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Vergangenes Unrecht aufarbeiten. Eine globale Perspektive | Wiedergutmachung und Gerechtigkeit | bpb.de

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Vergangenes Unrecht aufarbeiten. Eine globale Perspektive

Susanne Buckley-Zistel

/ 17 Minuten zu lesen

Im Jahr 2010, 20 Jahre nach dem Ende der DDR, wurde in Brandenburg die Enquete-Kommission zur "Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg" eingesetzt. Diese Kommission zur "Aufarbeitung der Aufarbeitung" hat zum Ziel, den Umgang mit ehemaligen Stasi-Mitarbeiterinnen und Stasi-Mitarbeitern in öffentlichen Ämtern einerseits und mit SED-Opfern andererseits zu untersuchen sowie sich mit der seit 1990 entwickelnden politischen Kultur des Bundeslandes, der landwirtschaftlichen Entwicklungen, der Rolle der Medien und anderem auseinanderzusetzen, um Empfehlungen für die Zukunft auszusprechen. Strukturell und inhaltlich schließt sich dieses Bemühen der Aufarbeitung zwei früheren Enquete-Kommissionen an, die sich kurz nach Ende des SED-Regimes bundesweit mit dessen Vergehen auseinandersetzten.

Im deutschen Kontext überraschen diese weitreichenden Bemühungen, vergangenes Unrecht aufzuarbeiten, nicht. Neben den Kommissionen wurde bezüglich der DDR eine Vielzahl von weiteren Initiativen gestartet. Zu nennen seien unter anderem symbolische Formen wie Gedenkstätten und Museen, rechtliche Aufarbeitung durch Gerichtsverfahren, Wiedergutmachung für Opfer und Versehrte, das Archivieren und Zugänglichmachen von Dokumenten durch die Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen sowie die Förderung eines öffentlichen Diskurses über die ostdeutsche Vergangenheit. Die Aufarbeitung des SED-Regimes knüpft an Deutschlands intensive Auseinandersetzung mit dem "Dritten Reich" und der Vernichtung von Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, Menschen mit Behinderung und politischen Oppositionellen an, die sich wiederum in einer Vielzahl von Initiativen und Maßnahmen manifestiert. Der Blick zurück ist uns dadurch bestens vertraut.

Doch dies ist keine Selbstverständlichkeit. In vielen Gesellschaften wird nach Ende eines gewaltsamen Konflikts oder einer Diktatur vergangenes Unrecht nicht oder nur partiell aufgearbeitet. Nichtsdestotrotz – oder gerade deswegen – lässt sich seit den frühen 1990er Jahren ein Trend verzeichnen, durch den der Umgang mit einer gewaltvollen Vergangenheit zu einer globalen Norm avancierte und sich in verschiedenen Formen institutionalisiert hat. Dies wird oft unter dem Begriff Transitional Justice gefasst und bezeichnet Bemühungen, mit einer gewaltsamen Vergangenheit und ihren soziopolitischen Auswirkungen zurechtzukommen. Wie der Begriff suggeriert, wird der Moment des Übergangs, also der transition, zu einem friedlichen Zusammenleben eng mit dem Streben nach Gerechtigkeit, justice, verknüpft. Dies beruht auf der Annahme, dass diese Phase der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen bedarf, da nur ein klarer Bruch mit vergangenem Unrecht zukünftigen Verbrechen vorbeuge, Vertrauen in die neue Regierung und Staatsform generiere und zur Aussöhnung zwischen den Konfliktparteien beitrage. Gemeinhin werden folgende Ziele unter dem Begriff subsumiert: Aufdecken der Wahrheit über begangene Verbrechen und Identifizieren der Verantwortlichen, Bestrafen von Tätern, Wiederherstellen der Würde der Opfer sowie die Förderung von Gedenken und Aussöhnung.

Zum ersten Mal wurde der Begriff Transitional Justice zu Beginn der 1990er Jahre verwendet. Er erfasste eine sich entwickelnde Praxis, die vor dem Ende des Ost-West-Konflikts in dieser Form nicht denkbar gewesen wäre, da das Klima des Kalten Kriegs und die damit einhergehende Regimestabilität einer grundlegenden Aufarbeitung von vergangenem Unrecht im Wege gestanden hatte. Zur Konjunktur von Konzept und Praxis trug zudem bei, dass sich zu Beginn der 1990er Jahre die Anzahl der innerstaatlichen Gewaltkonflikte auf dem Balkan und in Subsahara-Afrika mehrten, was zu einer engen Verknüpfung von Konfliktnachsorge und Transitional Justice führte. Seither wird kaum ein Friedensvertrag unterzeichnet, kaum ein Diktator gestürzt, kaum eine repressive Regierung entmachtet, ohne den Aufruf, die Wahrheit über vergangene Menschenrechtsverbrechen aufzudecken und die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Während frühere Bemühungen vor allem von Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten und Nachfolgeregierungen angestrebt wurden, hat sich inzwischen ein globales Netzwerk von internationalen Organisationen und Institutionen, Expertinnen und Experten sowie zivilgesellschaftlichen Lobbygruppen formiert.

Maßnahmen zum Umgang mit vergangenem Unrecht

Seit diesen Anfängen hat sich ein umfangreicher Maßnahmenkatalog zum Umgang mit vergangenem Unrecht herausgebildet, unter dem im Allgemeinen die folgenden Instrumente subsumiert werden: Rechtsprechung und Strafe durch Tribunale, Aufdecken der Vergehen durch Wahrheitskommissionen, Fördern von Erinnerung und Gedenken, Entschädigungen für Opfer von Menschenrechtsverbrechen einschließlich symbolischer und materieller Reparationen und Lustration (Entlassung) von korruptem und kriminellem Personal. Im Folgenden werde ich kurz auf die einzelnen Maßnahmen eingehen und sie in Kontext setzen.

Tribunale.

Das Strafen von Rechtsbrüchen ist ein zentrales Element der Transitional Justice. Für die rechtliche Aufarbeitung von vergangenen Menschenrechtsverbrechen durch Tribunale und Strafgerichtsprozesse wurden mit dem Internationalen Militärtribunal von Nürnberg und dem Internationalen Tribunal für den Fernen Osten (Tokioter Prozesse) historische Meilensteine gesetzt. Nach Ende des "Dritten Reichs" wurde so das Bestreben geweckt, einen zentralen Strafgerichtshof zu schaffen, in dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Völkermord sowie Angriffskriege strafrechtlich verfolgt werden können. Erst mehrere Jahrzehnte später wurde 1998 mit dem sogenannten Rom-Statut ein Weg hierfür geebnet und das Fundament für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag geschaffen. Dem vorweg waren (und sind) seit den 1990er Jahren eine Vielzahl von ad hoc, hybriden und internationalen Gerichtshöfen aktiv. An die ersten Strafgerichtshöfe der Vereinten Nationen für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda (1993 und 1994) reihten sich der Sondergerichtshof für Sierra Leone (2002), das Sondergericht für Schwere Straftaten in Osttimor (2000), der Spezialgerichtshof für den Libanon (2007) und die Außergewöhnlichen Kammern des Gerichts von Kambodscha (2009), die jeweils nur für das entsprechende Land zuständig sind.

Dem seit 2002 aktiven IStGH kommt die Aufgabe zu, nach seinem Inkrafttreten begangene Verbrechen im Kontext von Krieg und Repression zu ahnden. Basierend auf dem Prinzip der Komplementarität wird er jedoch nur tätig, wenn ein Staat weder in der Lage noch willens ist, eine Straftat selbst zu ahnden. Ermittlungsverfahren können entweder extern durch Anrufung oder intern durch die Anklagebehörde eingeleitet werden. Bisher hat der IStGH in acht Fällen Untersuchungen eingeleitet: Demokratische Republik Kongo, Uganda, Zentralafrikanische Republik, Darfur/Sudan, Kenya, Libyen, Elfenbeinküste und Mali, wovon vier dem Gerichtshof durch Aufruf zukamen, zwei vom UN-Sicherheitsrat übertragen und zwei vom Chefankläger in die Wege geleitet wurden. Nach zehn Jahren Tätigkeit war es dem IStGH 2012 möglich, sein erstes Urteil zu sprechen: Thomas Lubanga, Rebellenführer aus dem Kongo, gegen den 2006 ein Haftbefehl erlassen wurde, wurde zu 14 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Lubanga wurde schuldig gesprochen, Kinder unter 15 Jahren für militärische Zwecke und zur aktiven Teilnahme an kriegerischen Auseinandersetzungen zwangsrekrutiert zu haben.

Die rasante Entwicklung internationaler Strafgerichtsbarkeit wirft die Frage auf, welche Rolle Gerichtsprozessen beim Umgang mit vergangenen Vergehen zukommt. Generell verfolgen sie das Ziel, vergangenes Unrecht richtig zu stellen und den Wunsch nach Vergeltung zu reduzieren. Dies wird oft mit der Hoffnung verknüpft, vor zukünftigen Gewalttaten abzuschrecken. Gerichte beruhen auf einer individualisierten Vorstellung von Schuld und können nur Einzelpersonen zur Rechenschaft ziehen. Aus pragmatischen und finanziellen Gründen werden somit meist nur die "großen Fische", das heißt die Drahtzieher und Anführer, angeklagt. Obwohl Strafe das Hauptziel von Tribunalen bleibt, beanspruchen einige Gerichte, zur Förderung von Frieden und Aussöhnung beizutragen.

Wahrheitskommissionen

erlebten in den 1980er Jahren in Lateinamerika Konjunktur, also vor dem bis heute andauernden Trend der Aufarbeitung. Nach den sogenannten Schmutzigen Kriegen in Argentinien, Uruguay und Chile und der Straffreiheit für Militär und Politiker verfolgten sie unter anderem das Ziel, im Kontext einer Kultur des Verschweigens und Verleugnens die Wahrheit über vergangene Menschenrechtsverbrechen ans Licht zu bringen. Dem folgten bis dato etwa 40 Kommissionen, vor allem nach Bürgerkriegen (beispielsweise in Sierra Leone, Liberia, Guatemala, El Salvador, Osttimor), aber auch in postkommunistischen Staaten wie Estland, Litauen und Rumänien sowie, wie einführend dargelegt, (Ost)Deutschland. War die Suche nach Wahrheit bei den früheren Kommissionen das zentrale Ansinnen, ist seit den 1990er Jahren eine stärkere Ausrichtung auf nationale Aussöhnung zu verzeichnen. Hier sticht vor allem die Südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission hervor, die von 1996 bis 1998 Apartheidverbrechen aller Konfliktparteien untersuchte. Bei vollem Schuldeingeständnis konnten die Täterinnen und Täter einen Antrag auf Straffreiheit stellen, der allerdings nur einem kleinen Prozentsatz gewährt wurde. Durch eine breit angelegte Medienkampagne wurden die Prozesse der Kommission dem ganzen Land über Rundfunk und Fernsehen zugänglich gemacht, um über die vergangenen Menschenrechtsvergehen zu informieren, aber auch um die Idee von Aufarbeitung und Aussöhnung in allen südafrikanischen Wohnzimmern zu verbreiten.

Wurden Wahrheitskommissionen zunächst in Abwesenheit von Strafgerichtsprozessen eingerichtet, so übernehmen sie inzwischen eine komplementäre Funktion. Als zeitlich begrenzte Einrichtungen dienen sie dazu, durch individuelle Zeugenaussagen die Verbrechen eines gewaltsamen Regimes aufzudecken und breit zu dokumentieren. Im Gegensatz zu Tribunalen verfolgen sie meist das Ziel, möglichst vielen Betroffenen das Wort zu erteilen und somit vor allem auch Opfern die Möglichkeit zu geben, ihr Leid öffentlich darzustellen und Gehör zu finden. Viele Kommissionen sind daher eher opfer- als täterzentriert.

Gedenken.

Gedenkstätten, Mahnmale und Gedenktage sind schon seit Langem von großer Bedeutung beim Blick auf vergangenes Unrecht, doch wird dieser vermehrt auf den Aspekt der Aufarbeitung geworfen. Dies geschieht parallel zu einem Wandel in der Gedenkstättenkultur weg von Heldenmonumenten oder Stätten des Triumphes hin zu Orten der Reflexion. Figurativ zeigt sich dies darin, dass weniger Soldaten (Kämpfer oder Gefallene als Helden) und vermehrt Zivilisten (oft Frauen und Kinder als Unschuldige) dargestellt werden. Ähnlich wie bei Wahrheitskommissionen ist auch hier ein sich verstärkender Fokus auf Gewaltopfer zu verzeichnen. Zudem werden vermehrt Schauplätze des Grauens in Gedenkmuseen transformiert und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Orte wie das Gelände einer Fabrik bei Srebrenica in Bosnien, von der im Jahre 1995 8.000 bosniakische Männer und Jungen verschleppt und ermordet wurden, Kirchen und Schulgebäude in Ruanda, in denen 1994 Tutsi in Massen getötet wurden, das Robben Island Gefängnis in Südafrika, in dem politische Oppositionelle wie Nelson Mandela einsaßen, aber auch das ehemalige Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen werden als authentische Stätten museumspädagogisch für Besucher aufbereitet.

Im Kontext von Transitional Justice kommt Gedenken die Funktion zu, die Würde der Opfer, die oft Zielscheibe der Verbrechen war, wiederherzustellen und ihr Leid öffentlich anzuerkennen. Des Weiteren soll Gedenken öffentliche Diskussionen über vergangenes Unrecht anregen, wie sich in den oft heftigen Debatten um Form und Botschaft eines neu zu errichtenden Mahnmals zeigt. Für die Opfer kann Gedenken zudem zum Moment des Widerstands werden, wenn vergangene Verbrechen im öffentlichen Diskurs verdrängt oder verschwiegen werden. Dies zeigt sich am Beispiel Chiles, wo Erinnerungsorte nur durch heftigen Protest von Opfervertreterinnen und -vertretern errichtet wurden. Letztlich kann Gedenken aber auch dazu dienen, eine gemeinsame Interpretation vergangener Gräueltaten zu konstruieren und somit eine gespaltene Nation zusammenzubringen. Die politische Relevanz der Stätten unterscheidet sich entsprechend der Initiatoren von Gedenken sowie dem Kontext der Gewalt und der aktuellen Aufarbeitung.

Entschädigungen.

Vergangenes Unrecht zu entschädigen – wenn dies überhaupt je möglich ist – kann verschiedene Formen annehmen. Die wohl bekannteste Form der Entschädigung ist finanzieller Natur. Das bisher größte Reparationsprogramm sind die monetären Leistungen Deutschlands an die Opfer des Nationalsozialismus. Als jüngeres Beispiel für finanzielle Entschädigungen wäre Marokko zu nennen, wo nach den Menschenrechtsvergehen in den 1960er bis 1990er Jahren eine Wahrheitskommission Reparationen als Empfehlung aussprach. Die Kommission schlug vor, dass den über 10.000 Opfern oder ihren Familien eine Gesamtsumme von etwa 85 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt und ihre Gesundheitsversorgung sowie der Schutz ihrer Menschenrechte gewährleistet werden solle. Neben individuellen Zahlungen wurden zum ersten Mal auch kollektive Leistungen, wie die Förderung von ökonomischem Wachstum in bisher marginalisierten Regionen, vorgeschlagen. Vor allem für arme Menschen ist materielle Wiedergutmachung oft mehr als nur eine Geste. Der Verlust von Haus, Hof und Vieh verschärft die ohnehin desolate Situation, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, und der Tod von vor allem männlichen Familienmitgliedern führt nicht selten zu einem Verlust von Arbeitskräften, was besonders in verarmten, ländlichen Gebieten gravierende Folgen für die Hinterbliebenen haben kann.

Symbolisch wären neben den bereits erläuterten Gedenkstätten Entschuldigungen zu erwähnen. In den vergangenen Jahren lässt sich hier ein wahrer Boom verzeichnen: 2008 war Kevin Rudd der erste australische Premierminister, der für die Vergehen der Siedler an den australischen autochthonen Aborigines um Entschuldigung bat, Präsident Bill Clinton entschuldigte sich 1998 in Ruanda dafür, mit seiner Politik eine militärische Intervention während des Völkermords verhindert zu haben, 2004 bat die deutsche Entwicklungsministerin für die Verbrechen der deutschen Kolonialisten an den Herero in Namibia um Entschuldigung (eine Entschuldigung von der Bundesregierung steht noch aus), und 2010 entschuldigte sich das serbische Parlament für das Massaker in Srebrenica.

Nach der Erfahrung von Gewalt kommt Entschädigungen die Funktion zu, den Verlust und das Leiden der Opfer offiziell anzuerkennen und damit sowohl Schuld einzugestehen als auch Verantwortung zu übernehmen. Im Idealfall fördern symbolische oder monetäre Entschädigungen dadurch das Vertrauen der Opfer in die (neue) politische Führung. Mit Blick auf die Opfer ist die Anerkennung ihres Leids durch Entschädigungen ein wichtiger Schritt, ihnen ihre Würde zurückzugeben und sie gesellschaftlich und rechtlich gleichzustellen. Durch ihre aktive Rolle in der Diskussion um Reparationen werden Opfer zudem aus ihrer Passivität und ihrem Opferstatus herausgelöst und zu gleichwertigen Mitstreiterinnen und Mitstreitern beim Ausloten des Transitional-Justice-Prozesses und des neuen gesellschaftlichen Miteinanders.

Lustration.

Im Zuge von Lustrationsverfahren werden ehemalige Regierungstreue, Kriminelle oder korruptes Personal aus entscheidungsrelevanten oder gesellschaftlich bedeutenden Positionen entfernt. Nach dem Ende der DDR wurden etliche Personen aus staatlichen Institutionen entlassen, um mit neuem Personal eine neue Ära einzuläuten – selbst wenn bis zum heutigen Tag Individuen in Schlüsselpositionen beschuldigt werden, als Informantinnen und Informanten, sogenannte Inoffizielle Mitarbeiter, für die Staatssicherheit aktiv gewesen zu sein. Auch andere postkommunistische Länder wie Polen oder die Tschechische Republik durchliefen entsprechende Prozesse.

Ziel von Lustrationsprozessen in Zeiten der Transition ist, kriminelle Unterstützer des alten Regimes zu entfernen, um einen erfolgreichen Übergang zu gewährleisten. Zudem sollen damit Gesetzesüberschreitungen, selbst wenn zur Zeit des Vergehens legitim, sanktioniert werden. Parallel dazu wird oft auch ein Paradigmenwechsel erhofft, da alte Kaderschmieden und Seilschaften aufgelöst und politisch-ideologische Netzwerke zerstört werden sollen. Dadurch soll das Vertrauen in öffentliche Institutionen wiederhergestellt und in für Menschenrechtsvergehen zuträgliche Strukturen gehoben werden.

Vergangenes Unrecht aufarbeiten: Ein globales Konzept?

Der bisher dargestellte Katalog an Maßnahmen zur Aufarbeitung vergangenen Unrechts liest sich wie ein Werkzeugkasten und wird auch häufig als solcher betrachtet. Von der UN über Entwicklungsorganisationen bis hin zu Expertinnen- und Expertennetzwerken finanzieren und implementieren internationale Akteure Transitional-Justice-Prozesse in von Gewalt betroffenen Ländern. Das Ahnden von Menschenrechtsvergehen ist heute Bestandteil von Internationalem Strafrecht, nationalen und internationalen Institutionen und einem "globalen Gewissen", wie es die Politikwissenschaftlerin Kathryn Sikkink mit ihrer Gerechtigkeitskaskade darstellt. Über die vergangenen zwei Jahrzehnte wurde das Axiom der Aufarbeitung internalisiert, das heißt, es wird nicht mehr infrage gestellt, sondern ist zu einer Gewohnheit geworden, die sich permanent reproduziert. In diesem Sinne hat sich das Paradigma zu einer globalen Norm entwickelt. Manche sprechen sogar von einem Mantra.

Doch drängt sich die Frage auf, welche Relevanz und Umsetzbarkeit globale Normen der Aufarbeitung für lokale Kontexte der Gewalterfahrungen haben. Können im sogenannten Westen entstandene Vorstellungen und Maßstäbe von Schuld, Strafe und Gerechtigkeit so einfach auf Fälle übertragen werden, deren soziales Miteinander nach anderen Konventionen verläuft?

Jüngere Beiträge zur Transitional-Justice-Forschung stehen diesem global/lokal-Komplex eher kritisch gegenüber, in dem sie auf die inhaltliche Ausrichtung und die damit einhergehenden kulturellen Grenzen von Transitional Justice verweisen. So besteht zum Beispiel die Tendenz, dass unter Aufarbeitung vor allem strafrechtliche Verfolgung verstanden wird. Dies ist für externe Akteure (insbesondere Geber) attraktiv, da Gerichtsverfahren gemeinhin als apolitisch und neutral gelten und das Unterstützen von hierfür relevanten Institutionen wie der Judikative und dem Gerichtswesen in Nachkriegsgesellschaften von außen verhältnismäßig einfach scheint. Doch ist die juristische Aufarbeitung oft von wenig Bedeutung für die betroffene Gesellschaft, denn diese Form der ausgleichenden Gerechtigkeit ist fest in einer westlichen Vorstellung von (individueller) Schuld als Gegenstand sowie der Verurteilung des Täters oder der Täterin als Ergebnis eines Prozesses verhaftet und läuft anderen Formen von Gerechtigkeit zuwider. Zu nennen wäre hier beispielsweise restaurative Gerechtigkeit, die weniger auf Bestrafung von Einzelnen als auf das Wiederherstellen sozialer Beziehungen innerhalb einer Gruppe abzielt, was in der Literatur oft unter dem etwas unglücklichen Begriff der Traditional Justice gefasst wird.

Des Weiteren wird angemerkt, dass extern angestoßene Transitional Justice gemeinhin vorsieht, von einem gewaltvollen Konflikt zu Demokratie – und nicht einfach nur friedlicher Koexistenz – zu gelangen. Der globalen Norm liegt demnach ein sehr spezielles, dem historischen Kontext Europas entwachsenes Konstrukt zugrunde, das dem Gedankengut des Liberalismus verhaftet ist, der sowohl ihre Annahmen als auch ihre Mechanismen zur Umsetzung prägt. Gemäß der Anthropologin Rosalind Shaw und dem Rechtswissenschaftler Lars Waldorf umfasst dies "a liberal vision of history as progress (…), a redemptive model in which the harms of the past may be repaired in order to produce a future characterized by the non recurrence of violence, the rule of law, and a culture of human rights". In diesem Kontext wird zudem konstatiert, Transitional Justice versuche, Menschen in liberale Subjekte in Form von autonomen Bürgerinnen und Bürgern mit Rechten wie Freiheit und Gleichheit zu transformieren, die sich in demokratischen Strukturen zuhause fühlen. Diese Präferenz von individuellen gegenüber Gruppenrechten mag jedoch für manche nicht-westliche Gesellschaft unpassend sein.

Es wird also vermehrt argumentiert, dass die globale Norm der Transitional Justice und ihre Umsetzung Projekten und Netzwerken entspringen, die sich fern vom Kontext der tatsächlichen Gewalt befinden. Vorsicht ist geboten, wenn wir unsere Vorstellungen von Recht und Gerichten in andere Länder exportieren möchten. Um die "Lokalen" ins Boot zu holen, wird daher oft die Bevölkerung konsultiert, um deren Einstellung zu Tribunalen, Wahrheitskommissionen und anderen Instrumenten zu eruieren. Wie die Politikwissenschaftlerin Sandra Rubli in ihrer Forschung zu Burundi zeigt, werden Bedürfnisse nach Gerechtigkeit in konsultativem Verfahren on the ground erhoben, um die Maßnahmen – in ihrem Fall eine Wahrheitskommission – entsprechend der Bedürfnisse der von Gewalt Betroffenen anzupassen. Die Frage, ob sie überhaupt eine Kommission möchten, wird jedoch nie gestellt – obgleich laut Rublis Forschung ein signifikanter Teil der Bevölkerung eine eher ablehnende Haltung gegenüber dem Vorhaben einnimmt.

Doch bedeutet die Skepsis der von Gewalt betroffenen Menschen keineswegs, dass sie per se keinen Umgang mit der Vergangenheit wünschen. Vielmehr werden alltägliche Verfahren und Praxen, die sich im sozialen Miteinander etabliert haben, verwendet, um dem Vergangenen zu gedenken, Gewaltakteure zu integrieren und/oder Schließungsprozesse vorzunehmen. Außergewöhnliches vergangenes Unrecht aufzuarbeiten bedarf daher nicht zwingend außergewöhnlicher Maßnahmen, oft sind gewöhnliche, tradierte Verfahren angemessener und daher wirksamer. Das ist für Deutschland eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – für andere Gesellschaften möglicherweise nicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Im Jahr 1992 richtete der Deutsche Bundestag in seiner 12. Wahlperiode die Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" ein, der in der 13. Wahlperiode die Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der Deutschen Einheit" folgte.

  2. Für einen Überblick über die Maßnahmen vgl. Ralf K. Wüstenberg, Die politische Dimension der Versöhnung. Eine theologische Studie zum Umgang mit Schuld nach den Systemzusammenbrüchen in Südafrika und Deutschland, Gütersloh 2004; James A. McAdams, Judging the Past in Unified Germany, Cambridge 2001.

  3. Vgl. Susanne Buckley-Zistel/Anika Oettler, Was bedeutet: Transitional Justice?, in: dies./Thomas Kater (Hrsg.), Nach Krieg, Gewalt und Repression. Der schwierige Umgang mit der Vergangenheit, Frankfurt 2011, S. 21–38.

  4. Vgl. Ruti G. Teitel, Transitional Justice Genealogy, in: Harvard Human Rights Journal, 16 (2003), S. 69–94.

  5. Siehe dazu auch den Beitrag von Henrike Zentgraf in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  6. Für einen vollständigen Überblick siehe die Website der Schweizerischen Gesellschaft für Völkerstrafrecht (TRIAL), Externer Link: http://www.trial-ch.org/de/ressourcen/gerichte/einfuehrung.html (6.4.2013).

  7. Es fällt auf, dass der IStGH vor allem im Afrika aktiv ist. Für eine Diskussion siehe Phil Clark/Nicholas Waddell, Introduction, in: dies. (eds.), Courting Conflict. Justice, Peace and the ICC in Africa, London 2008, S. 7–12. Siehe auch den Beitrag von Wolfgang Kaleck in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  8. Vgl. Priscilla Hayner, Unspeakable Truths. Confronting State Terror and Atrocity, New York–London 2001.

  9. Für eine Diskussion des Opferbegriffs und seiner wachsenden Bedeutung siehe Thorsten Bonacker, Globale Opferschaft. Zum Charisma des Opfers in Transitional Justice-Prozessen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 19 (2012) 1, S. 5–36.

  10. Vgl. Judy Barsalou/Victoria Baxter, The Urge to Remember. The Role of Memorials in Social Reconstruction and Transitional Justice, Washington, DC 2007; Ershnee Naidu, The Ties that Bind. Strengthening the Link between Memorialisation and Transitional Justice, Cape Town 2006; dies., Memoralisation in Post-Conflict Societies. Potentials and Challenges, in: Susanne Buckley-Zistel/Stefanie Schäfer (eds.), Memorials in Times of Transition, Antwerpen 2013 (i.E.).

  11. Vgl. Jay Winter, Notes of the Memory Boom. War, Rememberance and Uses of the Past, in: Duncan Bell (ed.), Memory, Trauma and World Politics, Basingstoke 2006, S. 54–73.

  12. Vgl. Paul Williams, Memorial Museums. The Global Rush to Commemorate Atrocities, Oxford 2007.

  13. Für eine ausführliche Diskussion siehe S. Buckley-Zistel/S. Schäfer (Anm. 10).

  14. Vgl. Mark Gibney et al. (eds.), The Age of Apology. Facing up to the Past, Philadelphia, PA 2008; Christopher Daase, Painful Memories. Apologies as a New Practice in International Relations, in: Aleida Assmann/Sebastian Conrad (eds.), Memory in a Global Age. Discourses, Practices and Trajectories, Basingstoke 2010, S. 19–31. Vgl. auch den Beitrag von Christopher Daase in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  15. Für einen Überblick sowie Länderstudien siehe Alexander Mayer-Rieckh/Pablo De Greiff (eds.), Justice as Prevention. Vetting Public Employees in Transitional Societies, New York 2007.

  16. Dass die Ziele und Funktionen von Transitional-Justice-Maßnahmen mitnichten den bisher dargestellten Erwartungen entsprechen, ist in der Literatur inzwischen ausreichend belegt, soll aber nicht Gegenstand dieses Artikels sein.

  17. Vgl. Kathryn Sikkink, The Justice Cascade. How Human Rights Prosecutions are Changing World Politics, New York 2011.

  18. Vgl. Martha Finnemore/Kathrye Sikkink, International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organisation, 54 (1998) 4, S. 887–917.

  19. Vgl. Pierre Hazan, Das Mantra der Gerechtigkeit. Vom beschränkten Erfolg international verordneter Vergangenheitsbewältigung, in: Der Überblick, 1–2 (2007), S. 10–22.

  20. Vgl. Kieran McEvoy/Lorna McGregor (eds.), Transitional Justice from Below. Grassroot Activism and the Struggle for Change, Oxford 2008; Alexander Laban Hinton, Introduction. Towards an Anthropology of Transitional Justice, in: Alexander Laban Hinton (eds.), Transitional Justice. Global Mechanisms and Local Realities after Genocide and Mass Violence, Piscataway 2011, S. 1–24; Rosemary Nagy, Transitional Justice as Global Project. Critical reflections, in: Third World Quarterly, 29 (2008) 2, S. 275–289.

  21. Vgl. Kieran McEvoy, Beyond Legalism. Towards a Thicker Understanding of Transitional Justice, in: Journal of Law and Society, 34 (2007) 4, S. 411–440.

  22. Vgl. Barbara Oomen, Donor-Driven Justice and its Discontent. The Case of Rwanda, in: Development and Change, 36 (2005) 5, S. 887–910.

  23. Vgl. Friederike Mieth, Bringing Justice and Enforcing Law. An Ethnographic Perspective on the Impact of the Special Court for Sierra Leone, in: International Journal of Conflict and Violence, 7 (2013) 1; Peter Uvin/Charles Mironko, Western and Local Approaches to Justice in Rwanda, in: Global Governance, 9 (2003) 2, S. 219–231.

  24. Vgl. Luc Huyse/Marc Salter (eds.), Traditional Justice and Reconciliation after Violent Conflict, Stockholm 2008.

  25. Vgl. Paige Arthur, How ‘Transitions’ Reshape Human Rights. A Conceptual History of Transitional Justice, in: Human Rights Quarterly, 31 (2009), S. 321–367.

  26. Vgl. Nikita Dhawan, Transitions to Justice, in: Susanne Buckley-Zistel/Ruth Stanley (eds.), Gender in Transitional Justice, Basingstoke 2012, S. 264–284; A.L. Hinton (Anm. 20), S. 1–24.

  27. Rosalind Shaw/Lars Waldorf, Introduction. Localizing Transitional Justice, in: Rosalind Shaw/Lars Waldorf/Pierre Hazan (eds.), Localizing Transitional Justice. Interventions and Priorities after Mass Violence, Stanford 2010, S. 3–26.

  28. Vgl. A.L. Hinton (Anm. 20), S. 1–24.

  29. Vgl. Chandra Sriram, Transitional Justice and the Liberal Peace, in: Edward Newman/Oliver Richmond/Roland Paris (eds.), New Perspectives on Liberal Peacebuilding, New York 2009, S. 112–130.

  30. Vgl. Sandra Rubli, Revealing what we are feeling. A Critical Assessment of the National Consultations in Burundi, Vortrag, 4th ECPR Graduate Conference, Bremen 2012.

  31. Dies erwies sich als ein zentraler Einblick unseres DFG-Forschungsprojekts "The Politics of Building Peace" am Zentrum für Konfliktforschung, Philipps-Universität Marburg (2008–2012), insbesondere in den ethnografischen Studien von Teresa Koloma Beck zu Mozambique und Friederike Mieth zu Sierra Leone. Vgl. Teresa Koloma Beck, Forgetting the Embodied Past. Body Memory in Transitional Justice, in: Susanne Buckley-Zistel et al. (eds.), Transitional Justice Theories, Abington 2013 (i.E.); Teresa Koloma Beck, Without Commissions and Tribunals. Dealing with the Past in Post-War Mozambique, Vortrag, 23rd IPSA World Congress of Political Science, Madrid 2012; Friederike Mieth, Ordinary Practices of Dealing with the Past and Extraordinary Transitional Justice in Sierra Leone, Vortrag, International conference Regarding the Past. Agency, Power and Representation, Marburg 2012.

  32. Vgl. F. Mieth (Anm. 31).

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Dr. phil.; Professorin für Friedens- und Konfliktforschung; Geschäftsführende Direktorin des Zentrums für Konfliktforschung, Philipps-Universität Marburg, Ketzerbach 11, 35032 Marburg. E-Mail Link: s.buckley-zistel@staff.uni-marburg.de