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22. November 1963: Ein Tag, der die Welt veränderte? - Essay | Attentate | bpb.de

Attentate Editorial Attentate in der Weltgeschichte: Was haben sie bewirkt? Entweder/Oder: Ein Nachspiel zur Opferung von Jitzchak Rabin 22. November 1963: Ein Tag, der die Welt veränderte? 28. Juni 1914: Beginn des Ersten Weltkrieges? Macht der Bilder – Attentate als Medienereignis "Zwitterhafte Wesen … aus der Hölle gespien" oder: Wer sind Attentäter(innen)?

22. November 1963: Ein Tag, der die Welt veränderte? - Essay

Alan Posener

/ 19 Minuten zu lesen

Im Bewusstsein der meisten Amerikaner gehört der Mord an John F. Kennedy zu den drei schlimmsten Tragödien ihrer neuesten Geschichte, neben dem Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 und dem Angriff auf New York und Washington am 11. September 2001. Doch während die welthistorischen Folgen von Pearl Harbor und "9/11" offensichtlich sind, sind sie beim 22. November 1963 keineswegs so klar. Der japanische Überfall zog die USA in den Zweiten Weltkrieg hinein und besiegelte die Niederlage der Achsenmächte. Der Überfall al-Qaidas zog die USA in einen "Krieg gegen Terror", der noch andauert und dessen Folgen noch nicht abzusehen sind. Hat der Mord an JFK eine Bedeutung jenseits der persönlichen Tragödie und der wuchernden Verschwörungstheorien?

Sarajevo 1914 – Dallas 1963

Dass ein politisches Attentat überhaupt welthistorische Auswirkungen haben könnte, wird von vielen Historikern grundsätzlich in Frage gestellt. Entscheidend seien ja nicht Personen, sondern objektiv wirkende Kräfte: Nationen und ihre Interessen etwa, Machtblöcke, Bündniskonstellationen und historische Trends. So weiß zwar jeder historisch interessierte Mensch, dass der Erste Weltkrieg seinen Ausgang nahm mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo am 28. Juni 1914. Aber relativ wenige Menschen wüssten auf Anhieb zu sagen, von wem Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie Chotek getötet wurden und warum, und wieso dieses Attentat zu jener "Urkatastrophe" führen konnte, bei der 20 Millionen Menschen starben, drei Reiche untergingen und die Grundlagen gelegt wurden für die weiteren Katastrophen Europas im 20. Jahrhundert. Generationen von Historikern hat die Schuldfrage bewegt; die Schüsse von Sarajevo schienen wie der zufällige Auslöser jener Katastrophe, die auch ohne diesen Anlass früher oder später Europa verschlingen musste. Erst jetzt hat der Historiker Christopher Clark die Aufmerksamkeit wieder auf die Verschwörer, die Vorgeschichte und Umstände des Attentats gelenkt; seinen eigenen Blick hat, wie er selbst schreibt, die weltgeschichtliche Wirkung der Verschwörer von "9/11" geschärft.

Dass der Mord an John F. Kennedy eine ähnliche Wirkung haben könnte wie das Attentat von Sarajevo, ja, sogar eine schlimmere, stand Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson freilich klar vor Augen. Der kurz nach dem Attentat festgenommene und zwei Tage später seinerseits ermordete Täter Lee Harvey Oswald war 1959 in die Sowjetunion ausgewandert und erst 1962 in die USA zurückgekehrt, wo er eine pro-kubanische politische Tätigkeit entfaltet hatte. War er während seiner Zeit in Moskau und Minsk vom sowjetischen Geheimdienst "umgedreht" worden? War er ein "Schläfer", der nur auf das Signal zum Losschlagen wartete? War die Ermordung Kennedys die Rache für die Demütigung des russischen Führers Nikita Chruschtschow bei der Raketenkrise um Kuba 1962? Oder hatten die Kubaner Oswald rekrutiert? War das Attentat von Dallas die Antwort auf die Landung CIA-geführter Exilkubaner in der Schweinebucht 1961, mit deren Hilfe Kennedy Kubas Máximo Líder Fidel Castro stürzen wollte? Oder war es eine Reaktion auf den seitdem von der CIA unter Führung Robert Kennedys betriebenen "schmutzigen Krieg" gegen Kuba, einschließlich Attentatsversuche gegen Castro?

Wenn es auch nur einen starken Verdacht in diese Richtung gab, musste Johnson handeln. Stand die Sowjetunion hinter dem Mord, musste es zum Krieg kommen. Waren es die Kubaner, war eine Invasion der Insel zum regime change und zur Bestrafung der Schuldigen unausweichlich. Castros sowjetische Verbündete wiederum würden kaum untätig zusehen können, wie ihr karibischer Klient von den Yanquis abserviert wird, ohne innerhalb des kommunistischen Blocks einen totalen Gesichts- und Autoritätsverlust zu erleiden. Auch unter diesen Umständen also würde es höchstwahrscheinlich zum Krieg zwischen den Supermächten kommen.

Und was der bedeutete, hatte Kennedy anlässlich der Berlin-Krise von 1961, die durch den Mauerbau beendet wurde, ausrechnen lassen: Der von den Militärs schon unter der Vorgängerregierung aufgestellte Plan "SIOP 62" sah vor, 3432 Atombomben gegen "militärische und städtisch-industrielle Ziele" in der Sowjetunion einzusetzen. Nach dieser Planung würden 54 Prozent der sowjetischen Bevölkerung innerhalb der ersten 72 Stunden getötet werden: 100 Millionen Menschen. Die Militärs rechneten mit sowjetischen Gegenschlägen, die zwischen fünf und zehn Millionen Amerikaner töten würden. In diese Berechnungen waren die unzähligen Verwundeten gar nicht erst eingegangen, von den Toten durch atomare Kampfhandlungen in Mittel- und Westeuropa, den Folgen der enormen Mengen freigesetzter Radioaktivität und des Zusammenbruchs von Landwirtschaft, Industrie, Handel und Verkehr ganz zu schweigen. Der "atomare Holocaust", wie er damals genannt wurde, hätte mit Sicherheit das Ende der europäischen Zivilisation, vielleicht sogar der Menschheit bedeutet. Mit anderen Worten: Hätte der Mord an John F. Kennedy eine dem Attentat an Franz Ferdinand vergleichbare welthistorische Bedeutung gehabt, wären wir heute vermutlich nicht da, um darüber zu spekulieren.

John F. Kennedy als popkulturelle Ikone

Stattdessen umweht John F. Kennedy fünfzig Jahre nach seinem Tod die fast schon unwirkliche Aura der jung verstorbenen Stars seiner Epoche: James Dean, Marilyn Monroe, Buddy Holly. Kennedy und seine Frau Jacqueline – "Jack und Jackie" – sind längst der Tagespolitik, ja auch der Historie entrückt und zu Stilikonen geworden. Dazu gehört, so zynisch es klingt, der frühe Tod. James Dean wird nie altern. Hätte Elvis Presley ein ähnlich früher Tod ereilt, wäre er nie zur Karikatur seiner selbst geworden. Jack Kennedy bleibt der strahlende Held, der an jenem sonnigen Herbsttag in Dallas aus dem Hinterhalt ermordet wurde. Er bleibt die Verkörperung der Frage: "Was wäre gewesen, wenn?"

Die Aura des Unwirklichen wird dadurch verstärkt, dass die Umstände, die Kennedys Weltsicht und Politik formten, heute wie fernste Vergangenheit wirken. In gewisser Weise ist uns der Erste Weltkrieg gegenwärtiger als der Kalte Krieg, der in Kennedys Amtszeit mit dem Bau der Mauer in Berlin und der Raketenkrise um Kuba seine extremsten Zuspitzungen erreichte. Dass der Kalte Krieg glücklich mit einem Sieg des Westens endete, ohne dass ein Schuss gefeuert wurde, dass sich der Spuk des Kommunismus fast über Nacht in nichts auflöste, lässt die ganze Epoche im Nachhinein – zumindest im Westen – wie einen bösen Traum wirken. Jene Jahre der ständigen Angst und gelegentlichen Hysterie im Schatten atomarer Vernichtung erscheinen selbst den Menschen, die sie durchlebten, kaum noch wirklich. Wer heute eine Biografie Kennedys schreiben will, bemerkt, dass er Begriffe erst erklären muss, die noch vor 25 Jahren jedem Leser geläufig waren: Sowjetunion, KPdSU, Warschauer Pakt, Osten und Westen, atomarer Wettlauf, deutsche Teilung.

Auch die Gesellschaften des Westens haben sich verändert. Zwischen Kennedy und uns liegt die soziale und kulturelle Revolution der 1960er Jahre. Das Apartheidsystem, das zu Kennedys Lebzeiten die Südstaaten der USA prägte, ist ebenso überwunden wie der europäische Kolonialismus. (Als Kennedy gewählt wurde, war etwa Algerien noch – als französisches Departement – Teil der EWG, der Vorläuferorganisation der Europäischen Union!) Europa ist multikulturell geworden; der Präsident der USA ist ein Afroamerikaner. Nicht einmal Martin Luther King hat es gewagt, davon zu träumen.

JFK: Der "am meisten überschätzte" Präsident?

Wie viel John F. Kennedy zum Erfolg und zur Reform der kapitalistischen Demokratie beigetragen hat, bleibt umstritten. Noch vor Ende des Kalten Krieges erklärten Historiker und Journalisten in einer Umfrage Kennedy zur "am meisten überschätzten Gestalt der amerikanischen Geschichte". Seine Präsidentschaft dauerte kaum mehr als tausend Tage. In den Medien tauchen immer wieder Enthüllungen über seine Affären auf. Die Freigabe seiner Krankenakten offenbart einen Mann, der die Öffentlichkeit über die Schwere seiner Leiden und über seine bedenkliche Medikamentenabhängigkeit getäuscht hat. Und doch gilt Kennedy den Bürgern der USA, wie regelmäßige Meinungsumfragen belegen, bis heute als einer ihrer großen Präsidenten, zusammen mit dem Gründer der Nation George Washington, dem Retter der Nation Abraham Lincoln und dem Reformer der Nation Franklin D. Roosevelt.

Auch dafür mögen Zyniker eher die Umstände seines Todes als die Leistungen seines Lebens verantwortlich machen. Die Ermordung dieses attraktiven und lebenslustigen Mannes durch einen geltungssüchtigen Verlierer wirkte auf die Zeitgenossen wie ein Anschlag auf die Zukunft selbst, gerade weil Kennedy so viele der in ihn gesetzten Hoffnungen nicht – oder vielleicht noch nicht – erfüllt hatte. Vor dem 22. November 1963 liegt, so erscheint es im verklärenden Rückblick, eine goldene Zeit amerikanischer Unschuld, wie sie immer wieder in der Populärkultur beschworen wird. Danach kommen die Rassenunruhen und Studentenproteste, der Krieg in Vietnam und die Watergate-Affäre, die Ermordung der Hoffnungsträger Robert Kennedy und Martin Luther King, die Besetzung des Weißen Hauses durch Paranoiker der Macht wie Lyndon B. Johnson und Richard Nixon.

Hartnäckige Verschwörungstheorien

Dieses Gefühl verlorener Unschuld und betrogener Hoffnung, so unrealistisch sie auch sein mag, nährt bis heute Verschwörungstheorien. Die Meinungsumfragen, die Kennedys Status als großen Präsidenten bestätigen, zeigen auch, dass nur eine verschwindende Minderheit der amerikanischen Bürger an die offizielle Version der Ereignisse vom 22. November 1963 glaubt: nämlich dass der politische Wirrkopf Lee Harvey Oswald allein handelte, als er vom Fenster seines Arbeitsplatzes in einem Schulbuchauslieferungslager drei Schüsse auf den Präsidenten abgab, von denen einer den Schädel John F. Kennedys zerschmetterte.

Dieses Misstrauen der Bürger – und nicht nur einer Minderheit, sondern einer breiten Mehrheit – in die eigene Regierung, dieses Hineinsickern verschwörungstheoretischen Denkens vom lunatic fringe in den Mainstream ist etwas Neues in der Geschichte der amerikanischen Demokratie. Diese Entfremdung geht über die notwendige Wachsamkeit gegenüber der Exekutive hinaus. Sie nimmt die Verwerfungen der späten 1960er Jahre vorweg, als ein großer Teil der Jugend dem Staat die Loyalität aufkündigte. Auf dem Höhepunkt der Jugendproteste erhielt mit den Morden an dem "Friedenskandidaten" Robert Kennedy und an dem Bürgerrechtler Martin Luther King die Vorstellung neue Nahrung, John F. Kennedy sei das erste Opfer einer reaktionären Schattenmacht im Bunde mit "denen da oben" gewesen – eine Vorstellung, die noch heute hier und da virulent ist. So schreibt etwa der Journalist Mathias Bröckers, der Anschlag auf JFK sei nichts weniger als ein Staatsstreich der Partei des Krieges und der Reaktion gegen den Repräsentanten des Friedens und des Fortschritts gewesen; er habe "zu einer imperialen Politik rein militärischer Machtausübung" geführt, "die das Gesicht der USA in der Welt bis heute prägt – und die den Mord an dem Präsidenten, der eine solche Zukunft verhindern wollte, noch immer relevant macht".

Dass manche Geisterseher auch den Kennedy-Mord in Verbindung bringen mit jener Ur-Verschwörungstheorie, die durch das europäische Unterbewusstsein spukt, sei nur am Rande bemerkt. So sieht etwa Michael Piper Kennedy als Opfer einer zionistischen Großverschwörung, weil der US-Präsident die atomare Rüstung Israels habe verhindern wollen.

Tatsächlich arbeitete die von Kennedys Nachfolger eingesetzte Untersuchungskommission unter Vorsitz des Verfassungsrichters Earl Warren, wie wir inzwischen wissen, von vornherein mit dem Auftrag Johnsons, die Alleintäterschaft Oswalds zu beweisen. Dass Johnson dabei nicht irgendwelche dunklen Mächte in den USA (oder gar, wie etwa Bröckers bis heute unterstellt, die von ihm selbst gedungenen Mörder) schützen, sondern vor allem im Interesse des Friedens Gerüchte über eine Beteiligung der UdSSR oder Kubas zum Schweigen bringen wollte, fällt bei der Betrachtung häufig unter den Tisch, zumal inzwischen aktenkundig ist, dass die Bundespolizei FBI und der Auslandsgeheimdienst CIA Informationen vorenthielten. Ebenso wird häufig die Tatsache ignoriert, dass es der Kommission mit beachtenswerter Akribie gelang, eine lückenlose Indizienkette herzustellen, die Oswald als Mörder identifiziert und Mittäter ausschließt.

Drei weitere amtliche Untersuchungen mit dem gleichen Ergebnis und das 2007 erschienene, voluminöse Werk des früheren Staatsanwalts Vincent Bugliosi, in dem eine Verschwörungstheorie nach der anderen dekonstruiert wird, haben jenseits der Fachöffentlichkeit der Historiker und Kriminologen, die mit überwältigender Mehrheit den Schlussfolgerungen der Warren-Kommission folgen, wenig bewirkt. Das Vorurteil, Kennedy sei Opfer einer Verschwörung gewesen, die von der Regierung gedeckt wurde, scheint unerschütterlich. Schon deshalb muss man dem Doppelmord von Dallas – dem Mord am Präsidenten und dem Mord an seinem Mörder – eine historische Dimension zuerkennen.

Neue Wertschätzung für Kennedy

Jenseits des kulturellen Phänomens "Dallas" – man denke an die Dallas-Romane von Don DeLillo, James Ellroy, Stephen King und anderen, an Oliver Stones Film "JFK" oder an den Song "Sympathy for The Devil" von den Rolling Stones, in dem Satan höchstpersönlich "die Kennedys" ermordet hat – haben die Historiker seit der Jahrtausendwende mit einer Neubewertung der Präsidentschaft John F. Kennedys und seines Nachfolgers begonnen, in deren Folge beide besser dastehen und auch die Ereignisse von Dallas in einem anderen Licht erscheinen.

Was Kennedy betrifft, so erfährt seine Zögerlichkeit und Vorsicht bei der Behandlung der Krisen um Berlin 1961 und Kuba 1962 seit dem Ende des Kalten Krieges eine neue Wertschätzung. Beginnen wir mit dem Bau der Mauer in Berlin: Man weiß heute nicht nur, dass die Kennedy-Administration relativ früh die Abriegelung der offenen deutsch-deutschen Grenze in Berlin als Möglichkeit zur Entspannung der Situation in der gefährlichsten Stadt der Welt und darüber hinaus zwischen den Blöcken erkannte. Ebenso ist inzwischen bekannt, dass Kennedy – spätestens beim Wiener Treffen mit seinem sowjetischen Gegenspieler Chruschtschow am 3. und 4. Juni 1961 in Wien – der Gegenseite entsprechende Signale sendete. So wurde Chruschtschow in eine Situation hineinmanövriert, in der zwar mit dem Bau der Mauer das System des Kommunismus kurzfristig stabilisiert wurde, jedoch um den Preis einer offensichtlichen politischen Bankrotterklärung und überdies des Verzichts auf den strategischen Plan, West-Berlin zu neutralisieren und zu annektieren, die Bundesrepublik aus dem westlichen Bündnis herauszubrechen und die Nato zu destabilisieren. Kennedys Beitrag zum Mauerbau und seine anschließende Politik der Deeskalation und der Beruhigung der aufgebrachten bundesrepublikanischen Führung wird in Deutschland verständlicherweise nicht gern als Leistung zitiert, gilt aber als wichtiger Beitrag zur Vermeidung eines Krieges der Supermächte in Europa.

Was Kuba betrifft, wo Chruschtschow in einem Akt fast schon kriminellen Leichtsinns Atomraketen stationieren ließ, so kann man Kennedys Neigung zum Zögern kaum hoch genug einschätzen. Beim Lesen der Beratungsprotokolle der US-Stabschefs bekommt man angesichts der Planungen für "chirurgische Schläge" gegen die auf der Insel stationierten Atomraketen, gefolgt von einer massiven Invasion Kubas buchstäblich das kalte Grausen. Denn wir wissen inzwischen aus sowjetischen Quellen erstens, dass die Amerikaner nicht alle Raketenabschussbasen kannten, und zweitens, dass die örtlichen russischen Kommandeure befugt waren, nach eigenem Ermessen die ihnen nach einem Angriff verbliebenen Raketen abzufeuern. Hätte Kennedy auf seine Militärs gehört, statt insgeheim mit Hilfe seines Bruders Robert einen Kompromiss mit Chruschtschow auszuhandeln, bei dem die USA als Gegenleistung für einen Abzug der sowjetischen Raketen aus Kuba ihrerseits Raketen aus der Türkei abzogen, wäre es vermutlich zur nuklearen Selbstauslöschung der menschlichen Zivilisation gekommen. Die Welt gerettet zu haben, ist keine ganz geringe Leistung.

Wäre Kennedy 1964 wiedergewählt worden?

Was die Innenpolitik angeht, so wird John F. Kennedy heute oft in einem Atemzug mit Martin Luther King genannt. Schließlich fand während Kennedys Amtszeit der Marsch auf Washington statt, bei dem King seine berühmteste Rede hielt: "I have a dream …" Es stimmt zwar, dass Kennedy die Organisatoren des Marsches anschließend im Weißen Haus empfing; aber es stimmt auch, dass der Marsch in den Augen Kings notwendig war, weil die Regierung zu wenig in Sachen Bürgerrechte unternahm. Ganz sicher hat Kennedy zu Beginn seiner Amtszeit die wichtigste innenpolitische Herausforderung des Jahrzehnts – die Frage gleicher Rechte für die Afroamerikaner in den Südstaaten – nicht erkannt. Das aus durchsichtigen Gründen von Politikern gern zitierte Wort aus Kennedys Rede zum Amtsantritt, die Bürger sollten nicht fragen, was ihr Land für sie tun könne, sondern lieber fragen, was sie für das Land tun könnten, war angesichts der Wirklichkeit staatlich betriebener und gedeckter Diskriminierung und Einschüchterung für Amerikas schwarze Bürger ein Schlag ins Gesicht. Als sich Kennedy nach Rassenunruhen in Alabama, Mississippi und anderswo und angesichts der wachsenden moralischen und politischen Bedeutung Martin Luther Kings 1963 schließlich zu einer Fernsehansprache zugunsten der Bürgerrechte und zum Entwurf eines umfassenden Bürgerrechtsgesetzes durchrang, blieb es bei den schönen Phrasen seiner in der Tat bewegenden TV-Rede. Das Gesetz aber blieb dank der Sperrminorität der Südstaatler in seiner eigenen Partei im Kongress stecken, ohne Aussicht auf eine Verabschiedung in Kennedys erster Amtszeit.

Ob ihm aber eine zweite Amtszeit vergönnt gewesen wäre, ist keineswegs sicher. Denn durch seinen Einsatz für die Bürgerrechte hatte Kennedy einen entscheidenden Teil seiner Wählerschaft verschreckt: nämlich die weißen Rassisten in den Südstaaten. Entgegen der oft unkritisch wiederholten Legende, Kennedys Vater Joseph habe dank seiner Beziehungen zur Mafia bei der Präsidentenwahl 1960 die entscheidenden Stimmen in und um Chicago und dadurch seinem Sohn das Weiße Haus kaufen können, kamen die für den Sieg ausschlaggebenden Stimmen nicht aus dem Mittleren Westen, sondern aus dem tiefen Süden, besonders aus Texas. Das war der Heimatstaat Lyndon B. Johnsons, und ohne dessen – von allen linken Demokraten mit Entsetzen aufgenommene – Nominierung als Vizepräsident hätte Joseph Kennedy mit allen seinen Millionen nichts ausrichten können. Johnson, den Kennedy zuweilen sarkastisch als "Lyndon ‚Erdrutsch‘ Johnson" bezeichnete, sicherte den Süden. Denn er hatte sich den Granden der Demokratischen Partei seit Jahrzehnten als einen Mann präsentiert, der für ihre Klienten in Washington arbeitete und der es dabei als Sprecher des Senats verstand, jede Gesetzesinitiative in Sachen Bürgerrechte so abzuändern, dass sie zahn- und wirkungslos blieb. So sah die Rechte ebenso wie die Linke Johnson als Garant für die Passivität der Regierung in Sachen Bürgerrechte. Zu Unrecht, wie sich herausstellen sollte.

Nach Kennedys Fernsehansprache und dem Marsch auf Washington bestand die ernste Gefahr, dass die seit dem Bürgerkrieg ungebrochene Herrschaft der Demokraten in den Südstaaten bei der Wahl 1964 verloren gehen könnte. Denn der Kandidat der Republikaner, Barry Goldwater, der Kennedys Bürgerrechtsgesetzgebung als "Angriff auf die Autonomie der Einzelstaaten" ablehnte, erntete große Zustimmung im Süden. Das ist übrigens der Grund, weshalb der Präsident im November 1963 zusammen mit Johnson nach Texas fuhr. Er wollte durch eine Demonstration seiner Popularität die demoralisierten Demokraten hinter dem "Ticket" Kennedy–Johnson einen.

LBJ – Ein verkannter Präsident

Tatsächlich hätte ein Sieg Goldwaters bei der Präsidentschaftswahl 1964 unabsehbare, möglicherweise welthistorische Folgen haben können. Der Senator aus Arizona befürwortete den Einsatz nuklearer Waffen in Vietnam und gegebenenfalls gegen China und hatte einmal scherzhaft gemeint, man sollte eine Atombombe "ins Herrenklo des Kremls schmeißen". Zwar klaffen Worte und Taten bei Politikern oft noch weiter auseinander als bei anderen Menschen. Auch Kennedy war 1960 als Falke gegen den angeblich zu weichen Richard Nixon angetreten und suchte schließlich den Ausgleich mit Chruschtschow. Der spätere Präsident Ronald Reagan, der 1964 zu Goldwaters Anhängern gehörte, neigte gelegentlich zu Scherzen über einen nuklearen Erstschlag gegen die Sowjetunion und schloss dennoch mit Michail Gorbatschow einen umfassenden Abrüstungsvertrag. Im Weißen Haus machen Traumtänzer linker wie rechter Provenienz oft eine steile Lernkurve durch, werden Tauben zu Falken und umgekehrt. Aber dennoch erscheint es durchaus möglich, dass Goldwater zur Abwehr der kommunistischen Offensive in Vietnam nicht Johnsons Kurs einer langsamen, aber massiven Truppensteigerung in Südvietnam in Verbindung mit dem konventionellen Bombardement Nordvietnams verfolgt, sondern die nukleare Option gewählt hätte. Ob sich China und Russland unter diesen Bedingungen aus dem Konflikt herausgehalten hätten, ist fraglich. Goldwaters Wahlslogan lautete: "In your heart, you know he’s right." Es fällt schwer, dem Gegenslogan des Johnson-Lagers nicht zuzustimmen: "In your guts, you know he’s nuts."

Bei der Wahl 1964 gewann Goldwater trotz der Sympathiewelle für Johnson als Vollstrecker des Kennedy-Erbes, die den Rest des Landes ergriff, tatsächlich fünf Staaten des tiefen Südens – aber nicht Texas – und läutete dabei eine Trendwende ein. Bis dahin hatten die Republikaner als Partei des Sklavenbefreiers Abraham Lincoln keine Chance in den ehemaligen Staaten der Konföderation. Seit 1964 dominieren die Republikaner als Partei des Widerstands gegen die Bürgerrechtsgesetzgebung von Kennedy und Johnson den Süden – für die USA ein seismischer Schock von historischen Ausmaßen. Erst in unseren Tagen wird die Herrschaft der Republikaner im Süden durch den politischen Aufstieg der mehrheitlich mit den Demokraten sympathisierenden Hispanics wieder in Frage gestellt.

Johnson gewann tatsächlich in einem Erdrutsch alle anderen Staaten und dadurch ein Mandat für sein Reformprogramm der Great Society, einer Fortsetzung des Rooseveltschen New Deal, für die Bürgerrechte und für die Fortsetzung der Kennedyschen Ausgleichspolitik mit der Sowjetunion – von "Entspannung" konnte man noch nicht sprechen. Dieser überwältigende Sieg hatte in der Tat historische Ausmaße. Und er ist ohne den 22. November 1963 nicht zu verstehen.

Denn Johnson nutzte den Mord an seinem Vorgänger, um der Nation ins Gewissen zu reden: Amerika schulde es dem gefallenen Helden, seinen Traum einer gerechteren Nation zu erfüllen. War bis zum 22. November die Begeisterung, die Kennedys Wahl ausgelöst hatte, einer gewissen Resignation gewichen, so löste der Schock seines "Martyriums" – in solchen Wendungen sprach Johnson gern – den Reformstau im Kongress und die Apathie in der Bevölkerung. Es zeigte sich überdies, dass der aus kleinen Verhältnissen stammende "LBJ", der ein politisches Leben lang mit der Südstaaten-Parteimaschine kooperiert hatte, um Karriere zu machen, als Präsident seine Macht nutzte, um Visionen umzusetzen, die weit über das hinausgingen, was dem Patrizier John F. Kennedy vorgeschwebt hatte, und die der Meistertaktiker lange für sich behalten hatte. Wo Kennedy cool, pragmatisch und distanziert war, agierte Johnson mit dem Feuer des Überzeugungspolitikers.

Wenn also die Partei des Krieges, der Militarisierung und der Reaktion Kennedy wirklich ermorden ließ, wie es die Verschwörungstheoretiker meinen, hat sie genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollte. Ohne den 22. November 1963 wäre entweder Goldwater gewählt worden oder ein durch den Abfall der Südstaaten erheblich geschwächter Kennedy. Cui bono?

Vietnam und kein Ende

Ja, aber der Vietnamkrieg! Zu den Legenden um den Mord in Dallas gehört die Behauptung, Kennedy habe den Krieg in Vietnam abwickeln wollen, den Johnson stattdessen eskalierte, um ihn trotzdem – zusammen mit der Präsidentschaft – 1968 zu verlieren. Dies ist jedoch eine Legende, die Robert Kennedy nach seiner Saulus-Paulus-Bekehrung vom Falken zur Taube während seiner Präsidentschaftskampagne kultivierte, deren Fragwürdigkeit – um es vorsichtig auszudrücken – gerade ihm jedoch klar gewesen sein muss. Er selbst hatte 1962 noch gesagt, die Lösung des Krieges "liegt darin, dass wir ihn gewinnen. Das hat der Präsident denn auch vor. Wir werden ihn gewinnen, und wir werden hier (in Vietnam, Anm. A.P.) bleiben, bis wir ihn gewonnen haben."

Südvietnam war für die Kennedy-Brüder nicht nur deshalb wichtig, weil es in ihren Augen für Asien die gleiche Rolle spielte wie West-Berlin für Europa, und weil sie an die sogenannte Domino-Theorie glaubten, der zufolge eine Niederlage Amerikas in Vietnam den Fall von Laos, Kambodscha, Malaysia und Indonesien und die Vorherrschaft Chinas in Asien nach sich ziehen würde, sondern auch, weil es dort als Folge der französischen Kolonialherrschaft und der Flüchtlingsströme aus dem kommunistischen Norden viele Katholiken gab, die die pro-westliche Oberschicht bildeten. Dass ausgerechnet der erste katholische Präsident der USA Millionen vietnamesischer Katholiken einer kommunistischen Diktatur ausliefern würde, war undenkbar, zumal sich der Kongressabgeordnete und Senator John F. Kennedy einen Namen als Kritiker der "Weicheier" in der Truman-Administration gemacht hatte, die angeblich "China verloren" und die dortigen Katholiken der Unterdrückung durch Mao Zedong ausgeliefert hätten. Vietnam war überdies, wie es Kennedys Generalstabschef Maxwell Taylor 1963 ausdrückte, "ein funktionierendes Laboratorium, in dem wir den subversiven Aufstand (…) in allen seinen Formen studieren können".

Es gehört zur Tragödie Lyndon B. Johnsons, dass zum Erbe seines Vorgängers nicht nur das Versprechen einer gerechteren Gesellschaft in den USA gehörte, sondern die Behauptung, man habe der Offensive der Kommunisten in der Kuba-Krise Einhalt geboten und werde nun seinerseits daran gehen, den Einfluss Moskaus und Pekings zurückzudrängen. "To Turn the Tide" – der Gezeiten Lauf ändern – heißt eine Sammlung der außenpolitischen Reden und Aufsätze John F. Kennedys. Dieser Titel suggeriert bewusst, dass die USA gegenüber dem Kommunismus in die Offensive gehen würden. "Zukünftige Historiker mögen beim Rückblick auf 1962 dieses Jahr als den Zeitpunkt bezeichnen, da die Gezeiten der internationalen Politik endlich in Richtung der Welt der Vielfalt und der Freiheit zu fließen begannen", schrieb Kennedy im Vorwort zu seinen "Public Papers" 1962. (Interessanterweise erschien "To Turn the Tide" in Deutschland unter dem Titel "Dämme gegen die Flut", was die Kennedysche "Roll Back"-Rhetorik in ihr Gegenteil verkehrt, scheint doch das Wort "Dämme" vielmehr einer "Containment"-Strategie das Wort zu reden.)

Es sollte auch nicht vergessen werden, dass Johnson die komplette außen- und sicherheitspolitische Mannschaft Kennedys übernahm, vor allem Außenminister Dean Rusk, Sicherheitsberater McGeorge Bundy und Verteidigungsminister Robert McNamara. Keiner aus dieser Riege sagte dem neuen Präsidenten, zur Strategie seines Vorgängers habe der Abzug aus Vietnam gehört. Niemand empfahl ihm eine solche Lösung. Gerade weil Johnson mit seiner Great Society und dem "Krieg gegen die Armut" zurückkehrte zur traditionellen linken Programmatik der Roosevelt-Demokraten, durfte er sich in der Außenpolitik gegenüber den skeptischen Zentristen des Kennedy-Lagers keine Blöße geben, nicht weich erscheinen. Weil er einen "Welfare State" wollte, musste LBJ auch den "Warfare State" in Kauf nehmen. Am Widerspruch dieser beiden Ziele zerbrach seine Präsidentschaft. Mit ihr starben die Hoffnungen auf eine Fortsetzung und Vollendung des New Deal. Im Herbst des Schicksalsjahres 1968 wurde Richard Nixon im Auftrag der schweigenden Mehrheit Amerikas gewählt, um der idealistischen Innen- und der expansionistischen Außenpolitik der Ära Kennedy-Johnson ein Ende zu machen. Was Nixon denn auch tat.

War also "11/22" ein Tag, der die Welt veränderte? In gewisser Weise ja. Er hat das Bewusstsein der Amerikaner verändert und damit die revolutionären 1960er Jahre mit vorbereitet. Er hat die Reformpräsidentschaft Lyndon B. Johnsons ermöglicht und die Chancen Barry Goldwaters auf das Weiße Haus zerstört. Vielleicht hat Kennedy mit seinem Tod also zum dritten Mal in drei Jahren – nach der Berlin-Krise 1961 und der Kuba-Krise 1962 – die Welt vor einem Weltkrieg gerettet.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, London 2012, S. 12ff.

  2. Vgl. Alan Posener, John F. Kennedy. Biographie, Reinbek 2013, S. 124.

  3. Mathias Bröckers, JFK. Staatsstreich in Amerika, Frankfurt/M. 2013, S. 11f.

  4. Michael Collins Piper, Final Judgement. The Missing Link in the JFK Assassination Conspiracy, Washington, DC 2004.

  5. Vgl. Vincent Bugliosi, Reclaiming History. The Assassination of President John F. Kennedy, New York 2007.

  6. Vgl. Don DeLillo, Libra, New York 1988 (deutsch: Sieben Sekunden, Köln 1991, Neuauflage 2003 unter dem Titel Libra); James Ellroy, American Tabloid, New York 1995 (deutsch: Ein amerikanischer Thriller, Hamburg 1996); Stephen King, 11/22/63, New York 2011 (deutsch: Der Anschlag, München 2012).

  7. Der neueste Stand der Forschung zu den Krisen um Berlin und Kuba wird referiert in A. Posener (Anm. 2), S. 111–123 und S. 124–131.

  8. Zit. nach: ebd., S. 137.

  9. Zit. nach: ebd.

  10. Vgl. John F. Kennedy, To Turn the Tide, New York 1962.

  11. Vgl. ders., Dämme gegen die Flut, Düsseldorf 1962.

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Geb. 1949; freier Autor, zurzeit Korrespondent bei der "Welt"-Gruppe; Autor des Buches "John F. Kennedy. Biographie" (2013); Axel-Springer-Straße 65, 10888 Berlin. E-Mail Link: alan.posener@wams.de