Ambivalenzen der Modernisierung durch Kolonialismus
Seit den 1960er Jahren wird die These vom Kolonialismus als Medium oder Vehikel der Modernisierung der außereuropäischen Welt diskutiert. In jüngeren Arbeiten wird argumentiert, dass beide Prozesse – Kolonialismus und Modernisierung – untrennbar zusammengehören.[1] "Colonialism is what modernity was all about", erklärt etwa Nicholas Dirks und bezieht sich dabei insbesondere auf den historischen Umstand, dass sich der europäische Nationalstaat als politisches Signum der Moderne im 18. Jahrhundert im Verlauf der Expansions- und Eroberungsprozesse erst herausbildete und dies vor allem auf Kosten vormoderner Gesellschaften.[2] Von Ann Stoler stammt das Diktum von den Kolonien als "Laboratorien der Moderne",[3] das mittlerweile die Diskussion des Zusammenhangs von Kolonialismus und Modernisierung leitmotivisch charakterisiert. Beide Positionen beziehen sich auf die durch postkoloniale Forschungsperspektiven und die Frage nach der Verflechtung von europäischer und außereuropäischer Geschichte aufgeworfene Problematik von der Interdependenz der Entstehung und globalen Verbreitung der Ideen und Institutionen der europäischen Moderne – durch und mit der Etablierung europäischer Kolonialherrschaft.Davon zu unterscheiden sind zwei weitere Positionen und Perspektiven, mit denen das Thema "Modernisierung durch Kolonialismus" diskutiert wird: Zum einen untersucht die geschichtswissenschaftliche Forschung, inwiefern europäische Kolonialherrschaft tatsächlich zu einer Modernisierung der Kolonialgesellschaften beigetragen hat. Dabei stehen der Aufbau moderner politischer, wirtschaftlicher und sozialer Strukturen sowie die infrastrukturelle und technologische Entwicklung der Kolonien während der Kolonialherrschaft im Zentrum des Interesses. Zweitens wird aus eher politikwissenschaftlicher Perspektive die Frage aufgeworfen, wie nachhaltig solche Entwicklungen waren und welche Effekte die Modernisierungsanstrengungen des europäischen Kolonialismus auf die betroffenen Gesellschaften nach der Beendigung der Kolonialherrschaft hatten. Welcher Zusammenhang besteht zwischen struktureller Unterentwicklung und Kolonialherrschaft? Wie wirken koloniale wirtschaftliche Strukturen nach der Entkolonialisierung nach und was trägt zu ihrer Perpetuierung bei? Welche Rolle spielen postkoloniale Eliten? Dabei ist auch auf den Imperialismus der Dekolonisation hingewiesen worden.[4] Im Zusammenhang mit der Debatte um gescheiterte Staaten wird schließlich die These einer möglichen Pfadabhängigkeit zwischen kolonialer Erfahrung und Staatsversagen diskutiert.[5]
Ob und in welcher Weise Kolonialismus als Quelle von Fortschritt und Zivilisation betrachtet werden kann, soll im Folgenden entlang dieser drei Perspektiven diskutiert werden. Dabei sollen zunächst Schlüsselkonzepte, welche die Diskussion leiten – Modernisierung/Modernität und Zivilisierung/Zivilisation – umrissen werden.
Zivilisation und Zivilisierung. Zivilisation bezeichnet die durch Fortschritt von Wissenschaft und Technik ermöglichten und von Politik und Wirtschaft geschaffenen Lebensbedingungen, deren Ausbreitung und Ausdifferenzierung in den europäischen Gesellschaften seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu beobachten sind. Im Rahmen des europäischen Kolonialismus und Imperialismus erfuhr das Konzept eine semantische Erweiterung und Neubewertung. Hier wird Zivilisation als Gegenbegriff zu Barbarei benutzt. So konnte sich die Vorstellung von "unzivilisierten außereuropäischen" Gesellschaften, denen die "europäische zivilisierte" Gesellschaft gegenübergestellt wurde, etablieren und verfestigen.
In dieser semantischen Erweiterung bezeichnet Zivilisierung auch den Prozess der kulturellen Unterwerfung der Kolonien. Die mit den Zivilisierungsansprüchen einhergehenden Bemühungen um eine umfassende Christianisierung, die Etablierung moderner Kommunikations- und Verkehrsmittel sowie einer modernen Bürokratie, das Vordringen staatlicher Schulbildung und die Erzwingung einheitlicher Rechtssetzung und Rechtsanwendung gehen weit über die Etablierung formaler Kolonialherrschaft hinaus. Zivilisierung bedeutet insofern die umfassende Europäisierung kolonialer Lebenswelten, entlang eines europäischen Selbstverständnisses, das sich über die negative Abgrenzung nach außen, gegenüber dem Fremden, dem "Barbarischen" als zivilisiert, hygienisch und christlich definierte.
Modernität und Modernisierung. Zivilisation ist im beschriebenen Selbstverständnis des 18. und 19. Jahrhunderts konzeptuell deckungsgleich mit dem Begriff der Modernität. Modernität war gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa wie in Asien, Afrika oder auch Russland Synonym für die wissenschaftlich-technischen und politisch-administrativen Leistungen, auf welche die europäischen Großmächte ihre Macht und ihren Reichtum gründeten. Modernisierung wurde entsprechend als Aneignung der Grundlagen westlichen Wohlstands und westlicher Macht verstanden.[6]
Interessant ist, dass dieses insbesondere für die kolonialen Eliten Asiens charakteristische Verständnis von Modernisierung dem Begriff von Modernisierung entspricht, welcher soziologischen Modernisierungstheorien zugrunde liegt. Modernisierungstheorien gehen von der Annahme aus, dass Entwicklungshemmnisse nicht so sehr von wirtschaftlichen Defiziten verursacht würden, sondern Resultat der Eigenarten und Wertvorstellungen traditionaler Gesellschaften seien. Gründe für Unterentwicklung seien somit endogene Faktoren, wie etwa mangelnde Investitionsneigung, Korruption, Misswirtschaft, Mangel an good governance. Grundzüge dieses Gedankenganges finden sich bereits bei Max Weber.[7] Kern der Modernisierungstheorien ist somit der postulierte Gegensatz zwischen "moderner" und "traditioneller" Welt. Modernisierung bezeichnet hier den unumkehrbaren Prozess der Transformation traditionaler Gesellschaften durch technologische und wissenschaftliche Innovation.[8] Zu den zentralen Merkmalen dieses Prozesses zählten unter anderem die Zunahme der industriellen Produktion, anhaltendes wirtschaftliches Wachstum, zunehmende Einbindung in übernationale Zusammenhänge, Bürokratisierung, soziale und politische Mobilisierung, sozio-strukturelle Ausdifferenzierung und Spezialisierung, Erhöhung des Bildungsniveaus oder niedrigere Geburten- und Todesraten.
Ausgehend von diesem positiven Verständnis von Modernisierung wurde das Phänomen des Imperialismus lange Zeit als bedauerliche Begleiterscheinung des a priori positiven Wegs zur Modernisierung über den Kontakt mit dem Westen betrachtet.[9] Dies verstellte den analytischen Blick für die negativen Folgen der durch den Kolonialismus angestoßenen Transformationsprozesse, die häufig in chronischen Krisen mündeten und das Phänomen der "Modernisierung ohne Entwicklung" bedingten.[10] Denn unter den Kolonialsystemen wurde häufig eine sehr einseitige Wirtschaftsstruktur entwickelt. Moderne Extraktions- und Exportwirtschaften wurden aufgebaut, ohne die Territorialwirtschaft als Ganzes zu modernisieren.
Hier setzen modernisierungskritische Ansätze wie beispielsweise die in lateinamerikanischen Wissenschaftsdiskursen in den 1960er Jahren entwickelte Dependenztheorie an. Es wurde argumentiert, dass äußere Faktoren, die historisch auf die europäische Kolonialherrschaft zurückzuführen seien, den Entwicklungsländern dauerhaft eine strukturell stabile nachrangige Position in der Weltwirtschaft zuweisen. Die europäische Kolonialherrschaft habe die Wirtschaft der betroffenen Gesellschaften einseitig auf die Bedürfnisse der Kolonialmächte ausgerichtet und damit auch ihre Entwicklungsmöglichkeiten blockiert.
Dieses ungünstige Machtverhältnis bestehe auch nach der Dekolonialisierung weiter, sodass die ehemaligen Kolonialregionen weiterhin nur als wirtschaftliche Peripherie der als Metropolen fungierenden klassischen Industrieländer aufträten.[11] Die Einbindung in den Weltmarkt, die Aktivität multinationaler Unternehmen und die fortgesetzte Heranziehung als bloße Rohstoffexporteure verfestigten die abhängige Position der Entwicklungsländer in der Peripherie der Weltwirtschaft, statt sie – wie von den Modernisierungstheorien angenommen – zu verbessern. Die ökonomische Binnenstruktur der Entwicklungsländer sei dadurch und durch kulturell überformte einheimische Eliten, die den Interessen der Metropolen weiter dienten oder über die Etablierung autokratischer Herrschaftsstrukturen die wirtschaftliche Ausbeutung zum Zwecke der eigenen Bereicherung fortsetzten, dauerhaft deformiert und verzerrt worden.[12]
Auch die Folgen der politischen Modernisierung durch den Export des europäischen Staatsmodells werden kritisch diskutiert und für strukturelle politische Krisen und deren Folgen historisch verantwortlich gemacht.[13]