Sonderfall Europa – Skizze einer kleinen Geschichte der Arbeiterbewegung
Fragile Demokratie
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung konnte die SPD die meisten Stimmen erringen, aber nur zusammen mit dem katholischen Zentrum und der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) die Regierung übernehmen. In der ersten deutschen Demokratie wurde Friedrich Ebert zum Reichspräsidenten gewählt – das Amt sollte er bis 1925 innehaben, als er infolge der Verschiebung einer notwendigen Operation verstarb, da er sich in einem Hetzprozess gegen ihn verteidigen wollte.[13] Die Weimarer Republik stand von Beginn an unter starkem politischen Druck von rechts, da die Versailler Verträge als Demütigung wahrgenommen und die Einführung der Demokratie als Machwerk der Arbeiterbewegung beziehungsweise der Sozialdemokraten dargestellt wurden. Diese hätten Letzteres nur erreicht, weil sie der eigentlich siegreichen Reichswehr durch die Revolution den Todesstoß ("Dolchstoß-Legende") versetzt hätten.

Noch 1945 fanden sich alte und neue Mitglieder der SPD unter der Führung von Kurt Schumacher zusammen. Schumacher, lange Jahre Gefangener in Konzentrationslagern, sah nun die Stunde der Sozialdemokratie gekommen. Die SPD entschied sich für eine Integration ihrer Mitglieder in die Gesellschaft und gegen das bisherige Modell eines eigenen Vereinslebens. Auch die Gewerkschaften suchten den Weg der Reorganisation und schlossen sich in Branchen und Industriegewerkschaften zusammen. Durch eine politische Neutralitätserklärung versuchten sie die Spaltung der Arbeiterbewegung, wie sie in Weimar erfahren worden war, zu überwinden.[18]

Nach ersten schnellen Erfolgen und einer erfolgreichen Mitgestaltung des Grundgesetzes, etwa in Form der erfolgreichen Kampagne zur Durchsetzung des Gleichheitsgrundsatzes "Männer und Frauen sind gleichberechtigt", wurden sozialdemokratische Hoffnungen auf eine Regierungsführung mit den knappen Wahlen zum ersten deutschen Bundestag 1949 und der Wahl Konrad Adenauers zum Bundeskanzler enttäuscht. In den folgenden Jahren richtete die SPD nach der Vorgabe Schumachers ihre gesamte Politik am Primat der deutschen Vereinigung aus und erhielt damit im Kontext der europäischen Westintegration und der Wiederbewaffnung im Rahmen der entstehenden NATO einen Nimbus des Neinsagers. Dabei wirkte sie gerade in den ersten beiden Legislaturperioden aktiv an der Gesetzgebung mit; die Bundestagsfraktion konnte viele eigene, vor allem sozialpolitische Entwürfe durchbringen, wichtige Entscheidungen trug sie gemeinsam mit der CDU/CSU-Fraktion (wie etwa die Wiedergutmachungspolitik oder die Römischen Verträge).
Erst nach den Niederlagen gegen diese Vorhaben, der verlorenen Wahl 1957 und dem Scheitern mit der Kampagne "Kampf dem Atomtod" gegen die Atombewaffnung 1958 änderte die SPD unter innerpateilichem Druck ihren Kurs. Nach einer immensen Diskussion beschloss sie 1959 das Godesberger Programm, das zur Chiffre des Wandels der SPD von einer Klassen- und Arbeiterpartei zu einer Volkspartei gerann.[19] Mit dieser Öffnung gelang ihr der Ausweg aus dem im Rahmen des Kalten Krieges entstandenen Dilemma, sich immer gegen den Sozialismus der DDR abzusetzen und zugleich die eigene demokratische Version einer (sozialistischen) Zukunft zu betonen. Der Kurs führte zu steigenden Mitgliederzahlen und 1966 zu einer ersten Regierungsbeteiligung in der Großen Koalition 1966 bis 1969, in deren Verlauf sich die SPD profilieren und 1969 mit dem ehemaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin und Außenminister Willy Brandt eine Regierungsmehrheit mit der FDP erzielen konnte.[20]
Das herausragende Politikum dieser Jahre, die innenpolitisch durch große Reformstimmung und Zukunftszuversicht gekennzeichnet waren, bestand in der bereits in der Großen Koalition vorsichtig angegangenen Entspannungspolitik Willy Brandts. Mit dieser trieb er die Öffnung der Ostblockstaaten in Abkommen mit der Sowjetunion, Polen und vor allem der DDR voran, während zugleich die westeuropäische Integration vertieft wurde. Für diese gesamteuropäische Politik erhielt er 1971 den Friedensnobelpreis, doch zugleich polarisierte sie die seit 1968 stärker politisierte deutsche Gesellschaft in einem nicht gekannten Maße. Die politischen Auseinandersetzungen führten zu Neuwahlen, aus denen die SPD mit ihrem historisch besten Ergebnis von 45,8 Prozent der Wählerstimmen als Siegerin hervorging – bei der zeitgleich höchsten Wahlbeteiligung von 91,1 Prozent, die Westdeutschland je erreicht hatte.[21]
Zusammen mit einem Mitgliederzuwachs, der die SPD erneut auf eine Million Mitglieder anwachsen ließ, erfuhr die Sozialdemokratie einen weiteren Höhepunkt ihrer Entwicklungsgeschichte, wie sie ihn schon 1912 erlebt hatte – nur dass im Kaiserreich eine Beteiligung an der Macht durch die konservativ-monarchischen Kräfte ausgeschlossen worden war.
Der Erfolg der SPD und der Gewerkschaften in den 1970er Jahren ist durchaus in einer allgemeinen europäischen Tendenz zu deuten: In ganz Europa erfuhren alte und neue soziale Bewegungen großen Zulauf und Zustimmung von mehrheitlich akademischen Schichten und Personen aus dem öffentlichen Dienst. Dies war ein deutliches Zeichen für die Entproletarisierung der westeuropäischen Industriestaaten wie auch dem einhergehenden charakterlichen Wandel der bis dahin existierenden Arbeiterbewegung.[22]
Mit dem Ölpreisschock und der folgenden Krise, welche den Boom beendeten, schwand nicht nur die Zukunftsgewissheit der Gesellschaften in Europa, sondern auch die Zustimmung zu den Vorstellungen der westlichen Arbeiterbewegung, die auf einen Ausbau des Sozialstaats mithilfe eines fortschreitenden ökonomischen Wachstums gesetzt hatte. Seit dem Beginn der als Spirale von Krisen und kleineren Erholungsphasen wahrgenommenen Zeit ist das vormalige zukunftsgewisse Selbstverständnis der Arbeiterbewegung nicht nur aufgrund der De-Industrialisierung Europas geschwunden. Das Ende des Ost-West-Konflikts 1989 hatte den Kapitalismus als finalen Sieger erscheinen lassen. Die Auswirkungen der Globalisierung haben neue soziale Bewegungen entstehen lassen, die weltweit operieren und dies aufgrund neuer Kommunikationstechniken auf Grundlage des Internets auch können. Seit Ausbruch der aktuellen Krise 2008 wird jedoch eine neue Phase der Arbeiterbewegung sichtbar, die sich nicht mehr in Europa manifestiert, sondern in neuen Streikbewegungen und sozialen Konflikten, die von (organisierten Interessen) der Arbeitnehmerschaft ausgetragen werden. Ein neues Kapitel der Arbeiterbewegung scheint aufgeschlagen worden zu sein.[23]
Neue Perspektiven
Die Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung war seit ihrem Boom von mehreren Forschungskonjunkturen geprägt. Nach einer ersten Phase, die der grundsätzlichen Rekonstruktion der Parteien und der Entdeckung der Quellen gewidmet war, folgte eine Phase geschichtspolitischer Diskussionen über die programmatische Ausrichtung der Arbeiterbewegung. Daneben und im Anschluss daran dominierten bis in die 1980er Jahre hinein sozialgeschichtliche Darstellungen, die nun auch die Gewerkschaften stärker in den Blick nahmen. Darüber hinaus entstand eine Frauengeschichte, die sich auch Arbeiterinnen zuwandte.In den 1990er Jahren versiegte der breite Strom dieser Darstellungen und eine kulturgeschichtliche Fragestellung gewann an Präsenz, die auf sprachlich-diskursive Konstruktionen der Arbeiterschaft und -bewegung zielte. Nicht zuletzt die Diskussionen aus dem angelsächsischen Bereich zu den Kategorien von class, race und gender seit den 1980er Jahren haben den Blick auf die Arbeiter(bewegungs)geschichte stark gewandelt. Was den einen daraus hervorgehend als neue "Bindestrichgeschichte" erschien, war den anderen eine frische Perspektive auf Altbekanntes, das die Vorstellungen der Homogenität der Arbeiterbewegung als Fiktion aussehen ließ. Hinzugekommen ist die Perspektive des Kolonialismus, die sich mit der (erneuten) Erfahrung der Globalisierung den transnationalen Zusammenhängen und – damit verbunden – auch anderen Zeiträumen zuwendet.
Dabei löst sich die Geschichte der Arbeiterschaft und der Arbeit in einem globalen Zusammenhang aus den von Denkern und Wissenschaftlern wie Karl Marx oder auch Max Weber vorgezeichneten Schemata. Danach wird die Entwicklung des Kapitalismus als global herrschendes Macht- und Wirtschaftssystem ins 16. Jahrhundert datiert und der Begriff der Arbeitsbeziehungen zugunsten einer weitergehenden Definition im Sinne der direkten Beziehungen auf der Arbeit oder etwa zwischen Sklaven und Herren erweitert. Dass damit die Proteste und die interessenverbindenden Organisationen eine neue, nahezu uferlose Vorstellung von Arbeiterbewegung erhalten, wird zunächst billigend in Kauf genommen oder ignoriert.[24] Ganz gleich, wie diese Diskussion sich weiterentwickelt, ermöglicht sie neue Blicke auch auf die europäische Arbeiterbewegung.
Altbekannt Geglaubtes könnte neu entdeckt werden, befreit von den Schichten der Erwartungshaltungen früherer Historikergenerationen, etwa durch Ansätze der Popularisierungsforschung, durch Fragen, wie sich die Emanzipation durch Bildung als Mobilisierungsansatz durchsetzte oder wie die Vermittlung von Praktiken (auch transnational) funktionierte. Für beide Fragerichtungen gilt, dass dies über Jahrhunderte hinweg und auch über Kontinente gestreckt erforscht werden könnte.
Zugleich werden sozialgeschichtliche Aspekte im Sinne einer neuen Zusammentragung von Daten weltweit wieder wichtiger, da sie nicht nur einem neuen Bedürfnis nach "tatsächlichen" Realitäten entgegenkommen, sondern auch die Strukturen alter Kategorienbildungen transparent und damit in ihrer Historizität besser sicht- und erforschbar werden lassen könnten.[25] Durch den globalen Blick wird zumindest der Blick auf das freigelegt, was Arbeit eigentlich ist und wie sie historisch statistisch definiert und politisch-gesellschaftlich genutzt wurde.[26] Dabei zeigt sich unter Umständen, dass die Zielvorstellung der europäischen Arbeiterbewegung als Modell in anderen Zusammenhängen nicht so hilfreich ist; auf jeden Fall wird deutlich, dass das europäische Modell nicht schlicht übertragbar ist – weder auf den Begriff der Arbeit bezogen noch auf die Politik sozialstaatlicher Reformen.[27] Aber wie auch immer die Diskussion weitergeht, soviel ist sicher: Alte Gewissheiten über die Arbeiterbewegung müssen im Lichte anderer Kategorien und neuer Fragen überprüft werden – und dazu ist eine neue Geschichtsschreibung zur Arbeiterbewegung notwendig.