittskandidat noch weit ist.

Die Beantwortung dieser Frage ist jedoch etwas komplizierter und hilft zu verstehen, dass es zu einfach ist, eine Art "neutrale" Ukraine als schnelle Lösung für den derzeitigen Krieg anzusehen. Also von vorn: Die Ukraine war und ist bündnisfrei, besaß jedoch nie einen offiziell "neutralen" Status (wie etwa Finnland). Zugleich hatte die Ukraine seit 1994 mit dem Budapester Memorandum einen gewissen Schutzstatus genossen.

Die Außen- und Sicherheitspolitik war seither davon geprägt, sowohl in Richtung EU und NATO also auch in Richtung Russland zu blicken – je nachdem, ob der prorussische Viktor Janukowitsch oder prowestliche Kräfte wie Viktor Juschtschenko in Regierungsämtern waren. Unter Juschtschenko erhielt die Ukraine auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 eine grundsätzliche Beitrittsperspektive (neben Georgien). Hintergrund waren Ängste um die territoriale Integrität mit Russland als direktem Nachbarn und seinem Flottenstützpunkt auf der Krim, während ein Konflikt um die Lieferung russischen Gases schwelte.

Der Fünf-Tage-Krieg zwischen Russland und Georgien nur kurze Zeit später bestätigte solche Ängste. Damit wurde jedoch die NATO zögerlich. Wegen Bedenken, Länder aufzunehmen, die eine mögliche Konfrontation mit Russland als Bündnisfall mit sich bringen könnten, rückte eine Mitgliedschaft auch für die Ukraine schlagartig in die Ferne.

Mit Janukowitsch zurück im höchsten Staatsamt, ab 2011, erklärte sich die Ukraine sogar per Gesetz zu einem Staat ohne militärisches Bündnis. Als Janukowitsch auf Druck aus Moskau EU-Annäherungen stoppte, löste das im Winter 2013/14 die Maidan-Revolution gegen ihn aus. In der Folge annektierte Russland die Krim. Nur wenige Wochen später wurde der politische Kurs, in die NATO und die EU zu streben, von der neuen ukrainischen Regierung umso hartnäckiger wieder aufgenommen. Mit zunehmender Bedrohung wurden Allianzen verstärkt gesucht.

Cindy Wittke, Stefan Wolff

4. Was soll das überhaupt sein – ein "neutrales" Land – wenn man es auf dem Reißbrett entwirft?

Neutral kann ein Land in zwei Hinsichten sein:
Zum einen, wenn ein Land sich nicht in geopolitische Rivalitäten von Großmächten einmischt – was in der Praxis einer Nicht-Paktgebundenheit entspricht. Oder zum anderen auch dann, wenn ein Land grundsätzlich im Kriegsfall seine Neutralität wahrt (abgesichert über einen entsprechenden "völkerrechtlichen Status").

Neutralität bedeutet damit nicht zwangsläufig eine Entmilitarisierung: Es gibt auch eine sogenannte bewaffnete Neutralität. Sie räumt neutralen Staaten zumeist das Recht ein, eigene Streitkräfte zur Landesverteidigung zu unterhalten. Was dann sogar umso wichtiger ist, um sich gegen Angriffe selbst wehren zu können.

Traditionell war ein neutraler Status in zurückliegenden Jahrhunderten vor allem zum Schutz kleiner Staaten gedacht, insbesondere in Kriegszeiten. Daraus erklärt sich auch, dass in Bezug auf die Ukraine beim Stichwort "Entmilitarisierung" und/oder "Neutralität" viele, zum Teil sehr verschiedene Schlagworte wie "Finnlandisierung" fallen, beziehungsweise von einem schwedischen oder von einem österreichischen Weg die Rede ist.

Cindy Wittke, Stefan Wolff

5. Was ist mit der Idee einer "Finnlandisierung" der Ukraine?

Der Begriff "Finnlandisierung" bezieht sich auf den neutralen Status Finnlands, den das Land seit den 1940er Jahren inne hat. Der wurde zwar zu Sowjetzeiten anders mit Leben gefüllt als das seit Ende des Kalten Krieges geschieht. Entscheidend aber ist, dass er weder damals noch heute ein passendes Modell für die Ukraine liefert.

Um das vor Augen zu führen, zunächst kurz zu den völkerrechtlich relevanten Prinzipien, auf denen das finnische Modell fußt: Es gibt eine gegenseitige Nichtangriffs-Garantie, eine gegenseitig zugesicherte Bündnisfreiheit und Begrenzungen der finnischen Streitkräfte, die in ihrer Größe und Ausrüstung lediglich Aufgaben der inneren Sicherheit und der Landesverteidigung entsprechen dürfen. Zugleich werden die Souveränität und territoriale Integrität Finnlands bekräftigt. Vertragspartner war einst die Sowjetunion, heute ist es der Rechtsnachfolger Russland.

Insofern bestehen die ursprünglich zu Sowjetzeiten geschlossenen Verträge fort. Doch die finnische Regierung hat sich Anfang der 1990er Jahre entschieden, das Land innerhalb des neutralen Status anders aufzustellen: So ist Finnland zwar nicht Mitglied der NATO, wohl aber Teil aller Partnerschaftsprogramme der NATO2 geworden und seit 1995 auch vollwertiges EU-Mitglied.

Das Kernproblem bei der Idee einer neutralen Ukraine nach finnischem Vorbild: Die gegenwärtig bekannten russischen Forderungen gehen weit darüber hinaus. Russlands Vorstellung nach dürfte es keinerlei Armee geben, auch keinerlei Assoziierung mit Militärbündnissen wie der NATO. Damit wäre die Ukraine wehrlos. Russland würde sich de facto Einfluss auf den Nachbarn sichern, so wie es der Sowjetunion in Finnland bis zum Ende des Kalten Krieges schon gelang3 – weil die Bedrohung durch eine Atommacht ohne andere Schutzalternativen zu groß war.

Zudem bieten die (völkerrechtlichen) Grundlagen zur finnischen Neutralität so oder so nicht die notwendigen Sicherheitsgarantien, die die Ukraine mit Blick auf die Erfahrungen aus Krim-Annexion und laufendem Angriffskrieg erwarten würde. Ob eine Aggression Russlands damit eingehegt werden kann, ist daher fraglich.

Cindy Wittke, Stefan Wolff

6. Schweden oder Österreich – sind vielleicht das die passenderen Modelle?

Die Modelle von Schweden und Österreich sind ebenfalls in die Diskussion eingebracht worden. Beide sind aber noch weniger als eine "Finnlandisierung" dazu geeignet, um auf die Ukraine angewendet zu werden, weil keine vertraglich verbindlich festgehaltenen Sicherheitsgarantien existieren – die aber bräuchte es jetzt.

Schwedens Neutralität war freiwillig, also ohne jegliche Vertragsbindung und geht in die Zeit der napoleonischen Kriege im frühen 19. Jahrhundert zurück. Daher war die Umsetzung auch relativ uneben und besonders im Zweiten Weltkrieg hat Schweden seine neutrale Position nicht gehalten: Die Regierung hat Nazideutschland sowohl wirtschaftlich unterstützt als auch den Transit deutscher Truppen an die Ostfront ermöglicht. Nach 1945 war Schweden zwar weiterhin formell neutral, hat sich aber immer stärker auch militärisch an den Westen angelehnt und ist analog zu Finnland seit 1995 EU-Mitglied, wenngleich in militärischer Hinsicht weiter bündnisfrei.

Österreich ist ein weiterer Fall, der in der Diskussion um eine neutrale Ukraine eine Rolle spielt. Im Fokus stehen vor allem die zwischen Österreich und der damaligen Sowjetunion geschlossenen Abmachungen aus den frühen 1950er Jahren, mit denen Österreich seine Souveränität wiedererlangte. Die Neutralität des Landes ist in der Verfassung und in einem separaten Verfassungsgesetz verankert worden. Es gibt hier, wie im Falle von Schweden, keine Sicherheitsgarantien.

Außerdem hat Österreich sich über die Jahrzehnte strikt vorbehalten, selbst zu entscheiden, was mit seiner Neutralität vereinbar ist. Das hat unter anderem dazu geführt, dass es 1995 zu einer Novellierung des Verfassungsgesetzes zur Neutralität kam, so dass der Weg in die Europäische Union geebnet werden konnte – einschließlich einer Beteiligung an der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union.

Angesichts der russischen Forderungen ist es schon erstaunlich, dass diese Staaten überhaupt als Modelle einer vermeintlich einfachen Lösung herangezogen werden: Denn für sie sind eine EU-Mitgliedschaft und Kooperationen mit der NATO über die vergangenen Jahrzehnte zu einem wesentlichen Teil ihrer Außen- und Verteidigungspolitik geworden. Das zeigt sich auch im russischen Angriffskrieg selbst: Sowohl Finnland als auch Schweden haben Waffen an die Ukraine geliefert; Österreich hat der NATO erlaubt, seinen Luftraum für Überflüge zu nutzen.

Gwendolyn Sasse, Stefan Wolff

Weitere Inhalte

Cindy Wittke, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)

Stefan Wolff, Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham

Gwendolyn Sasse, Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)