Trauerimperativ: Jugendliche und ihr Umgang mit dem Holocaust (-Denkmal)
Seit seiner Eröffnung am 10. Mai 2005 haben schätzungsweise 15 Millionen Menschen das Stelenfeld des Denkmals für die ermordeten Juden Europas und etwa 3,7 Millionen Besucherinnen und Besucher den darunter gelegenen Ort der Information aufgesucht.[1] Ein Großteil davon sind Schülerinnen und Schüler, die im Rahmen einer Exkursion oder Klassenreise zum Denkmal kommen. Was "sehen" beziehungsweise welche Erfahrungen machen die Jugendlichen an, in und mit dieser kulturellen Repräsentation; (wie) setzen sie sich am Beispiel des Denkmals mit dem Holocaust auseinander? Diese Fragen standen im Zentrum einer qualitativen Studie, deren zentrale Ergebnisse im Folgenden vorgestellt werden.Ausgewiesen als "die zentrale Holocaust-Gedenkstätte Deutschlands"[2] stellt das Denkmal zunächst einen Bruch mit der gesamten Tradition staatlichen Gedenkens dar: "Anders als staatliche oder staatlich geförderte, jeweils an sich selbst gerichtete Denkmäler von Opfernationen und -völkern wie Polen, Holland oder Israel sind solche in Deutschland notwendigerweise diejenigen des Verfolgers in Erinnerung an seine Opfer."[3] Der Kulturwissenschaftler Jan Assmann hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es für eine solche "Erweiterung des Bindungsgedächtnisses (…) in der Geschichte keine Vorbilder (gibt)".[4]
Während die Erinnerung an den Holocaust in Deutschland bisher mehrheitlich an die historischen Orte, insbesondere die KZ-Gedenkstätten, geknüpft war, hat man mit der Realisierung des überarbeiteten Entwurfs von Peter Eisenman ein Denkmal gebaut, das die Gräuel symbolisiert und abstrahiert. Mit ihrem "Mahnmal als Erfahrung"[5] haben Eisenman und der Bildhauer Richard Serra, der das Konzept des Stelenfeldes entscheidend mitprägte, "die erste Manifestation eines poststrukturalistischen Mahnmals"[6] geschaffen. In der Tradition der "Gegen- oder Antidenkmäler" stehend, ist es für seine "Gedenkfunktionen (…) völlig auf den Betrachter angewiesen", der allein "die Leerräume des Denkmals auffüllen"[7] kann. Einen ganz anderen Zugang eröffnet der Ort der Information, indem er auf die "Personalisierung und Individualisierung des mit der Ermordung der europäischen Juden verbundenen Schreckens"[8] setzt.
Jugendliche der "Vierten Generation"
Die Erinnerung an den Holocaust in Deutschland findet unter sich verändernden Gesichtspunkten in einer sich wandelnden, inzwischen "multikulturellen" Gesellschaft statt. Sie ist zum einen geprägt durch die Tatsache, dass ein "beachtlicher Teil der heute in Deutschland lebenden jungen Menschen (…) über Familien- und Kollektivgeschichten sowie über tradierte historisch-politische Erfahrungen (verfügt), die sich von den ‚deutschen‘ unterscheiden";[9] zum anderen befindet sich die Erinnerung an den Holocaust an einem kritischen Übergangspunkt. Im Zuge der Debatte um den Bau des Denkmals wies die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann darauf hin, dass wir es mit einer "Verschärfung des Gedächtnisproblems" zu tun haben: "Wir erleben gegenwärtig einen Generationswechsel, bei dem die lebendigen Erinnerungen an den Holocaust mit den Zeugen und Zeitgenossen aussterben. Unsere Kinder werden in einer Welt leben, die keinen lebendigen Kontakt zu den Ereignissen des nationalsozialistischen Massenmordes mehr hat."[10]Für die Schülerinnen und Schüler, die für diese Studie befragt wurden, trifft dies (im überwiegenden Fall) bereits zu. Sie sind Angehörige der "Vierten Generation"[11] und als solche zunehmend auf Medien angewiesen, mit denen der "Übergang aus dem kommunikativen Gedächtnis ins kulturelle Gedächtnis (…) gewährleistet"[12] werden soll. Der Bau des Holocaust-Denkmals ist damit auch ein Versuch, ein medial vermitteltes Gedächtnis zu etablieren, das heißt, die Erinnerung an den Holocaust über "kulturelle Formung"[13] an die nächste Generation weiterzugeben.
Der Frage, inwiefern das Denkmal seine Funktion als "Erinnerungsträger" erfüllt, wurde aus der Sicht der Jugendlichen nachgegangen. "You get, what you see" sagte Peter Eisenman wenige Tage vor der Eröffnung des Denkmals.[14] Was also "sehen" die befragten Schülerinnen und Schüler – Berliner Gymnasiasten und Hauptschüler sowie Auszubildende im Alter zwischen 14 und 24? In der Untersuchung ging es nicht im engeren Sinne um die Wirkung von Denkmälern und Kunstwerken, sondern darum, das Denkmal als Auslöser zu nehmen, um etwas über den Umgang mit dem Thema Holocaust zu erfahren. Hierbei stellte dessen Besuch einen "Grundreiz"[15] dar, bei dem eine konkrete, vor Kurzem erlebte Situation einem allgemeinen Reden über den Holocaust vorgezogen werden sollte.
Für die Studie wurden 24 Gruppendiskussionen mit zwei beziehungsweise drei bis sieben Teilnehmerinnen und Teilnehmern geführt. Die Jugendlichen erhielten im Anschluss an eine schulische Exkursion zum Denkmal die Gelegenheit, sich über ihre nicht nur dort, sondern auch an anderen Gedenkorten gesammelten Erfahrungen auszutauschen. Der Erzählstimulus der Gruppendiskussionen wurde etwa folgendermaßen formuliert: "Ihr wart ja gerade beim Holocaust-Denkmal. Ich würde Euch bitten, mir zu erzählen, wie Ihr den Besuch dort erlebt habt. Wie ging es Euch, was habt Ihr gesehen, was habt Ihr gemacht, als ihr durchgelaufen seid?" Die Gruppendiskussionen wurden mit der dokumentarischen Methode der Interpretation ausgewertet.[16] Ziel dieser Methode ist die Rekonstruktion impliziten Erfahrungswissens, das der Handlungspraxis zugrunde liegt.
Trauerimperativ
Die empirische Analyse der Gruppendiskussionen ergab eine gemeinsame Orientierung, die sich als durchgehendes Muster erwies: Alle Gruppen nehmen (reflektiert oder unreflektiert) den Anspruch wahr, Gefühle der Trauer, der Betroffenheit (und teilweise Schuld) mit dem Thema zu verbinden, wie etwa die folgenden Zitate zeigen:[17]"Und dann, als wir nach Auschwitz gekommen sind, dachte ich die ganze Zeit, du müsstest an diesem Ort irgendwie trauriger sein, als du’s bist irgendwie." (Michael)
"Ich hab’ letztens ‚Schindlers Liste‘ geseh’n, dann bin ich rausgegangen hinterher (…) und hab’ gedacht, müsstest du jetzt nicht irgendwie erschreckt sein oder traurig sein oder irgendwelche Anteilnahme empfinden? (…) Es wird einem irgendwann denn unangenehm; weil man denkt, es sollte einen eigentlich erschrecken; aber es tut’s nicht mehr." (Hannes)
Für die beiden vorgestellten männlichen Jugendlichen stimmen Sein und Sollen nicht (mehr) überein. Angesichts der Auseinandersetzung mit dem Holocaust "müsste(n)" beziehungsweise "sollte(n)" sie "trauriger" sein, "Anteilnahme empfinden", "erschreckt sein". Es ist ihnen "unangenehm", dass sich diese Empfindungen bei ihnen nicht (mehr) einstellen. Mit keinem anderen geschichtlichen Thema vergleichbar, sehen sich die Jugendlichen mit dem Erwartungshorizont, Gefühle der Trauer mit dem Thema zu verbinden, konfrontiert. "Auschwitz" – so Jan Assmann – "hat längst die Dimensionen einer ‚normativen Vergangenheit‘ angenommen, die unter keinen Umständen in Vergessenheit geraten kann und darf"[18] – und, könnte man hinzufügen, vor deren Hintergrund sich die Jugendlichen zu Gefühlen der Trauer und der Anteilnahme aufgefordert sehen. Dieser normative Anspruch ist Teil des kollektiven Bindungsgedächtnisses (das auch als politisches oder nationales Gedächtnis bezeichnet wird). Es ist – im Gegensatz zum naturwüchsigen kommunikativen Gedächtnis – die Gedächtnisform, in die eine Gesellschaft sich mit ihren Normen und Werten einschreibt und auf die sie ihre Mitglieder verpflichtet.[19]