Vom Nutzen und Nachteil europäischer Geschichtsbilder
Welche Geschichten erzählt man sich von Europa? Mit dieser Frage setzen sich Bürgerinnen und Bürger, Politikerinnen und Politiker, Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler sowie Historikerinnen und Historiker an den Universitäten und in Geschichtswerkstätten immer wieder auseinander. Einer der vielleicht spannendsten Versuche kann gerade in Brüssel beobachtet werden, wo bis Ende 2015 ein "Haus der europäischen Geschichte" entstehen soll.[1] Dort, so versprechen uns seine Macher, soll eine Plattform entstehen "for exchange about European history and the history of the European Union".[2]Auch in diesem Artikel soll der Frage nachgegangen werden, ob und – wenn ja – wie ein Geschichtsbild gestaltet werden kann. Sollte man sich überhaupt um Geschichtsbilder bemühen, welche Schwierigkeiten verbinden sich mit ihnen? Kann für Europa vielleicht eines beschrieben werden, in dem die Geschichte eines sozialen Gesellschaftsmodells erzählt wird, so wie es Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments, beschrieben hat?[3] Und handelt es sich dabei wirklich um ein europäisches Geschichtsbild?
Neben solchen Fragen vernimmt man aber auch Äußerungen über ein Unbehagen an der Erinnerung – wie es jüngst die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann mit einem entsprechenden Buchtitel zum Ausdruck brachte.[4] Es ist ein Unbehagen, das sich vor allem aus der thematischen "Amalgamierung" von Geschichtswissenschaft, Erinnerung und Identität speist, wie sie seit gut dreißig Jahren verstärkt zu beobachten ist. Das bedeutet, dass zunehmend das zur "Geschichte" erklärt wird, was im Hier und Jetzt erinnert wird. Der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann hat dies vor einigen Jahren in seinem Buch über die "Entzifferung einer Gedächtnisspur" formuliert: "Für den Mnemohistoriker (Gedächtnishistoriker, Anm. d. Red.) liegt die Wahrheit einer Erinnerung weniger in ihrer Faktizität als in ihrer Aktualität."[5] Assmann schrieb dies übrigens nicht, um das Interesse an der Geschichte, "wie sie eigentlich gewesen" ist, aufzukündigen.[6] Doch steht seine Aussage für einen Trend, sich vornehmlich über das Erinnerte mit der Geschichte auseinanderzusetzen – meist über das soziale oder das kulturelle Gedächtnis.
Holocaust als gemeinsamer Bezugspunkt
Für die jüngere europäische Geschichte erfolgte dieser Zugang vornehmlich über die Erinnerung an den Holocaust. In dem erwähnten Geschichtshaus in Brüssel spielt dies ebenfalls eine wichtige Rolle: "The ‚break of civilisation‘ of the Shoah is the beginning and the nucleus of the European discourse of memory. For a long time, states were silent about their failings. In the meantime, the recognition of the Shoah as a singular crime against humanity has become the negative reference point of European self-consciousness."[7]Für diesen gemeinsamen Bezugspunkt hat sich in den vergangenen Jahren die Formulierung vom "Holocaust als negativer Gründungsmythos" etabliert. So lesen wir in Bezug auf die Anerkennung des Holocaust zum Beispiel beim britischen Historiker Tony Judt von einer "europäischen Eintrittskarte".[8] Und auch Andreas Wirsching, der Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, schreibt von einer solchen "Eintrittskarte, die erforderlich ist, um den europäischen Zug zu besteigen". Das soll heißen: "Der Wille und die Fähigkeit, vergangenes Unrecht zu identifizieren und aufzuarbeiten, werden damit zur zentralen europäischen Kulturtechnik."[9]
Eine solche Kulturtechnik beschrieb der Politikwissenschaftler Claus Leggewie bereits vor einigen Jahren, als er zwar die Formulierung eines "Schlachtfelds Europa" bemühte, gleichzeitig aber einen gemeinsamen europäischen Umgang mit dieser Geschichte vorschlug. Er betonte dabei den Zugang zu einer europäischen Erinnerung über das Verständnis einer im doppelten Sinne geteilten Geschichte.[10] "Geteilt", so Leggewie, "heißt nicht, dass wir uns in allen Bewertungen historischer Ereignisse einig sein werden. Es heißt aber, dass wir unsere Differenzen in der Wahrnehmung unserer Geschichte in einer zivilen und die andere Seite anerkennenden Weise besprechen".[11] Die Art und Weise, wie heute mit negativer Geschichte umgegangen wird, so lautet die dahinter stehende These, könne man als eine europäische beschreiben. Als Auslöser wird die Erfahrung eines gemeinsamen, alles Heroische am Nationalstaat beseitigenden Negativerlebnisses gesehen: der Zweite Weltkrieg, vor allem aber der Holocaust.
Aber können auch Geschichtsbilder formuliert und skizziert werden, die sich ein Stück weit von diesen Narrativen lösen und trotzdem nicht zu akademischen Gedankenspielen aus dem vielzitierten akademischen Elfenbeintürmchen verkümmern? Bevor ein solcher Versuch gewagt wird, soll im Folgenden auf die geschichtswissenschaftlichen Fallstricke und Probleme eingegangen werden, die damit einhergehen.