Demenz: Wir brauchen eine andere Perspektive! - Essay
Wir leben im "Jahrhundert der Demenz".[1] Es scheint, die alten Industriegesellschaften, in denen die Demenz jährlich zunimmt, leiden unter Ermüdungserscheinungen. Das Einzige, das in diesen Gesellschaften noch wächst, sind offenbar die Zahl der Alten und die Zahl der Menschen mit Demenz. Damit verbunden wächst die Dienstleistungsbranche "Pflege" und die Versorgungsindustrie "Demenz". Mit den Hinfälligen und Hilflosen werden gewaltige Umsätze erzielt. Kann das langfristig gut gehen? Der Versuch, das Thema Demenz in pflegerische und medizinische Gettos zu verbannen und dort zu beherrschen, muss scheitern. Es ist an der Zeit, die soziale Seite der Demenz zu entdecken. Ob wir imstande sind, humane, menschenfreundliche Wege des Umgangs mit der Demenz zu entwickeln, wird über unsere kulturelle und soziale Zukunft entscheiden.Unablässig werden neue Konzepte zum richtigen Umgang mit Demenz entwickelt: "framen", "inkludieren", "validieren", "mappen". Ständig habe ich schon wieder eine Neuerung übersehen, noch nicht gelesen, nicht zur Kenntnis genommen. Wenn ein Mensch mit Demenz um sich schlägt, sich nicht waschen lassen will oder sich auf sonst eine Weise widersetzt, dann spricht der Demenzexperte, der auf der Höhe der Zeit ist, von "herausforderndem Verhalten". Bei vielen löst dies – meiner Erfahrung nach – eher einen Lachanfall aus. Das Pflegepersonal, dem eine demente alte Dame eine Milchtüte mit den Worten an den Kopf wirft "Die ist vergiftet!", hat Mühe mit dem Konzept, das so etwas "herausforderndes Verhalten" nennt.
Konzepte bringen das Einzelgesicht zum Verschwinden und befreien von der Notwendigkeit, in der konkreten Situation nachdenklich, ja "be-sinnlich" zu sein. Ich fühle mich angesichts dieser Konzept-Geschäftigkeit an die eifrigen Liliputaner erinnert, die den Riesen Gulliver mit tausend Fäden zu binden, fesseln und beherrschen versuchen. Die Bemühung verdient Respekt, die vielen pflegenden Profis und vor allem die Angehörigen leisten Unglaubliches. Doch in Wirklichkeit bebt der Boden schon, auf dem alle diese Konzept-Gebäude stehen.
Es geht deshalb nicht darum, mit neuen Demenzkonzepten Aufmerksamkeit zu erregen. Ich plädiere dafür, die Demenz aus ihrem medizinisch-pflegerischen Getto herauszuholen, sie als den Schlüssel zum Verständnis unserer gesellschaftlichen Gesamtlage zu begreifen.
Es wird an nationalen Demenzplänen gebastelt, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) skizziert eine Alzheimerepidemie, die weltweit ihre Krakenarme ausstrecken wird, wenn wir nicht rechtzeitig etwas machen, "Leuchttürme" mit medizinischen Demenzforschungsprojekten werden in Deutschland mit Millionen Euro ausgestattet. Zu den Merkwürdigkeiten, die einen stutzen lassen könnten, gehört die Tatsache, dass die Angehörigen, die oft in dramatisch schwierigen Lagen sind, die "Angebote" der Demenzexperten, der Demenzberatungsstellen und der Demenzinnovateure oft nicht nutzen. Wahrscheinlich lohnt es sich, diesen Tatbestand genauer unter die Lupe zu nehmen, statt ihn mit den Waffen der Aufklärung wegzuwischen.
Es geht darum, versuchsweise die Denkrichtung umzukehren und die Frage zu stellen, ob wir in die richtige Richtung gehen: Sind die professionelle Pflege und der Ausbau der ambulanten und stationären Versorgung die einzige Antwort auf eine alternde Gesellschaft, in der "Familie" immer seltener die Antwort auf das Pflegeproblem sein wird? Kann und darf diese Richtungsfrage überhaupt noch gestellt werden? Oder ist der Zug schon längst abgefahren, und wir rauschen mit Hochgeschwindigkeit in die Arme einer notwendigerweise immer weiter automatisierten, industrialisierten Pflege und Verwahrung der Hilfsbedürftigen?
Die Demenz ist dabei, das große soziale, kulturelle, ökonomische Thema unserer Gesellschaft zu werden. Und das nicht nur bei uns in Deutschland. In allen Gesellschaften, in denen viele sehr alte Menschen leben, ist das Thema auf der Tagesordnung – von Japan bis in die Vereinigten Staaten von Amerika, in China wie in der Schweiz. Es erwischt uns alle: Erst haben wir dafür gesorgt, dass wir länger leben, und nun bekommen wir die Konsequenzen zu spüren. Das "vierte Lebensalter", das hohe Alter, das einmal eine Ausnahme war, wird zum Massenphänomen. Der Druck steigt: Noch immer ist es möglich, Erwartungen auf eine weitere medizinisch organisierte Verlängerung des Lebens zu wecken und zugleich merken wir, dass wir den sozialen Konsequenzen dieses medizinischen Siegeszuges noch nicht gewachsen sind.
Es ist nicht übertrieben, wenn wir sagen: Es wird in den nächsten Jahrzehnten die große humanitäre Herausforderung für die alternden Gesellschaften sein, ob es gelingt, die wachsende Zahl von Pflegebedürftigen, insbesondere die wachsende Zahl von Menschen mit Demenz, so zu umsorgen und mitzutragen, dass diese Lebensstrecke für die Betroffenen und die Angehörigen nicht nur eine Qual ist. Eine falsche Antwort liegt nahe und sie wird schon propagiert: Das durch die Fortschritte der Medizin hervorgebrachte Problem soll von der Medizin (im Bündnis mit der pharmazeutischen Industrie) bewältigt werden. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um zu prognostizieren: Das wird scheitern.
Stattdessen gilt: Entweder die Demenz wird endlich als eine soziale Aufgabe wahrgenommen, bei der die medizinische Expertise eine helfende Rolle spielen darf oder wir stehen vor einem ökonomischen, kulturellen und humanitären Bankrott. Es geht nicht um ein bisschen zivilgesellschaftliche Ergänzung der Versorgung, sondern es geht um einen Umbau der Gesellschaft.[2] Aber das wird schwierig. Auch deshalb, weil die Menschen mit Demenz von mächtigen Interessengruppen umstellt sind. Ob zu ihrem Schutz oder ob man sich von ihnen vor allem einen Nutzen verspricht, sei dahingestellt.
Die Demenz eignet sich gut, um Schreckensszenarien zu entwerfen. Man sieht eine krisengeschüttelte deutsche Gesellschaft vor sich, die des Demenzproblems nicht mehr Herr wird. Die Zahlen dazu werden immer apokalyptischer: Gegenwärtig sind in Deutschland 1,2 Millionen Menschen von Demenz betroffen, im Jahr 2050 werden es voraussichtlich 2,6 Millionen sein. Je nachdem, wie die Maßstäbe für Demenz gesetzt werden, kann man die Zahlen weiter in die Höhe treiben. Horst Bickel hat für die Deutsche Alzheimer Gesellschaft eine neue Berechnung vorgelegt: Demnach leben 2012 in Deutschland sogar mehr als 1,4 Millionen Demenzkranke. Zwei Drittel von ihnen seien von der Alzheimer-Krankheit bedroht. Jahr für Jahr treten fast 300.000 Ersterkrankungen auf. Sofern kein Durchbruch in Prävention und Therapie gelinge, werde sich die Zahl der Erkrankten bis zum Jahr 2050 auf etwa 3 Millionen erhöhen. Wenn es keine Erfolge in der Bekämpfung der Demenz gebe, müsse man in den nächsten 40 Jahren mit mehr als 100 zusätzlichen Krankheitsfällen pro Tag rechnen.[3] In Deutschland, so laut Studie einer Krankenkasse, müsse jeder dritte Mann und jede zweite Frau damit rechnen, irgendwann im Leben an Demenz zu erkranken. Zwei Drittel der Demenzkranken sind pflegebedürftig. Im Jahr 2009 waren bereits 29 Prozent der Männer und 47 Prozent der Frauen, die im Alter von über 60 Jahren starben, dement. Die monatlichen Ausgaben der Sozialversicherungen für einen Demenzkranken liegen um durchschnittlich 800 Euro höher als bei einer nicht dementen Person.[4]