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Demenz: Wir brauchen eine andere Perspektive! - Essay | Alternde Gesellschaft | bpb.de

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Demenz: Wir brauchen eine andere Perspektive! - Essay

Reimer Gronemeyer

/ 11 Minuten zu lesen

Wir leben im "Jahrhundert der Demenz". Es scheint, die alten Industriegesellschaften, in denen die Demenz jährlich zunimmt, leiden unter Ermüdungserscheinungen. Das Einzige, das in diesen Gesellschaften noch wächst, sind offenbar die Zahl der Alten und die Zahl der Menschen mit Demenz. Damit verbunden wächst die Dienstleistungsbranche "Pflege" und die Versorgungsindustrie "Demenz". Mit den Hinfälligen und Hilflosen werden gewaltige Umsätze erzielt. Kann das langfristig gut gehen? Der Versuch, das Thema Demenz in pflegerische und medizinische Gettos zu verbannen und dort zu beherrschen, muss scheitern. Es ist an der Zeit, die soziale Seite der Demenz zu entdecken. Ob wir imstande sind, humane, menschenfreundliche Wege des Umgangs mit der Demenz zu entwickeln, wird über unsere kulturelle und soziale Zukunft entscheiden.

Unablässig werden neue Konzepte zum richtigen Umgang mit Demenz entwickelt: "framen", "inkludieren", "validieren", "mappen". Ständig habe ich schon wieder eine Neuerung übersehen, noch nicht gelesen, nicht zur Kenntnis genommen. Wenn ein Mensch mit Demenz um sich schlägt, sich nicht waschen lassen will oder sich auf sonst eine Weise widersetzt, dann spricht der Demenzexperte, der auf der Höhe der Zeit ist, von "herausforderndem Verhalten". Bei vielen löst dies – meiner Erfahrung nach – eher einen Lachanfall aus. Das Pflegepersonal, dem eine demente alte Dame eine Milchtüte mit den Worten an den Kopf wirft "Die ist vergiftet!", hat Mühe mit dem Konzept, das so etwas "herausforderndes Verhalten" nennt.

Konzepte bringen das Einzelgesicht zum Verschwinden und befreien von der Notwendigkeit, in der konkreten Situation nachdenklich, ja "be-sinnlich" zu sein. Ich fühle mich angesichts dieser Konzept-Geschäftigkeit an die eifrigen Liliputaner erinnert, die den Riesen Gulliver mit tausend Fäden zu binden, fesseln und beherrschen versuchen. Die Bemühung verdient Respekt, die vielen pflegenden Profis und vor allem die Angehörigen leisten Unglaubliches. Doch in Wirklichkeit bebt der Boden schon, auf dem alle diese Konzept-Gebäude stehen.

Es geht deshalb nicht darum, mit neuen Demenzkonzepten Aufmerksamkeit zu erregen. Ich plädiere dafür, die Demenz aus ihrem medizinisch-pflegerischen Getto herauszuholen, sie als den Schlüssel zum Verständnis unserer gesellschaftlichen Gesamtlage zu begreifen.

Es wird an nationalen Demenzplänen gebastelt, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) skizziert eine Alzheimerepidemie, die weltweit ihre Krakenarme ausstrecken wird, wenn wir nicht rechtzeitig etwas machen, "Leuchttürme" mit medizinischen Demenzforschungsprojekten werden in Deutschland mit Millionen Euro ausgestattet. Zu den Merkwürdigkeiten, die einen stutzen lassen könnten, gehört die Tatsache, dass die Angehörigen, die oft in dramatisch schwierigen Lagen sind, die "Angebote" der Demenzexperten, der Demenzberatungsstellen und der Demenzinnovateure oft nicht nutzen. Wahrscheinlich lohnt es sich, diesen Tatbestand genauer unter die Lupe zu nehmen, statt ihn mit den Waffen der Aufklärung wegzuwischen.

Es geht darum, versuchsweise die Denkrichtung umzukehren und die Frage zu stellen, ob wir in die richtige Richtung gehen: Sind die professionelle Pflege und der Ausbau der ambulanten und stationären Versorgung die einzige Antwort auf eine alternde Gesellschaft, in der "Familie" immer seltener die Antwort auf das Pflegeproblem sein wird? Kann und darf diese Richtungsfrage überhaupt noch gestellt werden? Oder ist der Zug schon längst abgefahren, und wir rauschen mit Hochgeschwindigkeit in die Arme einer notwendigerweise immer weiter automatisierten, industrialisierten Pflege und Verwahrung der Hilfsbedürftigen?

Die Demenz ist dabei, das große soziale, kulturelle, ökonomische Thema unserer Gesellschaft zu werden. Und das nicht nur bei uns in Deutschland. In allen Gesellschaften, in denen viele sehr alte Menschen leben, ist das Thema auf der Tagesordnung – von Japan bis in die Vereinigten Staaten von Amerika, in China wie in der Schweiz. Es erwischt uns alle: Erst haben wir dafür gesorgt, dass wir länger leben, und nun bekommen wir die Konsequenzen zu spüren. Das "vierte Lebensalter", das hohe Alter, das einmal eine Ausnahme war, wird zum Massenphänomen. Der Druck steigt: Noch immer ist es möglich, Erwartungen auf eine weitere medizinisch organisierte Verlängerung des Lebens zu wecken und zugleich merken wir, dass wir den sozialen Konsequenzen dieses medizinischen Siegeszuges noch nicht gewachsen sind.

Es ist nicht übertrieben, wenn wir sagen: Es wird in den nächsten Jahrzehnten die große humanitäre Herausforderung für die alternden Gesellschaften sein, ob es gelingt, die wachsende Zahl von Pflegebedürftigen, insbesondere die wachsende Zahl von Menschen mit Demenz, so zu umsorgen und mitzutragen, dass diese Lebensstrecke für die Betroffenen und die Angehörigen nicht nur eine Qual ist. Eine falsche Antwort liegt nahe und sie wird schon propagiert: Das durch die Fortschritte der Medizin hervorgebrachte Problem soll von der Medizin (im Bündnis mit der pharmazeutischen Industrie) bewältigt werden. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um zu prognostizieren: Das wird scheitern.

Stattdessen gilt: Entweder die Demenz wird endlich als eine soziale Aufgabe wahrgenommen, bei der die medizinische Expertise eine helfende Rolle spielen darf oder wir stehen vor einem ökonomischen, kulturellen und humanitären Bankrott. Es geht nicht um ein bisschen zivilgesellschaftliche Ergänzung der Versorgung, sondern es geht um einen Umbau der Gesellschaft. Aber das wird schwierig. Auch deshalb, weil die Menschen mit Demenz von mächtigen Interessengruppen umstellt sind. Ob zu ihrem Schutz oder ob man sich von ihnen vor allem einen Nutzen verspricht, sei dahingestellt.

Die Demenz eignet sich gut, um Schreckensszenarien zu entwerfen. Man sieht eine krisengeschüttelte deutsche Gesellschaft vor sich, die des Demenzproblems nicht mehr Herr wird. Die Zahlen dazu werden immer apokalyptischer: Gegenwärtig sind in Deutschland 1,2 Millionen Menschen von Demenz betroffen, im Jahr 2050 werden es voraussichtlich 2,6 Millionen sein. Je nachdem, wie die Maßstäbe für Demenz gesetzt werden, kann man die Zahlen weiter in die Höhe treiben. Horst Bickel hat für die Deutsche Alzheimer Gesellschaft eine neue Berechnung vorgelegt: Demnach leben 2012 in Deutschland sogar mehr als 1,4 Millionen Demenzkranke. Zwei Drittel von ihnen seien von der Alzheimer-Krankheit bedroht. Jahr für Jahr treten fast 300.000 Ersterkrankungen auf. Sofern kein Durchbruch in Prävention und Therapie gelinge, werde sich die Zahl der Erkrankten bis zum Jahr 2050 auf etwa 3 Millionen erhöhen. Wenn es keine Erfolge in der Bekämpfung der Demenz gebe, müsse man in den nächsten 40 Jahren mit mehr als 100 zusätzlichen Krankheitsfällen pro Tag rechnen. In Deutschland, so laut Studie einer Krankenkasse, müsse jeder dritte Mann und jede zweite Frau damit rechnen, irgendwann im Leben an Demenz zu erkranken. Zwei Drittel der Demenzkranken sind pflegebedürftig. Im Jahr 2009 waren bereits 29 Prozent der Männer und 47 Prozent der Frauen, die im Alter von über 60 Jahren starben, dement. Die monatlichen Ausgaben der Sozialversicherungen für einen Demenzkranken liegen um durchschnittlich 800 Euro höher als bei einer nicht dementen Person.

Pflege als Wachstumsmarkt

Die Ratingagentur Standard & Poor’s (S&P) hat diese Entwicklung zum Anlass genommen, um vor einer steigenden Budgetbelastung durch Gesundheitskosten in den G20-Ländern – den weltweit reichsten Ländern – zu warnen. Wenn die Regierungen ihre Systeme zur sozialen Sicherung nicht änderten, werden sie – aus Sicht von S&P – "unsustainable"; das heißt, sie werden zusammenbrechen; die Alterung der Bevölkerung werde zu fundamentalen Veränderungen mit Blick auf das ökonomische Wachstum führen; Gesundheitskosten würden steigen, und das werde die europäischen Ökonomien stärker treffen als die aufstrebenden Wachstumsgesellschaften; die Kreditwürdigkeit solcher Länder wie Deutschland würde schließlich drastisch leiden.Das klingt wie eine Aufforderung, die Gesundheitsausgaben radikal zu kürzen, um das Überleben und den Wohlstand der Starken zu sichern. Die hohe soziale Sicherung in Europa, in Japan und den Vereinigten Staaten von Amerika, die gleichzeitig an einer "Verschlechterung des demografischen Profils" leiden, wird diese Länder – die Drohung soll gehört werden – in den Abgrund reißen, wenn sie nicht einen anderen Kurs fahren.

Die Prognose von S&P ist nicht vom Tisch zu wischen: In Deutschland wurden 2010 im Gesundheitssystem 287,3 Milliarden Euro ausgegeben. Darin sind die Ausgaben von Krankenversicherungen, Pflegeversicherungen, privaten Haushalten, Organisationen mit dem Ziel der Prävention, die Kosten von Behandlungen, Rehabilitation und Pflege, auch Verwaltungskosten und Investitionsausgaben enthalten. Zum Vergleich: Der Haushalt des Bundes 2012 sah Ausgaben in Höhe von 306 Milliarden Euro vor. Rechnerisch wurden für jeden Einwohner und jede Einwohnerin Deutschlands 3150 Euro pro Jahr bezahlt. Den stärksten Zuwachs gab es bei der sozialen Pflegeversicherung – die Ausgaben wuchsen auf 21,5 Milliarden Euro. Die Frage liegt auf dem Tisch: Wie soll das weitergehen? Mit den Gesundheitskosten überhaupt, aber speziell auch mit den Kosten für die Demenz?

Die WHO hat 2012 vor einer dramatischen Ausbreitung der Demenz gewarnt: Gegenwärtig sind es 66 Millionen Demenzkranke weltweit, die an Alzheimer oder ähnlichen Störungen leiden. Die Zahl wird sich bis zum Jahr 2030 verdoppeln und die Gesundheitssysteme massiv überfordern. 2050 werden dann 115 Millionen Menschen "unter dieser Hirnerkrankung leiden". Alle vier Sekunden wird weltweit eine Demenzerkrankung neu diagnostiziert. Die Experten der WHO sprechen mit Blick auf die Demenz von einer "Geißel der Menschheit". Marc Wortman, Direktor des Alzheimer’s Disease International (ADI), der die WHO-Studie maßgeblich mitgestaltet hat, sagt: Die Gesundheitssysteme seien "schlicht überfordert"; die Demenz sei eine Bürde für die Betroffenen und ihre Angehörigen und ein "sozialer und wirtschaftlicher Alptraum". Eine Geißel der Menschheit! Haben wir es mit einer neuen Pest zu tun? "Alle 20 Jahre verdoppelt sich die Zahl der Demenzkranken", wird gerufen. Das hieße, dass in 100 Jahren etwa die Hälfte der Deutschen "verrückt" wäre. Was passiert da eigentlich? "In vielen Ländern ist das öffentliche Interesse an der Behandlung der Krankheit und die Bereitschaft zur Hilfe für die Betroffenen immer noch sehr gering", beklagt Marc Wortmann. Müssen wir uns in Alarmbereitschaft versetzen lassen?

Eines ist unübersehbar: Mit der Zahl der als demenzkrank Diagnostizierten steigt die Zahl der Profiteure. Der Pflegesektor darf sich große Zuwachsraten versprechen. Die medizinischen Demenzspezialisten haben "blendende" Aussichten und die Pharmaindustrie darf sich Wachstumsschübe im Sektor Demenz ausrechnen. Und so wird – zum Beispiel laut oben zitierter WHO-Studie – nach nationalen Demenzplänen gerufen. Da sollte sich niemand täuschen: Es wird sofort um die Frage gehen, wer die Dementen kriegt. Man kann davon ausgehen, dass Frühdiagnose eingefordert wird, denn das treibt die potenziell Betroffenen in die Praxen. Man kann davon ausgehen, dass bei der Erstellung eines nationalen Demenzplanes über die Frage gestritten wird: Wer kriegt dieses "Patientenpaket"? Wer darf diagnostizieren, wer behandeln, wer versorgen?

Auf dem Immobilienmarkt werden die Gewinnmöglichkeiten, die in der alternden Gesellschaft erwachsen, schon abgeschätzt: "Die Pflegeimmobilie: Kapitalanlage in einem der letzten Wachstumsmärkte für Immobilien". Erhält S&P schneller Recht, als man gedacht hat? Nichts wächst mehr – nur noch der Pflegemarkt. Auf einer großen Pflegetagung hörte ich kürzlich den Vorsitzenden sagen: "Wir sind der Wachstumssektor der Zukunft. Bei uns sind mehr Menschen beschäftigt als in der Autoindustrie." Aber was wird aus einer Gesellschaft, in der die Pflege Hochaltriger zum wichtigsten Wachstums- und Beschäftigungsmotor wird? Kann das gut gehen?

Lebensversicherungen (Kapital-Lebensversicherungen, private Rentenversicherungen, "Riester-Rentenversicherungen") würden ständig an Glaubwürdigkeit verlieren, die Renditen sinken, in den ersten zehn Jahren werde gar keine Rendite erwirtschaftet. Der demografische Wandel dagegen eröffne den Blick auf neue profitable Möglichkeiten: "Die Pflegeimmobilie als Kapitalanlage vereint zwei Märkte in einem Produkt. Zum einen investieren Sie in einen inflationsgeschützten Sachwert, der am richtigen Standort und bei laufender Instandhaltung einen langfristigen Wertzuwachs verspricht. Zum anderen profitieren Sie durch das Investment in Sozialimmobilien vom Wachstumsmarkt Nr. 1 in Deutschland, dem demographischen Wandel." Die Kosten für die stationäre Pflege und die Unterbringung des Bewohners (Miete) – so heißt es weiter – seien gesichert, da sie vorfinanziert werden, wenn der Bewohner seinen Pflegeplatz nicht aus Mitteln der Pflegeversicherung zuzüglich Rente oder Eigenleistung bezahlen könne. Ist es nicht absurd, sich vorzustellen, dass der Besuch im Pflegeheim uns in das ökonomische und profitable Zentrum der Gesellschaft führt? Kann das funktionieren?

Neue Wege im Umgang mit Demenz

Das Thema Demenz ist in der deutschen Öffentlichkeit angekommen und wird zunehmend diskutiert. Die Frage, was man gegen die Demenz tun kann, beschäftigt nicht nur Betroffene und ihre Angehörigen, sondern viele älter werdende Menschen. Demenz wird so zu einem bedeutenden Thema und zugleich zu einer zentralen kulturellen Herausforderung: Wird es gelingen, mit der Demenz in einer alternden Gesellschaft human, verantwortungsvoll und fürsorglich umzugehen?

Es liegt nahe, die Demenz als eine Art "inneren Feind" zu verstehen, der die Angehörigen und Pflegenden bedroht, der die einschlägigen Institutionen und die Gesundheitsbudgets überlastet. Die Demenz wird dann als Eindringling, als Feind des alternden Menschen, begriffen, den es zu bekämpfen gilt – medizinisch, pflegerisch, sozial. Die Betroffenen werden dann vor allem als zu versorgende Objekte aufgefasst und kommen zugleich in die Gefahr, als Kostenfaktoren in den Blick zu geraten. Optimierung der Versorgung und Deckelung der Kosten werden dann fast notwendig zum primären gesundheitspolitischen Ziel. Im gleichen Zug werden die Menschen mit Demenz zu passiven Adressaten degradiert, sie werden zur statistischen Größe objektiviert oder zu einer Teilpopulation gemacht, die unter dem unpräzisen Label "Demenz" zusammengefasst wird und Maßnahmen erfordert.

Im Gegensatz dazu gilt es den Versuch zu machen, die Menschen mit Demenz anders wahrzunehmen: Sie gehören als Bürgerinnen und Bürger zu uns, und es ist unsere Aufgabe, sie so gut wie möglich zu umsorgen, zu respektieren, und, wenn möglich, zu Wort kommen zu lassen. Die Demenz ist eine der vielen Weisen, in denen das Altwerden seinen Ausdruck finden kann. Nicht die Bekämpfung der Demenz steht deshalb an oberster Stelle der Agenda, sondern die Bereitschaft, die Demenz als etwas zu begreifen, das zum Älterwerden gehören kann. Sie wäre dann übrigens auch zu verstehen als einer der möglichen Wege, auf denen sich ein Mensch dem Lebensende nähert. Die Kampf- und Kriegsmetaphern, die im Zusammenhang mit Demenz häufig gebraucht werden, versperren den Blick darauf, dass die Demenz ein Aspekt und damit ein Teil dieser Gesellschaft ist und dass es deshalb darum geht, die Menschen mit Demenz gastfreundlich aufzunehmen.

Das bedeutet, die Orte, an denen sich Menschen mit Demenz vorfinden, sollten vor allem Orte der Gastfreundlichkeit sein. In mancher Hinsicht werden Menschen mit Demenz heute behandelt als wären sie Aussätzige, in Institutionen abgesondert, in überlasteten Familien isoliert. Wie könnte das aussehen, wenn wir sie an die Tische, an denen wir sitzen, zurückholen würden, um sie zu bewirten – im realen und im symbolischen Sinne?

Eine solche Betrachtungsweise erlaubt ein tieferes, reiferes Verständnis der Demenz. Es kann dann deutlich werden, dass die Demenz in bedrückender und erklärender Weise Züge unserer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung zum Ausdruck bringt: Die Gesellschaft, in der wir leben, ist eine vergessliche, eine erinnerungslose. Die Menschen mit Demenz bringen eigentlich in heimlich-unheimlicher Weise die Korrespondenz zwischen individueller und allgemeiner Entwicklung zum Ausdruck, die in der gemeinsamen Vergesslichkeit besteht.

Viel wird von Prävention geredet. Dazu brauchen wir nicht mehr und nicht weniger als einen Umbau der Gesellschaft. Wir brauchen Nachbarschaftlichkeit, Freundlichkeit, Wärme. Das sind die Wegmarken dieser neu zu erfindenden Gesellschaft, die ihre vorrangige Aufgabe nicht in der Diagnose der Demenz, sondern in der Umsorgung der Menschen mit Demenz sehen würde. Da die sozialen Nöte der Menschen mit Demenz niemals allein und ausschließlich mit Geld zu bewältigen sein werden, brauchen wir eine nachbarschaftlich neu belebte Kommune. Ein Ausweg aus dem Demenzdilemma muss künftig mehr in der Konstruktion einer gastfreundlichen Lebenswelt statt in der Perfektionierung spezialisierter Versorgung gesucht werden.

Dr. theol., Dr. rer. soc., geb. 1939; Prof. em. am Institut für Soziologie, Justus-Liebig-Universität, Karl-Glöckner-Straße 21E, 35394 Gießen. E-Mail Link: info@reimergronemeyer.de