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Transitional Justice – das Beispiel Tunesien | Wiedergutmachung und Gerechtigkeit | bpb.de

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Transitional Justice – das Beispiel Tunesien

Sarah Mersch

/ 13 Minuten zu lesen

Knapp zweieinhalb Jahre nach dem Aufstand in Tunesien befindet sich das Land auf der Suche nach dem von Regierung und Zivilgesellschaft gleichermaßen beschworenen "tunesischen Weg" der Transitional Justice in einer Sackgasse. Nach ersten Ansätzen im unmittelbaren Anschluss an die Revolte ist die Debatte in der Öffentlichkeit inzwischen weitgehend verstummt, hinter den Kulissen wird sie immer stärker politisiert. Ein Gesetzesvorschlag, der einen möglichen Weg aufzeigt, wie Tunesien die Vergangenheit aufarbeiten könnte, liegt zur Abstimmung bereit, die Diskussion im Parlament lässt jedoch auf sich warten.

Unrecht aufarbeiten

Mit den Ereignissen des 14. Januars 2011, dem Tag der Flucht des Machthabers Zine El Abidine Ben Ali, gingen in Tunesien mehr als 50 Jahre autokratische Herrschaft zu Ende, in der – in unterschiedlichem Ausmaß – Unrecht begangen wurde. Seit der Unabhängigkeit von Frankreich am 20. März 1956 hatten die Tunesier nur zwei Präsidenten erlebt: Habib Bourguiba, Anwalt und "Vater der Unabhängigkeit", und Ben Ali, einen ehemaligen Mitarbeiter des Geheimdienstes, der sich in den 1980er Jahren über das Innenministerium bis zum Premierminister hochgedient hatte, bevor er am 7. November 1987 in einem unblutigen Staatsstreich Bourguiba wegen Altersschwäche absetzte.

Weite Teile der Bevölkerung wurden Opfer eines zunehmend diktatorischen Systems, das eine gespaltene Gesellschaft mit vielfältigen, komplexen Konfliktlinien um körperliche, seelische, aber auch wirtschaftliche Verbrechen hinterlassen hat. Seit der Unabhängigkeit entwickelte sich in dem Staat mit zehn Millionen Einwohnern graduell ein repressives Regime. Die Unterdrückung traf dabei unterschiedliche Gruppen, von den sogenannten Youssefisten (den Anhängern von Bourguibas ehemaligem Weggefährten und späteren Widersacher Salah Ben Youssef) über Gewerkschafter und Kommunisten bis hin zu Islamisten – unter der Herrschaft Ben Alis die größte Opfergruppe. Hinzu kommen die unmittelbaren Opfer des Umsturzes ebenso wie die des Aufstands im Bergbaurevier um Redeyef 2008, einem Vorboten der Ereignisse des Jahreswechsels 2010/2011. Unter beiden Präsidenten waren Isolationshaft und Folter von politischen Gefangenen an der Tagesordnung. Während jedoch unter Bourguiba die Unterdrückung meistens "nur" gezielt die "Missetäter" betraf, litt unter Ben Ali auch deren Umfeld unter Repressalien. Familie und Freunde wurden eingeschüchtert, entlassen, der Pass entzogen oder das Studium verweigert, Firmen und Grundstücke enteignet. Außerdem wurden ganze Landstriche fast völlig von der wirtschaftlichen Entwicklung abgeschnitten.

Dieser vielschichtigen, mehr als 50 Jahre währenden Unterdrückungsgeschichte gerecht zu werden und sie zumindest teilweise aufzuarbeiten, stellt die tunesische Gesellschaft und Politik vor große Herausforderungen. Die verschiedenen Opfergruppen machen sich gegenseitig das Recht streitig, als Leidtragende anerkannt zu werden, politische Querelen der Gegenwart spalten die Opfer der Vergangenheit. "Die Zivilgesellschaft ist so zersplittert, dass sie sich nicht auf eine Vision der Vergangenheit einigen kann. Das wird den Prozess der Transitional Justice erschweren", fürchtet Kora Andrieu vom Büro des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte in Tunis. Die Versöhnung der Gesellschaft und die Wiedergutmachung geschehenen Unrechts sind jedoch in den Augen der meisten Tunesier unumgänglich, um zu garantieren, dass die fragile, schleppend verlaufende demokratische Transition gelingt. Doch mehr als zwei Jahre nach dem Umsturz sind in den staatlichen Institutionen, insbesondere im Sicherheitsbereich und in der Justiz, zwar die führenden Köpfe verschwunden, der Mittelbau ist aber weitgehend unangetastet geblieben. Auch das Schicksal der Archive des Geheimdiensts und der politischen Polizei ist ungewiss, die Verurteilung der Täter bis jetzt eine Ausnahme.

Dass die verschiedenen Initiativen zur Wiedergutmachung bisher wenig greifbare Resultate hervorgebracht haben, hat verschiedene Gründe. Der Umsturz in Tunesien kam nicht nur für die Machthaber, sondern auch für Opposition und Zivilgesellschaft überraschend. Zeit, Konzepte für die Zeit nach Ben Ali zu entwickeln, blieb dabei nicht. Zwischen dem 14. Januar und den Wahlen am 23. Oktober 2011 erlebte Tunesien verschiedene Interimsregierungen, Instanzen, die anhand der außer Kraft gesetzten Verfassung und ohne Parlament per Notverordnungen regierten. Damit einher ging ein – von diesen Instanzen auch anerkannter – Mangel an Legitimität, der es erschwerte, langfristige Projekte anzugehen, und der gleichzeitig die Regierung unter Druck setzte, auf Forderungen der Opposition und der Straße einzugehen, ohne dass dabei eine klare Strategie zu erkennen gewesen wäre. Nach den Wahlen gewannen die politischen Auseinandersetzungen um Aufarbeitung und Wiedergutmachung die Überhand.

Nach der Revolte – vor den Wahlen

Der Prozess der Transitional Justice lässt sich in Tunesien in zwei Etappen unterteilen: in die Zeit vor den Wahlen und die danach. Im unmittelbaren Anschluss an den Umbruch, in einer Zeit, in der mehrere Umbildungen der Interimsregierung stattfanden, unternahm diese verschiedene und nicht immer koordinierte Anstrengungen, in der Revolutionsphase, aber auch danach begangenes Unrecht wiedergutzumachen.

Am 18. Februar 2011 setzte die erste Übergangsregierung zwei Untersuchungskommissionen ein: eine vom inzwischen verstorbenen Juraprofessor Abdelfatah Amor geleitete Nationale Kommission zur Untersuchung der Korruption und Veruntreuung und die Nationale Kommission zur Untersuchung der Übergriffe und Gewalttaten im Zeitraum vom 17. Dezember 2010 bis zum Ende ihres Mandats unter Leitung des Anwalts Taoufik Bouderbelas. Außerdem wurden zwei Komitees eingesetzt, die mit der Konfiszierung der Güter der gestürzten Präsidentenfamilie und mit der Wiederbeschaffung ihrer im Ausland gelagerten Vermögen betraut wurden. Die Korruptionskommission stellte in einem umfangreichen Bericht im Herbst 2011 die Ergebnisse ihrer Arbeit vor und leitete zahlreiche Verfahren vor Zivilgerichten gegen den ehemaligen Machthaber und sein Umfeld ein.

Die Kommission zur Untersuchung der Verbrechen während der Revolutionszeit erarbeitete eine Liste von 338 Toten und 2174 Verletzten, hatte jedoch keinerlei rechtliche Handhabe gegen die mutmaßlichen Täter. Dennoch erhoben Opfer oder ihre Familien Klage, so dass einigen mutmaßlichen Tätern vor Militärgerichten der Prozess gemacht wurde. Den Verletzten und den Familien der Opfer des unmittelbaren Revolutionszeitraums wurden Reparationen von 9.000 beziehungsweise 20.000 Dinar (etwa 4.500 und 10.000 Euro) gezahlt. Mehrere Familien lehnten die Entschädigungen ab, um deutlich zu machen, dass es ihnen nicht primär um finanzielle Leistungen geht, sondern darum, dass den Tätern der Prozess gemacht wird. Nach dem 14. Januar 2011 wurden außerdem Tausende politische Gefangene aus der Haft entlassen, ohne dass ihre Urteile überprüft wurden. Die Generalamnestie garantiert ihnen die Wiedereingliederung in ihre ehemaligen Berufe und Reparationszahlungen – die wenigsten konnten bis jetzt allerdings von diesen Maßnahmen profitieren.

Neben diesen ersten Maßnahmen zur Unterstützung der Opfer leitete die Regierung auch rechtliche Schritte gegen die ehemaligen Machthaber ein. Am 9. März 2011 wurde die ehemalige Regierungspartei RCD (Rassemblement Constitutionnel Démocratique) aufgelöst, ihre Kader wurden aus dem politischen Leben de facto ausgeschlossen: Zu den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung am 23. Oktober 2011 durften sie nicht antreten, außerdem wurde Bürgern, die seit Beginn der Unabhängigkeit des Landes politische Ämter innehatten, Kader der RCD waren oder die Kandidatur Ben Alis für die Wahlen 2014 unterstützt hatten, die Kandidatur zu öffentlichen Institutionen wie beispielsweise der Wahlbehörde untersagt. Die Regierungskoalition hat außerdem einen umstrittenen Gesetzesvorschlag eingereicht, der den Ausschluss der Mitglieder der RCD vom politischen Leben langfristig regeln soll.

Gegen die Präsidentenfamilie und ihr Umfeld wurden unmittelbar im Anschluss an die Revolution unzählige Verfahren angestrengt, in deren Verlauf Zine El Abidine Ben Ali in Abwesenheit zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Diese Prozesse wurden von der tunesischen Öffentlichkeit als vorschnell kritisiert. Ohne eine klare Strategie oder Rechtsgrundlage würden hier Schauprozesse inszeniert, um die öffentliche Meinung zu beruhigen, so der Vorwurf der Bürger.

Trotz der ersten Schritte der neuen Übergangsregierungen bleibt die Reform des Sicherheitsapparats und der Justiz eine der größten und dringendsten Herausforderungen Tunesiens auf dem Weg zur Demokratie. Das Innenministerium, das beinahe eine Art Staat im Staat darstellt und weitgehend unabhängig und ebenso undurchsichtig operiert, funktioniert nach wie vor ähnlich wie vor dem 14. Januar 2011. Zwar haben verschiedene Innenminister jeglicher politischer Couleur zaghaft versucht, dort aufzuräumen, sie sind jedoch alle auf starke Widerstände in der eigenen Institution gestoßen.

Nach den Wahlen

Nur wenige Monate nach dem Sturz Ben Alis wählten die Tunesier am 23. Oktober 2011 eine Verfassungsgebende Versammlung – es waren die ersten freien Wahlen in der Geschichte der Republik. Die Versammlung entschied sich zur Schaffung eines Ministeriums für Menschenrechte und Transitional Justice – ein weltweit einmaliger Schritt.

Das Gesetz zur Provisorischen Organisation der Öffentlichen Gewalten (OPPP), rechtliche Basis der Arbeit der Verfassungsgebenden Versammlung, sieht die Verabschiedung eines Gesetzes zur Transitional Justice vor, jedoch definieren weder das OPPP noch das Gesetz zur Schaffung des Ministeriums, was unter dem Begriff zu verstehen ist. Ein Jahr nach Amtsantritt hat das Ministerium zwar am 1. November 2012 einen Gesetzentwurf vorgelegt, der unter starker Einbeziehung der Zivilgesellschaft entstanden ist. Aus der Öffentlichkeit ist das Thema jedoch so gut wie verschwunden, einerseits aus Mangel an konkreten Projekten, andererseits, weil es nicht gelungen ist, der Bevölkerung zu vermitteln, was das Konzept Transitional Justice bedeutet und welchen Einfluss es auf ihre Lebenswirklichkeit hat. Das Thema ist eine Fingerübung für eine intellektuelle Elite geworden, das hinter verschlossenen Türen diskutiert wird. Ein TV-Spot, der mit Unterstützung des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) produziert wurde, um den Bürgern das Konzept nahezubringen, blieb ohne größere Wirkung und konkrete nachfolgende Aktionen.

Als die Regierungspartei Ennahda 2012 vorschlug, ein Gesetz zur Entschädigung politischer Gefangener zu verabschieden, führte dies zu heftigen Protesten. Viele prominente Opfer auf Seiten der heutigen Opposition erklärten, kein Interesse an finanziellen Entschädigungen zu haben. "Wie viel kostet das Kilo Widerstand?", fragten viele zynisch, die den Eindruck hatten, dass die Mitglieder von Ennahda, die unbestritten die größte Opfergruppe der jüngsten Vergangenheit stellen, sich mit diesem Gesetz vor allem in die eigene Tasche wirtschaften wollen. Das Gesetz wurde dennoch im Dezember 2012 verabschiedet. Um erneute Diskussionen zu vermeiden, wurden die Reparationen jedoch nicht ausgezahlt. Die Episode macht deutlich, wie stark politische Querelen unter den Opfern, unter Regierenden und der Opposition in der Diskussion und Definition von Transitional Justice eine Rolle spielen.

Gesetzentwurf zur Transitional Justice

Bei der Erarbeitung des Gesetzes wurden verschiedene Organisationen der Zivilgesellschaft einbezogen; nur zwei der zwölf Mitglieder der Technischen Kommission waren Mitarbeiter des Ministeriums, neben Juristen waren auch Historiker, Lehrer und Psychologen vertreten. In regionalen Konsultationen wurden im Herbst 2012 mehr als 1800 Opfer aus der Zeit seit der Unabhängigkeit befragt, um zu eruieren, welche Erwartungen diese an einen Wiedergutmachungsprozess haben. Viele der gezielt geladenen Opfer haben dies bereits als eine erste Anhörung der Betroffenen aufgefasst, so Kommissionsmitglied Khaled Kchir, der von einem großen Bedürfnis der Opfer berichtet, von ihrem Schicksal zu erzählen. Eine Umfrage unter den Gehörten zeigt, dass 37 Prozent die (juristische) Anerkennung als Opfer, 29 Prozent finanzielle Wiedergutmachung und 28 Prozent nur ein Schuldeingeständnis der Täter fordern.

Artikel 1 des Gesetzesvorschlags definiert Transitional Justice als "kohärenten Prozess von Mechanismen und Methoden, um vergangene Menschenrechtsverletzungen zu verstehen und mit ihnen umzugehen, indem Wahrheiten offengelegt und die Täter zur Verantwortung gezogen, die Opfer entschädigt und rehabilitiert werden, mit dem Ziel, nationale Versöhnung zu erlangen, bei der die kollektive Erinnerung bewahrt und dokumentiert wird, die Nicht-Wiederholung der Verletzungen garantiert wird und ein Wandel vollzogen wird von einem autoritären zu einem demokratischen Staat, der dazu beiträgt, das Menschenrechtssystem zu konsolidieren".

Dreh- und Angelpunkt des Gesetzesvorschlags ist die Einrichtung einer "Kommission der Wahrheit und Würde", bestehend aus 15 unabhängigen Mitgliedern, die über vier Jahre (mit der Möglichkeit auf eine einmalige Verlängerung um ein Jahr) mit weitreichenden Befugnissen arbeiten soll. Vorgesehen ist ein Fonds für Reparationszahlungen. Außerdem sollen speziell ausgebildete Richter sich nur mit den Klagen der Opfer befassen, und eine Art Schiedsgericht soll die Möglichkeit bieten, dass ein Schuldeingeständnis der Täter zu Straferlass führt. Eine tunesische Besonderheit ist, dass ganze Regionen als Opfer anerkannt werden können und so zum Beispiel von zusätzlichen Mitteln der Entwicklungshilfe profitieren könnten – eine klare Referenz an die regionale Schieflage des Landes, die wesentlich zum Umsturz beigetragen hat.

Herausforderungen und Kritik

Obwohl der Gesetzesvorschlag von den meisten politischen Gruppierungen und Organisationen der tunesischen Zivilgesellschaft weitestgehend positiv gesehen wird, zieht sich die Diskussion und Adaption durch die Verfassungsgebende Versammlung in die Länge, sehr zum Missfallen des zuständigen Ministeriums.

Die Gesetzestexte wurden durch verschiedene Ministerien modifiziert. Es handele sich um geringe Veränderungen, so Yassine Karamti, der Leiter des Planungs- und Programmbüros des Ministeriums für Menschenrechte und Transitional Justice. Kchir betont jedoch den an einigen Stellen fundamentalen Charakter der Änderungen, unter anderem im Hinblick auf den bei Sicherheitsbedenken eingeschränkten Zugang zu Archiven und auf die Datierung des Beginns des Zeitraums, in dem die Transitional Justice greifen soll. Laut dem aktuellen Entwurf wird der 20. März 1956, Tag der Unabhängigkeit des Landes, festgesetzt – im Gespräch waren verschiedene Daten, von Beginn der Kolonialzeit 1881 bis hin zum Staatsstreich 1987. Nadia Chaabane, Abgeordnete der Partei El Massar und Mitglied des Demokratischen Blocks in der Verfassungsgebenden Versammlung, fordert ein neutrales Datum als Beginn, nicht das symbolisch so wichtige Datum des Unabhängigkeitstages, das sie als "gemeinsames positives Symbol, das die Tunesier nur vereinen kann", bezeichnet. Der Gesetzesvorschlag assoziiere "die Unabhängigkeit unseres Landes mit Ungerechtigkeit und Rechtsverletzungen".

Die größte Herausforderung ist es jedoch, die Unabhängigkeit des Transitional-Justice-Prozesses zu bewahren und seine zunehmende Politisierung einzuschränken – hierbei spielen vor allem die Zusammensetzung der Kommission für Wahrheit und Würde, ihre Finanzierung und der Justizapparat entscheidende Rollen. Vorgesehen ist, dass die Verfassungsgebende Versammlung 15 kompetente und politisch unabhängige Kommissionsmitglieder mit Zweidrittelmehrheit wählt – angesichts der aktuellen politischen Querelen scheint es aber kaum möglich, Konsenskandidaten zu finden. Die Kommission soll neben staatlichen auch private Gelder akzeptieren dürfen, um ihre Arbeit und den Entschädigungsfonds (dessen Finanzierung im Gesetzesvorschlag offen gelassen wird) zu bestreiten. Dies kann politischer Einflussnahme Tür und Tor öffnen, fürchtet Kora Andrieu. Auch Nadia Chaabane befürchtet, dass die Transitional Justice "von den Spannungen beeinflusst wird, die die gegenwärtige politische Landschaft bestimmen, um am Ende auf eine Abrechnung zwischen politischen Gegnern hinauszulaufen".

Bedenken ruft auch die nicht geregelte Auswahl der Richter hervor. Die Reform der Justiz in Tunesien steckt selbst noch in ihren Anfängen, so dass unter den Richtern nach wie vor viele Anhänger der Regierung Ben Ali zu finden sind, die der verlängerte Arm der Exekutive waren – ob diese Personen die richtigen sind, um über die Verbrechen der Vergangenheit zu urteilen, ist fraglich. "Man muss garantieren, dass Tunesien sich ein unabhängiges Justizsystem schafft (…), das nicht nur in der Lage ist, die Vergangenheit mit der nötigen Objektivität anzugehen, sondern auch garantieren kann, dass sich der Machtmissbrauch in Zukunft nicht wiederholen wird", meint Chaabane.

Ein Gesetzesvorschlag unter vielen

Während das Gesetz zur Transitional Justice zur Abstimmung bereit liegt, hat inzwischen die Regierungskoalition einen weiteren Vorschlag eingebracht, der den Ausschluss ehemaliger Mitglieder der RCD aus dem politischen Leben vorsieht – ein klarer Versuch, die Partei Nida’ Tounes um den ehemaligen Premierminister Bei Caid Essebsi zu schwächen. Nida’ Tounes ist der schärfste Konkurrent der (in Hinsicht auf den Gesetzesvorschlag gespaltenen) Ennahda-Partei und beruft sich auf das Erbe Bourguibas, ohne sich jedoch mit der RCD Ben Alis zu assoziieren. Eine kollektive Verurteilung "droht, Unschuldige zu verurteilen, und die Gesellschaft zu spalten. Jedes Gesetz, das den kollektiven Ausschluss vorsieht (…), ist inkompatibel mit dem Ziel einer Transitional Justice", so Nadia Chaabane. Kora Andrieu fürchtet, dass das Gesetz, sollte es eher in Kraft treten, das eigentliche Gesetz zur Transitional Justice inhaltslos beziehungsweise überflüssig machen könnte: "Das ist ein sehr gefährliches und problematisches Gesetzesvorhaben, das nichts mit Transitional Justice zu tun hat, sondern Teil eines Wahlprogramms ist."

Je länger jedoch verschiedene Initiativen und Gesetze parallel laufen und eine Entscheidung über den Gesetzesvorschlag auf sich warten lässt, "desto schwieriger wird es, diese später zu integrieren und einen kohärenten Ansatz zu finden", fürchtet Khaled Kchir. Unterdessen haben sich an der Kasbah von Tunis, dem Regierungssitz am Rande der Altstadt, ehemalige politische Gefangene zu einem Sit-in versammelt. Seit Monaten sitzen die ehemaligen Häftlinge, die durch die Generalamnestie frei gekommen sind, dort, fordern Entschädigungszahlungen, die ihnen zwar rechtlich zustehen, aber nie ausgezahlt wurden. Sie greifen zu immer radikaleren Mitteln, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Nach einem Hungerstreik versuchten Ende April 2013 mehrere Demonstranten, sich das Leben zu nehmen.

Inzwischen hat der Ministerrat den Gesetzesvorschlag, der die Höhe der Entschädigungen festsetzen soll, auf die Abstimmungsliste gesetzt, so dass die Situation der Demonstranten bald geklärt sein sollte. Wann und ob es zu einer Abstimmung über den eigentlichen Gesetzesvorschlag zur Transitional Justice kommt, ist aber nach wie vor offen. Denn zunächst steht in Tunesien die Diskussion des Verfassungsentwurfs an, die die nächsten Monate politisch dominieren wird. Sollte das Gesetz nicht vor den Wahlen verabschiedet werden, könnte es auf der Strecke bleiben. Denn ein Verfahren, wie mit alten Gesetzesvorschlägen umgegangen wird, nachdem die Verfassung in Kraft getreten ist, ist nicht vorgesehen. Vieles wird auch davon abhängen, wie die Wahlen ausgehen. Denn nicht alle politischen Kräfte Tunesiens haben Interesse daran, dass das Gesetz überhaupt angewandt wird. Im besten Fall wird es noch vor der Verfassung zu einer Entscheidung darüber kommen, ob Tunesien den angedachten Weg einschlagen wird. Im schlechtesten Fall wird der Gesetzesvorschlag in der Schublade verschwinden und das Land versuchen, den Weg zur Demokratie einzuschlagen, ohne die Verbrechen der Vergangenheit geordnet aufzuarbeiten. Die kommenden Monate werden in dieser Hinsicht entscheidend sein.

M.A., geb. 1981; Studium der Filmwissenschaft, Buchwissenschaft und Philosophie in Mainz und der arabischen Sprache in Tunis und Damaskus; seit 2010 freie Journalistin und Trainerin in Tunis/Tunesien. Externer Link: http://www.sarah-mersch.de