Stuttgart gilt als einer der Pioniere der Bürgerhaushalte: Im Jahr 2011 hat die baden-württembergische Stadt einen Bürgerhaushalt eingeführt und mit ihrem innovativen und systematischen Modell neue Maßstäbe gesetzt. Eine der wichtigsten Innovationen war die Digitalisierung des Prozesses. Die vollständig digitale Plattform für den Bürgerhaushalt ermöglicht es den Bürger/-innen, Vorschläge zur Verwendung öffentlicher Mittel online einzureichen, zu bewerten und über Projekte abzustimmen. Nach einer Prüfung gelangen die eingereichten Vorschläge in eine Online-Abstimmung, bei der über ihre Umsetzung ent-schieden wird. Die Ergebnisse des Prozesses fließen direkt in die Planung des städtischen Haushalts ein, wobei Projekte mit hoher Zustimmung priorisiert umgesetzt werden.
Breite Themenvielfalt
(© Bells Mayer (unsplash))
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Mit Blick auf die Einreichung fällt vor allem die große Bandbreite der Themen ins Auge. Diese beschränken sich nicht nur auf Projekte wie Spielplätze, Grünanlagen oder Kulturangebote. Auch konflikthafte Themen von Infrastruktur über Klimaschutz bis hin zu Verkehrsprojekten werden von den Bürger/-innen auf die Agenda gesetzt. Mit dem Bürgerhaushalt 2023 konnten Projekte, wie die Planung einer Straßenbahnverbindung, der Ausbau von Schwimmkursen für Kinder und Jugendliche sowie der Ausbau von Photovoltaikanlagen umgesetzt werden. In die-sem Rahmen wurden Investitionen von 31 Millionen Euro für die Installation von Photovoltaikanlagen auf städtischen Gebäuden für die Jahre 2024 und 2025 bereitgestellt, um die nachhaltige Energieversorgung in Stuttgart voranzutreiben. Doch auch kleinere Initiativen wie die Einrichtung und Sanierung von Trinkwasserbrunnen fanden Beachtung.
Rückgang der Teilnehmerzahlen Trotz der breiten Mitgestaltungsmöglichkeit ist ein Rückgang der Teilnehmenden zu beobach-ten. Nach einer Hochphase in den frühen Jahren des Stuttgarter Bürgerhaushaltes verzeichnet die Stadt nun einen deutlichen Rückgang bei der Beteiligung der Bürger/-innen. Die Zahl der Teilnehmenden am Bürgerhaushalt Stuttgart belief sich im Jahr 2023 auf 17.965, während es 2021 noch 19.980 und 2019 sogar 40.620 Teilnehmende waren (vgl. Stadtkämmerei Stuttgart 2024).
Die sinkende Beteiligung der Teilnehmenden zeigt, dass das Interesse der Bürger/-innen schwächelt. Der Arbeitskreis Stuttgarter Bürgerhaushalt berichtete auf Nachfrage von STUG-GI.TV, einem Programm des Stuttgarter Jugendhaus, von einigen Beschwerden, die die rückläu-figen Teilnahmezahlen erklären könnten. Eine Umfrage zur Nutzerfreundlichkeit der Online-Plattform zum Bürgerhaushaltsverfahren 2023 ergab, dass das Auffinden von Vorschlägen mit 882 Nennungen als häufigste Schwierigkeit genannt wurde. Weitere Herausforderungen betra-fen das Filtern von Vorschlägen (710 Nennungen) und das Auffinden von Informationen (457 Nennungen) (vgl. Nutzerfreundlichkeit Bürgerhaushalt Stuttgart). Diese Ergebnisse deuten da-rauf hin, dass die Komplexität der Plattform für einige Nutzer/-innen eine Hürde darstellt.
Herausforderung: Neue Zielgruppen erreichen Ein weiteres Problem ist die fehlende Attraktivität des Bürgerhaushalts für neue Zielgruppen. Die demografischen Daten des Bürgerhaushalts 2023 liefern zusätzliche Hinweise darauf, wel-che Bevölkerungsgruppen besonders aktiv waren und welche weniger stark repräsentiert sind. Interessant ist dabei, dass sich mehr Frauen (9.480) als Männer (8.373) beteiligt haben. Beson-ders aktiv waren die Altersgruppen 30–44 und 45–65 mit 5.205 beziehungsweise 5.922 Teil-nehmenden. Diese Altersverteilung legt nahe, dass mittlere Altersgruppen entweder ein höheres Interesse oder die nötigen Ressourcen haben, um sich einzubringen, während jüngere Men-schen unter 30 und ältere Personen über 65 deutlich weniger vertreten sind (vgl. Ergebnisbe-richt zum Stuttgarter Bürgerhaushalt 2023). Zudem zeigt sich ein sogenannter Etablierungsef-fekt. Während der Bürgerhaushalt anfangs als innovatives und spannendes Format viel Auf-merksamkeit erhielt, nimmt die Begeisterung nach mehreren Durchgängen ab. Dieser Effekt verstärkt sich, wenn der Eindruck entsteht, dass das Verfahren keinen spürbaren Einfluss auf die Stadtpolitik hat.
Maßnahmen zur Stärkung des Bürgerhaushalts Die Stadt Stuttgart hat dies inzwischen erkannt. Erste Maßnahmen, wie die Verbesserung der Online-Plattform und intensivere Öffentlichkeitsarbeit, sollen diesem Trend entgegenwirken. Doch wichtiger als einzelne Maßnahmen ist der langfristige Blick auf das Format. Der Ergebnis-bericht 2023 zeigt, dass trotz sinkender Teilnehmerzahlen die Tiefe der Auseinandersetzung zunimmt: Die Bürger/-innen bewerten Vorschläge intensiver als in der Vergangenheit. Dies könnte auf eine qualitativ hochwertigere Mitgestaltung hindeuten. Die Geschichte des Stuttgar-ter Bürgerhaushalts ist damit noch lange nicht abgeschlossen. Sie ist ein Beispiel dafür, wie Bür-gerhaushalte sich wandeln und an neue Anforderungen angepasst werden müssen. Die kom-menden Jahre werden zeigen, ob es gelingt, dieses innovative Format nachhaltig weiterzuentwi-ckeln und noch breitere Bevölkerungsgruppen einzubinden.