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Rückblick: Die Europawahl 2024 in Deutschland im europäischen Kontext

Sammy Siegel Michael Kaeding

/ 9 Minuten zu lesen

Rund die Hälfte der wahlberechtigten Bürger:innen in Europa haben bei der Europawahl 2024 von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. 720 Sitze im Europäischen Parlament wurden vergeben. Dabei gab es Gewinner und Verlierer, sehr viel Kontinuität, aber auch Neues und einen weiteren Rechtsruck.

Die Ergebnisse der Europawahlen 2024 werden in Brüssel präsentiert. (© picture alliance / Anadolu | Dursun Aydemir)

Wahlbeteiligung auf dem gleichen Niveau wie bei der letzten Europawahl

Nachdem die Wahlbeteiligung bei der Externer Link: Europawahl 2019 bedeutend gestiegen war und europaweit die 50-Prozent-Marke geknackt wurde, stagnierte die Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2024 weitgehend. Laut dem Europäischen Parlament haben dieses Mal 51 Prozent der wahlberechtigten Unionsbürger:innen von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht (vgl. Europäisches Parlament 2024).

Wie schon bei vorangegangenen Europawahlen gab es in der Wahlbeteiligung zwischen den Mitgliedstaaten jedoch deutliche Unterschiede. In Ländern wie Belgien und Luxemburg, in denen eine Wahlpflicht besteht, lag die Wahlbeteiligung bei über 80 Prozent. Trotz fehlender Wahlpflicht ging auch in Deutschland ein großer Anteil der wahlberechtigten Bürger:innen an die Wahlurnen. Mit einer Wahlbeteiligung von 64,8 Prozent war es die höchste seit der ersten Interner Link: Europawahl 1979, als 65,7 Prozent der Bundesbürger:innen zur Wahl gingen. In den meisten Mitgliedstaaten ist die Wahlbeteiligung jedoch nach wie vor gering. So lag sie in 16 von 27 Ländern unter der 50-Prozent-Marke. In Kroatien und Litauen lag die Wahlbeteiligung sogar unter 30 Prozent (vgl. Europäisches Parlament 2024).

Vergleicht man die nationalen Europawahlbeteiligungen mit den jeweils letzten nationalen Parlamentswahlen, so wird deutlich, dass die Europawahlen in den meisten Ländern weiterhin als Interner Link: Wahlen zweiter Ordnung (Second-Order-Elections) gelten. Das heißt, dass sie von den Bürger:innen als Wahlen wahrgenommen werden, die weniger wichtig oder folgenreich sind (vgl. Reif & Schmitt 1980). So ist die Wahlbeteiligung im Durchschnitt um 18 Prozentpunkte niedriger als bei der jeweils letzten nationalen Parlamentswahl. Aber auch hier gibt es Ausnahmen: In Belgien war die Wahlbeteiligung bei der Europawahl nahezu identisch mit der Wahlbeteiligung bei der nationalen Parlamentswahl. Dabei ist jedoch zu beachten, dass in Belgien seit 2014 Europa- und Parlamentswahl auf denselben Tag fallen. In Frankreich und Rumänien war die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen höher als bei der letzten nationalen Parlamentswahl. Das liegt jedoch vor allem daran, dass die Beteiligung an den Wahlen auf nationaler Ebene in beiden Ländern zuletzt sehr gering war.

Gewinner und Verlierer der Europawahl in Deutschland

Aus der Europawahl in Deutschland sind CDU und CSU als stärkste Kraft hervorgegangen. Mit 30 Prozent der Stimmen werden sie 29 der 96 deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament stellen. Genau so viele wie auch bei der Europawahl 2019. Dennoch ist es für die Schwesterparteien das zweitschlechteste Wahlergebnis bei Europawahlen – nur 2019 erhielten sie mit 28,9 Prozent noch weniger Stimmen. Auch die FDP hat mit 5,2 Prozent der Stimmen und fünf Sitzen in etwa dasselbe Ergebnis eingefahren wie bei der letzten Europawahl.

Als Gewinnerin gilt die AfD, die nach zahlreichen Skandalen vor der Europawahl aus der rechtspopulistischen bis rechtsextremen Fraktion Identität und Demokratie (ID) ausgeschlossen wurde und mit 15,9 Prozent der Stimmen ihr bisher bestes Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl erzielte. Sie wird mit insgesamt 15 Abgeordneten ins Parlament einziehen. Der Spitzenkandidat der AfD Maximilian Krah hatte sich im Vorfeld der Europawahlen verharmlosend über die nationalsozialistische SS geäußert, außerdem war einer seiner Mitarbeiter wegen eines Spionageverdachts festgenommen worden. Er wurde kurz nach der Wahl aus der AfD-Delegation ausgeschlossen. Daher wird diese nur aus 14 Abgeordneten bestehen. Krah wird wie die AfD (vorerst) fraktionslos sein.

Erwähnenswert ist auch das Wahlergebnis des Anfang 2024 gegründeten Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das auf Anhieb 6,2 Prozent der Stimmen erhielt und sechs Sitze im Europaparlament einnehmen wird. Das BSW hat bereits angekündigt eine neue Fraktion im Europäischen Parlament gründen zu wollen. Ob es gelingt die dafür notwendigen 23 Abgeordneten aus mindestens sieben Mitgliedsstaaten zusammenzubekommen, bleibt abzuwarten.

Verliererinnen der Wahl waren insbesondere SPD, Linke und Grüne. Für die SPD mit 13,9 Prozent (14 Sitze) und die Linke mit 2,7 Prozent (drei Sitze) ist es das schlechteste Ergebnis, dass sie bisher bei einer Europawahl erzielt haben. Für die Grünen stellt es sich ambivalent dar. Zwar haben sie im Vergleich zur letzten Europawahl fast acht Prozentpunkte verloren und sind auf 11,9 Prozent und 12 Sitze abgestürzt, dennoch war es das zweitstärkste Europawahlergebnis in der Geschichte der Grünen.

Kleinstparteien und Nichtwähler:innen in Deutschland

Erweitert man den Blick auf die Kleinstparteien, so konnten diese aufgrund der fehlenden Interner Link: Fünf-Prozent-Hürde beachtliche Erfolge erzielen. Insgesamt gehen 12 der 96 deutschen Sitze an Kleinstparteien. Die Familienpartei, die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP), die Tierschutzpartei und die Partei des Fortschritts (PdF) erhalten jeweils einen Sitz, "Die Partei" zwei Sitze und die Freien Wähler und Volt jeweils drei Sitze. Die auf nationaler Ebene konkurrierenden Parteien werden sich später jedoch in vielen Fällen in derselben Europafraktion wiederfinden. Volt und ÖDP sitzen traditionell in der Fraktion Die Grünen/Freie Europäische Allianz (EFA), die Familienpartei in der Fraktion der Interner Link: Europäischen Volkspartei (EVP), die Tierschutzpartei in der Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament (GUE/NGL) und die Freien Wähler in der liberalen Fraktion Renew Europe.

Die einzige relevante potentielle “Wählergruppe”, die bisher noch nicht erwähnt wurde, ist die Gruppe der Nichtwähler:innen. Wären sie die Wähler:innen einer einzelnen Partei, wäre diese auch bei der Europawahl 2024 wieder die stärkste Kraft in Deutschland.

Erstmals eine bundesweite Wahl mit einem Mindestwahlalter von 16 Jahren

Mit der Entscheidung der Bundesregierung, das Wahlalter im Deutschen Europawahlgesetz auf 16 Jahre herabzusetzen, war die Europawahl 2024 die erste bundesweite Wahl, in der auch 16- und 17-Jährige ihre Stimme abgeben konnten. Deutschland ist nicht das einzige oder erste Land, welches diese Entscheidung getroffen hat. Auch in Österreich (seit 2014), Malta (seit 2019) und Belgien (seit 2024) können alle Staatsbürger:innen ab 16 Jahren ihre Stimme bei der Europawahl abgeben. In Griechenland können seit der Europawahl 2019 auch 17-Jährige wählen.

Wie viele der 16- und 17-Jährigen in Deutschland tatsächlich von ihrem neuen Wahlrecht Gebrauch gemacht haben, ist unklar, da zum jetzigen Zeitpunkt keine entsprechenden Erhebungen stattgefunden haben bzw. veröffentlicht wurden. Vergangene Studien aus anderen Ländern haben jedoch gezeigt, dass eine Absenkung des Wahlalters durchaus mit positiven Effekten einhergehen kann, solange Parteien und Schulen sich dieser neuen Herausforderung aktiv stellen. So konnten in einer vom österreichischen Parlament in Auftrag gegebenen Studie keine signifikanten Unterschiede zwischen dem politischen Interesse und Wissen von 16- bis 17-Jährigen und den 18- bis 20-Jährigen festgestellt werden. Nach den Angaben der Befragten war die Wahlbeteiligung unter den 16- bis 17-Jährigen sogar höher als die der 18- bis 20-Jährigen. Ein Effekt, der unter anderem darauf zurückgeführt wird, dass die 16- bis 17-Jährigen in den Schulklassen über die Wahl aufgeklärt wurden (Parlament Österreich 2014).

Zwar zeigen zahlreiche Umfragen, dass junge Wähler:innen ein durchaus unterschiedliches Wahlverhalten im Vergleich zur restlichen Wahlbevölkerung aufweisen, allerdings sollte der Einfluss auf das Wahlergebnis in Deutschland eher gering ausgefallen sein. So stellen 16- bis 17-Jährige aufgrund der demographischen Verhältnisse in Deutschland nur eine sehr kleine Wählergruppe dar. Mit einer Zahl von 1,4 Millionen Wähler:innen machen sie lediglich 2,27 Prozent der Wählerschaft aus (vgl. Deutscher Bundestag 2023).

Einige Indizien, wie die 16- und 17-Jährigen abgestimmt haben, liefert eine Erhebung, welche das Wahlverhalten der 16- bis 24-Jährigen abgefragt hat. So scheint mit 28 Prozent ein großer Teil der Jungwähler:innen für eine Kleinstpartei gestimmt zu haben. Daraufhin folgt die Union mit 17 Prozent und die AfD mit 16 Prozent. Die Grünen, welche bei den letzten Europawahlen noch 34 Prozent der Stimmen von Jungwähler:innen erhalten haben, sind mit 11 Prozent in der Wählergunst dieser Gruppe deutlich abgefallen (ARD 2024).

Gewinner und Verlierer in Europa

Weitet man den Blick auf ganz Europa, so scheint sich das deutsche Ergebnis, zumindest in Teilen, auch auf europäischer Ebene widerzuspiegeln. Die EVP, in der auch die Union sitzt, konnte leichte Gewinne verzeichnen und ist somit das sechste Mal in Folge die stärkste Kraft im Europäischen Parlament. Nach derzeitigem Stand werden sie 190 der 720 Sitze belegen. Die Europäischen Sozialdemokraten (S&D) verschlechtern sich leicht und werden zukünftig mit 136 (- drei Sitze) Abgeordneten vertreten sein. Seit den 1990ern gibt es einen merklichen Abwärtstrend der beiden Gruppen. Als großer Verlierer auf europäischer Ebene gelten die Europäischen Grünen, welche trotz Zugewinne in den nordeuropäischen Ländern insbesondere aufgrund schwächelnder deutscher und französischer Grünen nur noch auf 52 statt 71 Abgeordnete kommen werden. Ebenfalls stark verloren haben die Europäischen Liberalen, welche sich in der Fraktion Renew Europe zusammenfinden. So mussten sie über 20 Sitze einbüßen und kommen jetzt auf 80 Abgeordnete. Nicht zuletzt liegt das an der Schwäche der französischen Liberalen, welche mit einer gemeinsamen Liste angetreten sind und gerade einmal 14,6 Prozent der Stimmen erhalten haben. Mehr als sieben Prozent weniger als das Interner Link: Bündnis von Macron bei der letzten Europawahl eingefahren hat. Als Reaktion auf das Wahlergebnis löste Macron kurzerhand das Parlament auf und rief Neuwahlen für den 30. Juni und 7. Juli aus.

Rechte europaskeptische Parteien als Gewinner?

Wie bereits 2014 und 2019 konnten die Rechtspopulisten und Rechtsaußen-Parteien in einigen Ländern wieder einen Stimmenzuwachs verzeichnen. Im letzten Europäischen Parlament haben sich die Parteien am rechten Rand in den Fraktionen Identität und Demokratie (ID) sowie unter den Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) versammelt.

In Frankreich konnte das rechtspopulistische bis rechtsextreme Interner Link: Rassemblement National (RN) unter Marie Le Pen über 31 Prozent der Stimmen auf sich vereinen und wurde zum dritten Mal in Folge stärkste Kraft. Unter der aktuellen Zusammensetzung der ID wird das Rassemblement National mit 30 Abgeordneten mehr als die Hälfte dieser Fraktion ausmachen. Ebenfalls stärkste Kraft, wenn auch mit kleinem Abstand, wurde die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) in Österreich, welche mit sechs Sitzen in der ID vertreten sein wird. Weitere sechs ID-Abgeordnete kommen von der “Partei für die Freiheit” aus den Niederlanden, welche über 17 Prozent der Stimmen holte und zweitstärkste Kraft wurde. Auch die belgische Partei “Flämische Interessen” wird wie in der letzten Legislaturperiode drei ID-Abgeordnete ins Parlament schicken. Die in Teilen etwas gemäßigtere EKR-Fraktion wird zukünftig insbesondere durch die post-faschistische Interner Link: Fratelli d’Italia unter Giorgia Meloni und durch die polnische Interner Link: PiS dominiert. Beide Parteien konnten gut 30 Prozent der Stimmen in Ihrem Land auf sich vereinen.

Schaut man auf die Gesamtzusammensetzung des Europäischen Parlaments, lässt sich momentan zwar ablesen, dass die Rechtsaußen-Fraktion ID und die EKR zusammen nur unwesentlich an Sitzen dazugewonnen haben. Jedoch muss berücksichtigt werden, dass die AfD kurz vor der Wahl aus der ID ausgeschlossen wurde und mit 15 Abgeordneten vertreten sein wird. Auch Viktor Orbáns Interner Link: Fidesz-Partei, welche ehemals der EVP angehörte, sucht noch ein neues politisches Zuhause. Hinzu kommt eine ganze Reihe rechter Parteien, welche neu ins Parlament gewählt wurden und Stand heute zu den “Sonstigen” gezählt werden. Darunter fallen Parteien wie die bulgarische “Wiedergeburt”, die nationale Volksfront in Zypern und die Tschechische Wahlallianz Přísaha a Motoristé (frei übersetzt: Eid und Kraftfahrer). Zusammen kommen diese mit Fraktionslosen und weiteren „Sonstigen“ auf 89 Abgeordnete. Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, wie sich das Machtgefüge innerhalb der Fraktionen am rechten Rand wandeln wird, ob sich eine neue rechte Fraktion rund um die AfD bildet oder ob es gar zu einer rechten “Superfraktion” kommt, die den Großteil der rechtspopulistischen bis rechtsextremen Parteien vereint. Ein Vorschlag, der kurz vor der Wahl von Orban und Le Pen ins Spiel gebracht wurde (Goury-Laffont 2024, Henley 2024).

Welche Bedeutung hat das Wahlergebnis für die kommende Europäische Kommission?

Zum zweiten Mal in Folge kommen EVP und S&D auf keine eigene Mehrheit im Europäischen Parlament. Gemeinsam mit den anderen Fraktionen der Mitte - Renew Europe und den Europäischen Grünen - gibt es dennoch eine klare proeuropäische Mehrheit. Jedoch bedeutet dies nicht, dass die Spitzenkandidatin der EVP, Ursula von der Leyen, ohne Probleme die 361 benötigten Stimmen für eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin bekommen wird. So ist zu erwarten, dass es einige Abweichler aus jeder dieser vier Fraktionen geben wird und sie auch auf Stimmen der EKR angewiesen sein könnte. Nicht zuletzt, weil das Vorschlagsrecht für das Amt der Kommissionspräsidentin bei den Staats- und Regierungschefs liegt. Die italienische Ministerpräsidentin Meloni hat somit sowohl im Rat als auch indirekt im Parlament - mit der Fratelli d’Italia als dominierende Kraft in der ERK-Fraktion - eine starke Stimme. Jedoch könnte ein Zugehen auf die EKR weitere Delegationen und Abgeordnete aus der S&D und den Europäischen Grünen verärgern, wodurch eine Mehrheitsbildung schwierig werden könnte. Somit ist Ursula von der Leyen im Moment zwar die wahrscheinlichste Kandidatin für das Amt der Kommissionspräsidentin, jedoch ist ihr eine Mehrheit keineswegs garantiert. Stichtag für ihre Wahl im Parlament ist derzeit der 18. Juli (Wax & Moens 2024).

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Sammy Siegel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europäische Integration und Europapolitik an der Universität Duisburg-Essen. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen auf Ungleichheitsforschung und Nichtwähler:innen.

ist Professor für Europapolitik und Europäische Integration am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen und Koordinator des Horizon Europe Projekts "InvigoratEU".