Nürnberg" ist ein geflügeltes Wort. Selbst in populären Medien wie der amerikanischen TV-Serie "Sex and the City" finden die "Nuremberg Trials" Erwähnung. Die Prozesse, von 1945 bis 1949 in Nürnberg abgehalten, stehen für das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft und für den Beginn einer Aufarbeitung ihrer Verbrechen. Dabei muss stets unterschieden werden zwischen dem berühmten "Hauptkriegsverbrecherprozess" vor dem Internationalen Militärgerichtshof (IMT) sowie zwölf weiteren "Nachfolgeprozessen" vor ausschließlich amerikanischen Militärtribunalen, die in der öffentlichen Wahrnehmung eine nachgeordnete Rolle spielen. Die beiden Prozesstypen unterscheiden sich in ihrer Zuständigkeit und völkerrechtlichen Tragweite voneinander. Insbesondere dem IMT-Verfahren wird heute entscheidende Bedeutung als Grundstein für die Entwicklung und Umsetzung des modernen Völkerstrafrechts beigemessen.
Nicht vom Himmel gefallen
Aus heutiger Sicht wirken die Nürnberger Prozesse zuweilen wie ein Solitär, der plötzlich und unvermittelt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts aufragt. Dabei waren weder die Idee der Normierung von Kriegen als Mittel der Politik noch der Versuch der juristischen Ahndung von Kriegsverbrechen neu.
Die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs hatten mit der Einführung neuartiger Waffen vollkommen neue Dimensionen militärischer Gewalt eröffnet. Als Reaktion auf deutsche Kriegsverbrechen forderte der Vertrag von Versailles daher erstmals in den Artikeln 227 bis 229 neben der strafrechtlichen Verfolgung von Verbrechen Deutscher "gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges" die "öffentliche Anklage" des Kaisers vor einem alliierten Gericht. Diese Forderungen scheiterten sowohl am hartnäckigen deutschen Widerstand als auch an der Weigerung der Niederlande, Wilhelm II. auszuliefern. Anstatt der im Vertrag vorgesehenen Verfahren wurden 17 von ursprünglich 890 Personen vor dem Leipziger Reichsgericht angeklagt. Nur sieben von ihnen wurden tatsächlich zu – weitgehend milden – Haftstrafen verurteilt.
Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs führten aber nicht nur zu ersten Versuchen einer juristischen Ahndung von Kriegsverbrechen, sondern auch zum Bestreben der internationalen Politik der 1920er Jahre, insbesondere Angriffskriege aus dem politischen Instrumentarium der Staaten zu verbannen. Wichtige Schritte dieser Friedenssicherung waren die Gründung des Völkerbunds (1920), die Erweiterungen der Genfer Konvention (1929) sowie die Verabschiedung des Briand-Kellogg-Pakts (1928). Dennoch scheiterten Bemühungen, darüber hinaus einen internationalen Strafgerichtshof einzurichten, der in den Augen der Kritiker die Souveränität der Staaten zu stark beschnitten hätte. So wurden die Nürnberger Prozesse zum weltgeschichtlichen Novum, dass die bereits vorher bestehenden Ideen erstmals in die Tat umsetzte.
Juristisches Neuland
Das erste und mit Abstand berühmteste Verfahren wurde am 20. November 1945 im Schwurgerichtssaal des Nürnberger Gerichtsgebäudes eröffnet.
Im Hauptkriegsverbrecherprozess sollten 24 führende Repräsentanten des "Dritten Reichs" aus Politik, Partei, Wirtschaft und Militär, darunter Hermann Göring, Rudolf Heß, Hans Frank und Karl Dönitz, für die in ihrem Namen und im Namen ihrer Regierung begangenen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Tatsächlich saßen während des Prozesses nur 21 Männer auf der Anklagebank: Das Verfahren gegen Gustav Krupp wurde aus gesundheitlichen Gründen ausgesetzt, und Robert Ley, ehemaliger Führer der Deutschen Arbeitsfront (DAF), hatte, kurz nachdem ihm die Anklageschrift übermittelt worden war, in seiner Zelle Selbstmord begangen. Gegen Martin Bormann, den "Sekretär des Führers", wurde gemäß Artikel 12 des IMT-Statuts in Abwesenheit verhandelt.
Im Verlauf von 218 Verhandlungstagen wurden durch Anklage und Verteidigung unzählige Dokumente vorgebracht und zahlreiche Zeugen verhört, darunter die Angeklagten selbst, die in eigener Sache als Entlastungszeugen auftraten. Sowohl der Vortrag der Anklagevertretung sowie die daran anschließende Beweisführung der Verteidigung zogen sich jeweils über mehrere Wochen hin. Das vorgelegte Material war so umfangreich, dass die nach Abschluss des Verfahrens in Druckform erschienene Prozessdokumentation selbst in 42 Bänden nicht alle vorgelegten Dokumente aufnehmen konnte.
Am 1. Oktober 1946 verkündeten die Richter das Strafmaß der Urteile: Neben zwölf Todesurteilen und sieben Haftstrafen unterschiedlicher Dauer wurden drei der Angeklagten freigesprochen.
Im Schatten des berühmten Vorgängers
Die sogenannten Nachfolgeprozesse bilden den zweiten Teil der Nürnberger Prozesse. Dabei handelte es sich um zwölf Verfahren gegen ursprünglich 185 Angeklagte, die im Anschluss an den ersten Prozess zwischen Dezember 1946 und April 1949 vor ausschließlich amerikanischen Militärtribunalen verhandelt wurden. Ihnen fehlte zwar der internationale Charakter des Vorgängerverfahrens, gleichzeitig war hier jedoch die Anklage im Gegensatz zum Hauptkriegsverbrecherprozess nicht auf Verbrechen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg beschränkt, was völkerstrafrechtlich eine wichtige Erweiterung bedeutete.
Von vielen anderen Prozessen, die zum gleichen Zeitpunkt an anderer Stelle in den Besatzungszonen durchgeführt wurden, setzen sich diese Verfahren durch die besondere Systematik ihrer Anklage ab. Vor Gericht standen nicht einfach nur einzelne Angeklagte, sondern Gruppen von Funktionsträgern des NS-Staats, beispielsweise Mediziner, Juristen, Militärs, Politiker sowie Wirtschaftsvertreter. Dies ermöglichte, die Macht- und Funktionsstrukturen des von Profiteuren und Befehlsempfängern durchzogenen NS-Staats aufzudecken, und offenbarte das verbrecherische System dieses Regimes.
In den Nürnberger Nachfolgeprozessen ergingen 177 Urteile, davon 35 Freisprüche. Von den 25 verkündeten Todesurteilen wurden nur zwölf vollstreckt und die restlichen Häftlinge vorzeitig begnadigt. Spätestens 1958 hatten alle Inhaftierten das amerikanische Kriegsverbrechergefängnis in Landsberg verlassen. Der Kalte Krieg hatte mittlerweile zu einem drastischen Wandel des politischen Klimas geführt, das sich nun in erster Linie gegen den kommunistischen Feind im Osten richtete und die Bestrafung der neuen "Verbündeten" in Westdeutschland nicht mehr zeitgemäß erscheinen ließ. Dies bekräftigte die Haltung vieler Deutscher, die schon lange eine Rehabilitierung der durch die Verurteilungen "kollektiv in ihrem Ansehen beschädigten" alten Eliten gefordert hatten.
So unterschiedlich die Prozesse auf den ersten Blick wirken mögen: In ihrer Gesamtheit verdeutlichten sie die ideologische Durchdringung des NS-Staats und legten den weltanschaulich und rassenbiologisch geprägten Kern seines Wesens frei. Damit trugen sie erheblich zur Dokumentation der Wirklichkeit der nationalsozialistischen Verbrechen bei und leisteten einen entscheidenden Beitrag für deren spätere Aufarbeitung.
Unterschiedliche Perspektiven
Im April 1949 endete der letzte der Nürnberger Prozesse. Seitdem waren die Verfahren, allen voran der Hauptkriegsverbrecherprozess der Alliierten, Gegenstand zahlreicher Diskussionen und Auseinandersetzungen. An diesen lässt sich ablesen, wie stark die Bewertung der Prozesse von den jeweiligen politischen Bedingungen, dem persönlichen Standpunkt sowie dem Zeitpunkt der Bewertung abhängt.
Der kanadische Jurist und Historiker William Schabas schrieb jüngst in der Einleitung einer Publikation über das Verhältnis von internationaler Strafjustiz und Friedenssicherung: "Heute steht der Begriff ‚Nürnberg‘ vor allem für das Streben nach Gerechtigkeit."
Die Verfahren unterlagen jedoch keineswegs immer einer positiven Bewertung. Das über Jahrzehnte vorherrschende Schlagwort lautete "Siegerjustiz". Dahinter standen vor allem zwei Kritikpunkte: Zweifel an der Legitimität der Verfahren sowie Kritik an ihrer Rechtmäßigkeit.
Der Vorwurf der fehlenden Legitimation beruhte auf der aus deutscher Sicht zu Unrecht durch die Alliierten vorgenommenen Strafverfolgung. Während der Erste Weltkrieg durch ein Waffenstillstandsabkommen und einen anschließend unter deutscher Beteiligung ausgehandelten Friedensvertrag beendet worden war, bedeutete die bedingungslose Kapitulation uneingeschränkte Machtbefugnisse der Sieger über die Besiegten. Dass die Entscheidung zu einem solchen Prozess ausschließlich in den Händen der Alliierten gelegen hatte, empfanden viele Deutsche als ungerecht. Aus ihrer Sicht hätte die strafrechtliche Ahndung in die Hände der eigenen Justiz gehört.
Der Vorwurf mangelnder Rechtmäßigkeit bezog sich in erster Linie auf die Art und Weise, wie die Verfahren geführt wurden. Die Regelungen der Verfahrensordnung, die auf anglo-amerikanischen Rechtstraditionen beruhte, sowie die gerade zu Beginn des Hauptkriegsverbrecherprozesses auftauchenden Unregelmäßigkeiten, beispielsweise bei der Bereitstellung deutscher Übersetzungen von Dokumenten, wurden als unfaire Benachteiligung der Angeklagten und ihrer deutschen Verteidiger durch die Ankläger gesehen.
Die Prozesse waren aber nicht nur Ausdruck der Machtverhältnisse in Europa nach Kriegsende, sie unterlagen ihnen auch. Spätestens die Verhandlungen der Alliierten im Sommer 1945 zum Londoner Statut hatten unterschiedliche Auffassungen über den Umgang mit NS-Tätern zu Tage gebracht. Es überrascht daher nicht, dass sich im Verlauf des Prozesses vor dem IMT schnell abzeichnete, dass weitere, ursprünglich vor diesem Gerichtshof geplante Verfahren angesichts des aufziehenden Kalten Kriegs nicht mehr realisierbar sein würden. Ebenso deutlich wird der politische Einfluss bei den vorzeitigen Entlassungen der Inhaftierten von Landsberg, die vor dem Hintergrund der sich wandelnden US-amerikanischen Besatzungspolitik zwar erklärbar, aus moralischer Sicht aber unbegreiflich erscheinen.
Ein Blick auf die Urteile des berühmten ersten "Nürnberger Prozesses" zeigt, wie stark sich schon zur damaligen Zeit juristische, politische und moralische Aspekte überschnitten. So verwundert beispielsweise die Anklage von Julius Streicher im Kreis der höchsten Repräsentanten des NS-Staats bei genauerer Betrachtung, da er bereits im Februar 1940 entmachtet worden war. Trotzdem stellte sich weder damals noch heute angesichts seiner Verurteilung zum Tode ein Gefühl großer Ungerechtigkeit ein.
Ebenso werden heute auch andere Urteile abweichend bewertet, die aufgrund des nun vorhandenen umfangreicheren Wissens zu den Strukturen und Protagonisten des NS-Staats im historischen Vergleich milde erscheinen. Dazu zählt neben der Verurteilung von Albert Speer zu 20-jähriger Haft beispielsweise auch der Freispruch für Hjalmar Schacht. Hätten den Richtern von damals die gleichen Informationen vorgelegen, die nach nunmehr 60 Jahren intensiver Aufarbeitung und Forschung bekannt sind, wäre ihre Bestrafung vermutlich härter ausgefallen.
Gerechtigkeit für die Opfer?
Je mehr über den von den Nationalsozialisten begangenen Völkermord bekannt wurde, desto stärker gelangte er in den Fokus der Aufarbeitung. Heute bildet er das Zentrum der Erinnerung an die Schrecken von zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur. In der Gesamtheit der Nürnberger Prozesse, insbesondere im Verfahren vor dem alliierten Militärtribunal, geriet die Auseinandersetzung mit dem Holocaust hingegen eher zu einem Nebenthema. Dies verdeutlicht die allgemein verbreitete Bezeichnung als "Kriegsverbrecherprozesse" ebenso wie die zuweilen überraschend geringe Anzahl von Überlebenden in den Reihen der Zeugen.
Das Statut des IMT erkannte die neuartige Dimension des nationalsozialistischen Verwaltungsmassenmords durchaus an und machte mit der Schaffung des Tatbestands "Verbrechen gegen die Menschlichkeit"
Die Nürnberger Nachfolgeprozesse befassten sich in weitaus größerem Umfang mit den "Menschheitsverbrechen" der Nationalsozialisten als der prominente Vorgänger. Dazu zählten der Einsatzgruppenprozess (wegen Mordaktionen der Einsatzgruppe D in den besetzten östlichen Gebieten), der Prozess gegen das Rasse- und Siedlungshauptamt (wegen der Mitwirkung an der Ausrottung von Polen und Juden) sowie das Verfahren gegen Mitarbeiter des Wirtschaftsverwaltungshauptamtes, dem die Verwaltung der Konzentrationslager unterstanden hatte. Das System der Zwangsarbeit kam insbesondere bei den Verfahren gegen führende Manager der großen Kriegswirtschaftsunternehmen Krupp, Flick und IG Farben zur Sprache.
Die öffentliche Feststellung und Anerkennung des Unrechts durch die Nürnberger Prozesse war ein wichtiger Schritt auf dem langen und umstrittenen Weg zu Wiedergutmachung und Versöhnung. Dies galt für Zwangsarbeiter, Angehörige des Widerstands und Regimegegner ebenso wie für die Opfer des Völkermords, deren Leidensgeschichte keineswegs nach dem Zweiten Weltkrieg endete. Während der prominente Hauptkriegsverbrecherprozess dem nationalsozialistischen Völkermord und seinen Opfern nicht die Beachtung schenkte, die wir aus unserer heutigen Perspektive erwarten würden, fiel die öffentliche Wahrnehmung der in den Nachfolgeprozessen aufgedeckten Verbrechen und Strukturen der allgemeinen Verdrängungstendenz der frühen Nachkriegsjahre und den politischen Turbulenzen des Kalten Kriegs anheim. Die vorzeitigen Entlassungen der Häftlinge in den 1950er Jahren und ihre Reintegration in der jungen Bundesrepublik müssen auf die Überlebenden des NS-Terrors wie eine Ohrfeige gewirkt haben. Man kann bei den Nürnberger Verfahren in der Gesamtheit also keineswegs von einem Prozess für die Opfer sprechen.
Langfristig haben die Nürnberger Prozesse dennoch einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass das NS-Regime heute vorbehaltlos als Unrechtsstaat anerkannt ist – oder zumindest sein sollte. Mit ihrer akribischen Ermittlungsarbeit dokumentieren sie unbezweifelbar die nationalsozialistischen Verbrechen und können bis heute als Korrektiv dienen zu denjenigen, die die nationalsozialistische Vergangenheit lieber leugnen oder beschönigen, statt sich ihr zu stellen.
"Nürnberg" als Modell
Der Leitgedanke des Nürnberger Prozesses, der für die Schaffung neuer völkerrechtlicher Rechtsgrundsätze sowie den Durchbruch des modernen Völkerstrafrechts steht, richtete sich zwar zunächst gegen die Verbrechen des NS-Regimes, war aber zeitgleich schon als universales Konzept angelegt, wie die Eröffnungsrede des amerikanischen Chefanklägers Robert H. Jackson vor Augen führte: "Dieses Gesetz wird hier zwar zunächst auf deutsche Angreifer angewandt, es schließt aber ein und muss, wenn es von Nutzen sein soll, den Angriff jeder anderen Nation verdammen, nicht ausgenommen die, die jetzt hier zu Gericht sitzen."
Die herausragende Bedeutung Nürnbergs erkannten auch die Vereinten Nationen an, als sie 1946 die Völkerrechtskommission beauftragten, die Rechtsgrundsätze aus Anklage und Urteil des Hauptkriegsverbrecherprozesses zu kodifizieren und ihnen damit universelle Gültigkeit auch über die Verfolgung von nationalsozialistischen Verbrechen hinaus zu verleihen. Diese sieben "Nürnberger Prinzipien" sind seit ihrer Bestätigung durch die Vereinten Nationen 1950 fester Bestandteil des Völkerrechts. Die Idee einer weltumspannenden Strafgerichtsbarkeit, die in präventiver Wirkung die Wiederholung der Grauen des Zweiten Weltkriegs verhindern sollte, blieb auch in folgenden Jahren erhalten, wie beispielsweise vergleichende Studien zum Vietnamkrieg zeigen.
Seit dem Ende des Kalten Kriegs und der praktischen Wiederaufnahme völkerstrafrechtlicher Gerichtsbarkeit durch die Gründung der Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien (1993) und Ruanda (1994) hat sich nicht nur rechtlich und politisch viel getan, sondern es vollzieht sich auch in der Wahrnehmung der Nürnberger Prozesse ein deutlicher Wandel. Plötzlich sind die Verfahren kein singuläres historisches Ereignis mehr, sondern zu einem Modellprojekt geworden, dem quasi ex post die Rolle des – wenn auch nicht ganz detailgetreuen – Vorbilds zugeschrieben wird.
Wie die Gerichtshöfe für Jugoslawien und Ruanda war der Alliierte Militärgerichtshof in Nürnberg ein Ad-hoc-Tribunal mit räumlich und zeitlich begrenzter Zuständigkeit. Erst der seit 2002 in Den Haag ansässige Internationale Strafgerichtshof (IStGH) löst die Forderung nach einer dauerhaften Rechtsinstanz ein. So verwundert es nicht, dass sich gerade dieses Gericht explizit auf den historischen Vorgänger in Nürnberg beruft. Das wurde eindrücklich unter Beweis gestellt, als der frühere Ankläger des Nürnberger Einsatzgruppenprozesses von 1947, Benjamin Ferencz, im August 2012 im Alter von 92 Jahren das Abschlussplädoyer der Anklage im Verfahren gegen den kongolesischen Milizenführer Thomas Lubanga Dyilo hielt. Über die juristische Relevanz dieses Vortrags mag man streiten, die davon ausgehende Symbolkraft hingegen ist enorm, insbesondere, da es sich im Fall Lubanga um das erste abgeschlossene Verfahren dieses "Weltstrafgerichtshofs" handelt.
Die Rede des ehemaligen Nürnberger Anklägers innerhalb eines laufenden Verfahrens des IStGH verdeutlicht die zunehmende Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart. Dabei scheinen von "Nürnberg" mittlerweile zwei Erinnerungslinien auszugehen. Während sich die eine in gewohnter Weise in einem historisch rückwärtsgewandten Sinne der Aufarbeitung nationalsozialistischen Unrechts widmet, wendet sich die zweite Linie ausschließlich in die Gegenwart bewaffneter Konflikte. Es macht also einen Unterschied, ob man "von Nürnberg nach Den Haag" schaut oder "von Den Haag nach Nürnberg". Im ersten Fall bildet die Dokumentation der Prozesse ein unverzichtbares Gedächtnis der begangenen NS-Verbrechen, im zweiten Fall hingegen geht es vorrangig um die Art und Weise, wie man diesen Verbrechen damals juristisch begegnete und zu welcher Anwendung diese Grundsätze heute gelangen. Dies zeigt einerseits, dass "Nürnberg" bis heute "wirkt" und die Zeiten der generellen Straflosigkeit von Menschenrechtsverbrechen der Vergangenheit angehören. Gleichzeitig wirft diese neue Fokussierung auf heutige Völkerstrafgerichtsbarkeit die – hier unbeantwortet bleibende – Frage auf, ob und inwieweit diese Perspektive zu einem Vergleich nationalsozialistischer und gegenwärtiger Menschheitsverbrechen führt und welche erinnerungskulturellen Konsequenzen sich daraus hinsichtlich des Umgangs mit der nationalsozialistischen Geschichte ergeben.
Unbestritten kann für die Nürnberger Prozesse gelten, dass die durch sie aufgeworfenen Fragen nach Sicherung des Friedens durch das Recht bis heute von brennender Aktualität sind und ihr Erbe die internationale Politik der Gegenwart vor große Herausforderungen stellt. Dies erkannte auch Willy Brandt, als er 1946 aus Nürnberg berichtete: "Die Charta des IMT erlegt den Staaten gewisse Verpflichtungen auf. Das ist weit wichtiger als alle Erzählungen darüber, wie Göring und Heß vor ihre Richter traten."