Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Geheimdienste und Konsum der Überwachung - Essay | Überwachen | bpb.de

Überwachen Editorial Freiheit unter Beobachtung? Architektur und Rolle der Nachrichtendienste in Deutschland Geheimdienste und Konsum der Überwachung - Essay Überwachungstechnologien Offener Umgang mit geheimer Geschichte Auslandsnachrichtendienst in der Ära Adenauer Motiv und Praxis von Spionage im Kalten Krieg Mythen über Geheimdienste

Geheimdienste und Konsum der Überwachung - Essay

Nils Zurawski

/ 14 Minuten zu lesen

Zwei Skandale, beide haben mit Geheimdiensten zu tun, und doch sind beide völlig unterschiedlich zu bewerten: NSA und NSU. Außer der Namensähnlichkeit haben die beiden Skandale der jüngsten Vergangenheit wenig gemeinsam. Der NSU-Skandal, wenn man ihn denn so nennen will, ist eine Geschichte der Anmaßung und des Versagens. Es ist eine "typisch deutsche" Geschichte, mit Nazis, ihren Morden an türkischen und griechischen Einwanderern sowie der verquasten Sicht auf eine Einwanderungsdebatte, die längst überwunden geglaubt war. Dazu kommen die Verflechtungen der Geheimdienste und der Polizei mit der braunen Szene und dem Aufbrechen alter Klischees und Vorurteile. So ist Deutschland halt immer noch, da waren sich viele Kommentatoren einig.

Und die NSA? Sie hat sich in Verruf gebracht mit einem geradezu maßlosen Programm zur Bespitzelung der Welt, das alle Vorstellungen sprengt. Seit fast einem Jahr wird weltweit die Frage diskutiert, was diese Art der Überwachung mit uns und der Gesellschaft macht. Erstaunlich an dem Skandal ist vor allem, dass eine Entrüstung nicht so recht in Gang kommen will. Anders als beim NSU-Fall scheint das, was die NSA getan hat und zweifelsohne auch weiterhin tun wird, normal – im Rahmen dessen, was Geheimdienste so tun. Dass aus deutscher Perspektive ein Vergleich zur Stasi gezogen werden kann, dem Apparat, der eine Totalüberwachung seiner Bürgerinnen und Bürger umgesetzt hat, liegt nahe, wurde aber eher selten bemüht. Das hat gute Gründe und ist letztlich auch konsequent: Die Stasi war Teil einer autoritären, unterdrückenden Diktatur, die NSA ist es nicht. Das entschuldigt die maßlose Neugier des Dienstes nicht, dennoch hat es andere Konsequenzen. Und vor allem findet es vor einem anderen gesellschaftlichen Hintergrund statt, dessen wichtigster Aspekt die fortgeschrittene Digitalisierung der Lebenswelt ist.

Geheimdienste erscheinen wie die natürlichen Gebiete einer Forschung, die sich mit Überwachung und Kontrolle beschäftigt. Sie sind es überraschenderweise eher seltener. Im Folgenden skizziere ich eine Perspektive aus der Surveillance-Forschung, mit welcher der NSA-Skandal vor dem Hintergrund aktueller Ansätze untersucht werden kann. Der Fokus liegt dabei auf dem Alltag von Menschen in einer digitalisierten Welt, in der eine Überwachung in die Konsumgewohnheiten eingebettet ist und somit nicht mit Geheimdiensten, Überwachung und Repression in Verbindung gebracht wird.

Wenn es so etwas wie einen Kanon der Literatur zu Überwachung gibt, dann gehört George Orwells "1984" definitiv dazu. Auch wenn es in "1984" um autoritäre und menschenfeindliche Diktaturen vor dem Hintergrund Hitler-Deutschlands und der Sowjetunion unter Stalin ging, wurde daraus in der Folge und im Zuge einer aufziehenden Informationsgesellschaft eine Chiffre für die Überwachungsgesellschaft. Als 1983 in Deutschland eine Volkszählung stattfinden sollte, war es wohl auch die Nähe zum Jahr 1984, die eine Mobilisierung gegen die Zählung begünstigte. Der Erfolg der Proteste wirkt bis heute nach. Der Begriff der "informationellen Selbstbestimmung", den das Bundesverfassungsgericht in seinem "Volkszählungsurteil" 1983 prägte, ist einer der Eckpfeiler des bundesdeutschen Datenschutzes und Vorbild für Datenschutzpolitik in anderen Ländern.

Datenschutz als politisches Aktionsfeld ist bis heute zentral für die Forschung zu Überwachung und Kontrolle – vor allem weil sich die Informationsgesellschaft seit den 1990 Jahren mit einer Geschwindigkeit entwickelt hat, die selbst 1984 nicht absehbar war. Die Frage, was passiert, wenn der Staat zu viele Informationen über seine Bürgerinnen und Bürger sammelt, auswertet und einsetzt, ist ins Zentrum gerückt. Die Diskussionen um biometrische Reisepässe, elektronische Gesundheitskarten, maschinenlesbare Ausweise, Videoüberwachung zur Kriminalitätsbekämpfung, die weitreichenden Befugnisse im Rahmen der Terrorbekämpfung, die sich der Staat selbst erteilt hat, zeigen die Spannbreite und gleichzeitig den Fokus einer solchen Forschung.

Ausgedehnt hat sich bei wachsender Digitalisierung diese grundlegende Frage auf Größen jenseits des Staates, auf die kleinen und großen Spieler in der Internetökonomie, die gegenwärtig wahrscheinlich ein ebenso großes (wenn nicht größeres) Risiko für den Schutz unserer Daten bedeuten. Der Schwerpunkt der Diskussionen liegt hierbei zumeist auf dem Datenschutz sowie den eingesetzten Technologien, die auf die Bürger, Konsumenten und Individuen einwirken, scheinbar ohne dass jene sich angemessen wehren oder dazu verhalten können. In einem Artikel in "Le Monde Diplomatique" im August 2010 legte die Informatikerin und Hacker-Aktivistin Constanze Kurz dar, wie maschinenlesbar der Mensch bereits geworden ist, wobei sie vor allem auf die Messbarkeit menschlicher Eigenschaften und körperlicher Merkmale verwies. Die Überwachung des Menschen sei demnach nicht länger auf einen Big Brother, eine übergeordnete, totalitäre Instanz, angewiesen, sondern könne im Stillen und durch die biometrischen Spuren des Menschen diesen überall und unbemerkt überwachen, kontrollieren und damit auch steuern. Zwischen Vorratsdatenspeicherung, Kameras und NSA bewegt sich die öffentliche Debatte zum Thema Überwachung, die sich zum großen Teil auf Technologie und Datenschutz beschränkt, aber darüber hinaus andere, wichtige Aspekte umfasst, ohne die der NSA-Skandal und seine eigentliche Bedeutung nicht verstanden werden können.

Überwachung konsumieren

Möchte man verstehen, wieso der NSA-Skandal eher geringe Entrüstungsausschläge in der breiten Bevölkerung auslöste, lohnt sich ein Blick darauf, wie im Alltag mit Daten umgegangen wird – ist der Alltag doch der Ansatzpunkt für den Großteil der Schnüffeleien. Und dabei haben Geheimdienste und auf Gewinn ausgerichtete Unternehmen in dem, wie sie arbeiten und denken, durchaus überlagernde Interessen. Der NSA-Fall hat das Thema der Massenüberwachung mit einer solchen Vehemenz auf die gesellschaftspolitische Tagesordnung gesetzt, dass man sich fragen konnte, ob Überwachung bis dahin keine Rolle spielte oder sie schlicht nicht wahrgenommen wurde. Eher das Gegenteil ist wohl der Fall. So könnte man deshalb mutmaßen, dass die Menschen sich einfach nur daran gewöhnt und in fatalistischer Manier schulterzuckend zurückgezogen haben.

Die häufig geäußerte Beschwerde, dass es gegen die in viele Lebensbereiche eindringende Überwachung und Kontrolle keinen Widerstand gebe, halte ich jedoch für eine Art der Publikumsbeschimpfung, die so nicht gerechtfertigt ist. Auch übersieht sie, dass das Überwacht-Werden des Bürgers keine Alltagsroutine ist, die – ungeachtet möglicher ablehnender Haltungen gegenüber den NSA-Praktiken – im Alltag eine spürbare Rolle spielen würde. Es erfordert einen Reflexionsprozess, sich klar zu machen, dass das Leben, wie es hierzulande von den meisten Menschen geführt wird, zwar sehr angenehm ist, aber einen Preis fordert, der nur unzureichend ausgeschildert ist: Unser Alltag ist mittlerweile in unüberschaubar vielen Bereichen von digitalen Informationen abhängig.

Das macht die Überwachungsgesellschaft zur Kehrseite der Informationsgesellschaft beziehungsweise zu ihrer konsequenten Weiterentwicklung. Überwachung und Kontrolle werden nicht nur einfacher, sondern auch Teil des Konsums selbst, der in einer postindustriellen Welt seit 40 Jahren vermehrt vor allem den Konsum von Diensten meint. Das Internet und das Mobiltelefon haben unsere Gesellschaften und sozialen Handlungspraktiken dermaßen rasch und weitreichend verändert, dass das Nachdenken darüber oft hinterherhinkt. So bedeutet Einkaufen nicht mehr allein Barzahlung in einem Geschäft, sondern oftmals den Interneteinkauf mit Kreditkarte, also letztlich mit Daten, die sowohl eine Zahlung ermöglichen, dazu aber auch eine Identitätsbestimmung erfordern – zum eigenen Vorteil und Schutz. Aber der Einkauf ist vor allem ein Einkauf – ein emotionaler Akt –, kein Datentransfer. Daten und deren Schutz sind in diesem Sinne zweitrangig in der Wahrnehmung, wenn auch nicht für den Akt des Konsums an sich. Ähnliches gilt für ein Telefonat, für den Gebrauch eines Navigationsgerätes und vieles mehr.

Alltagsroutinen orientieren sich an anderen Grundsätzen als Datenschutz. Die Businessstrategien der Unternehmen, die in der so gestalteten Informations-Konsumgesellschaft den Ton angeben, bauen aber auf diese Daten und lassen es wie ein Geschäft, manchmal auch wie einen reziproken Tausch aussehen (Daten gegen Konsum). Diese Art von Geschäft ist zur Alltagsroutine geworden, sodass ein Nachdenken darüber immer eine extra Reflexion erfordert, die nicht ständig erbracht werden kann. Überwachung, im Sinne der Protokollierung unserer Daten und darüber auch unserer Gewohnheiten, ist Teil des Konsums und deshalb so unsichtbar und scheinbar normal. Für Geheimdienste ist es ein Leichtes, die Daten auszuschnüffeln, die über die digitalen Verbindungen, über das Internet, die Bezahldienste und Telefonnetze ohnehin gesendet werden. Das macht eine solche Praxis nicht besser, ist jedoch für die Bürger im Alltag nicht relevant.

Nur weil Daten verfügbar sind, manchmal auch öffentlich oder eingeschränkt sichtbar, bedeutet das noch nicht, dass Geheimdienste ein Recht haben, sie abzuhören, auszuschnüffeln oder den Datenverkehr ganzer Länder für alle Fälle zu protokollieren – zumal vieles davon in Gesetzen als privat klassifiziert wird und somit eine Garantie auf Unversehrtheit hat. Allerdings haben die Geheimdienste beziehungsweise die sie steuernden Regierungen auf anderen Ebenen daran gearbeitet, eine Überwachung in unsere Alltagsroutinen, jenseits des Konsums, einzuarbeiten. Spätestens seit dem 11. September 2001 wurde noch jeder Grundrechtseingriff mit dem Argument der Sicherheit oder der Terrorbekämpfung begründet. Beim Ausspähen wurde auf die stille Komplizenschaft der Bürger gesetzt – "wer nichts zu verbergen hat …". Die Logik einer darauf aufbauenden Sicherheit ist von der Frage bestimmt: Kann ich wirklich jemals sicher sein? Für damit verbundene Überwachungsstrategien bedeutet das: Weiß ich jemals genug? Die Antwort auf beide Fragen ist immer: nein. Die paranoide Grundhaltung eines so denkenden Staates kann unter diesen Prämissen nur weiter wachsen. Das ist der eigentliche Skandal der NSA-Affäre: die offen daliegende Logik der Überwachung, die gleichzeitig einleuchtend und für jede Gesellschaft wie eine Bedrohung ist.

Unternehmen und Geheimdienste

Wirtschaftsunternehmen unterscheiden sich von den Geheimdiensten grundlegend. Sie agieren nicht im Geheimen, sondern wollen geradezu erkannt werden, zumal wenn es sich um solche Unternehmen handelt, die im Alltag der Menschen eine wichtige Rolle spielen, also allen voran die Internet-Multis, die mit ihren Angeboten und Services das Leben der Menschen bereichern, vereinfachen oder unterstützen wollen.

In einer in vielen Bereichen digitalen Konsumwelt braucht es dazu vor allem Informationen in Form von Daten – meistens über die Menschen selbst, aber auch über ihre Wünsche, Begierden, vielleicht ihre Geheimnisse, ihre sozialen Verflechtungen und manchmal auch über das, was sie denken. Während die Konsumenten weitgehend selbst entscheiden, was von alledem das Unternehmen in welcher Form erhält, so bleibt unklar, welcher Informationen ein Geheimdienst habhaft werden möchte.

Doch hier ist Vorsicht geboten: So entgegengesetzt die Interessen beider Akteure zu sein scheinen, so ähnlich sind sie sich in einer Art von enger Weltsicht und dem Wunsch, die Menschen anhand ihrer Daten nach möglichst genauen Kategorien zu ordnen.

Dieser Wunsch macht sich allerdings in sehr unterschiedlicher Weise bemerkbar. Geheimdienste suchen nach Anzeichen von Dissens, nach Abweichungen von einer Norm, dem Verdächtigen. Die dazu erstellten Kategorien sind notwendigerweise sehr eng – was passiert, wenn man keine Kategorien hat, um zehn Morde miteinander in Verbindung zu bringen beziehungsweise diese nicht als Dissens erkennt, hat der Skandal um den NSU und den Verfassungsschutz gezeigt. Aus Gesprächen mit Vertretern der Sicherheitsbehörden kann ich feststellen, dass das "Verdächtige" eine eher weit gefasste Größe ist, die mitunter auch auf Kritik an aktueller Politik und den generellen Verhältnissen in Deutschland, insbesondere in einzelnen Feldern (wie Sozialpolitik, Stadterneuerung, Tierschutzrechte, Einwanderung, linke Kapitalismuskritik), bezogen wird. Die Strategien staatlicher Überwachung haben so etwas wie eine Kultur des Verdachtes etabliert, die sich grundlegend auf alle Bürger erstreckt. Verdächtig ist also jede Person, die Kritik übt und dem ohnehin verletzlichen Staat weiteren Schaden zufügen kann.

Von diesen Formen der Engführung sind Wirtschaftsunternehmen weit entfernt. Dennoch praktizieren auch sie eine Art von kategorialer Normierung. Im Namen der Effektivitätssteigerung und einer Gleichmacherei der Dienste und Angebote werden auch die von uns abgefragten Informationen immer standardisierter, unsere Möglichkeiten auszubrechen werden von den Unternehmen selbst beschränkt. Unternehmen, denen wir als Konsumenten gegenüberstehen, wollen auf diese Weise mögliche Streuverluste eindämmen, die durch ungenaue Angaben beziehungsweise ungenaues Wissen über die Konsumenten der Produkte entstehen können. Die Entscheidungen, die wir treffen sollen, werden vorgegeben, abgepackt, normiert, berechenbar – und somit kontrollierbar. Die uns vorgeschlagenen Bücher bei Amazon, die andere auch gekauft haben, die ebenfalls gekauft haben, was wir gerade kaufen wollen, sind ein solches, noch unvollständiges Beispiel.

Es sollen neue Begierden geweckt werden, die wir uns dann auch noch erfüllen können – targeted marketing, die gezielte Werbung. Das ist praktisch, verführerisch und dennoch bevormundend. Der Kunstphilosoph Pierangelo Maset nennt diese Entwicklung ein Geistessterben. Die Kontrolle durch Verfahren, Angebote und gleichzeitige Überwachung durch die Möglichkeiten der Informationsgesellschaft sind das eigentliche Problem und ein Skandal, der eigentlich nicht stattfindet.

Während wir beim Staat von Zensur sprechen, wenn uns Informationen vorenthalten werden, brauchen Unternehmen nicht explizit zu zensieren, sie schließen einfach aus, bieten etwas nicht an und steuern so gleichzeitig sowohl Bedürfnisse als auch Vorlieben und letztlich die Möglichkeiten von Alternativen. Den Widerstand regelt der Markt. Auch hier wird die Überwachung konsumiert beziehungsweise ist in den Konsum gleich mit eingeschrieben – vollkommen eingeschrieben in dem Moment, in dem neue Wünsche und Begierden nicht mehr geweckt, sondern geradezu abgeschafft werden zugunsten von Angeboten, die alternativlos erscheinen oder nur eine besondere Sicht auf die Dinge, die Welt und das Soziale zulassen.

Daten, Kategorien und Kontrolle

Unternehmen und Geheimdienste sind bei der Kontrolle, Überwachung und Steuerung vor allem auf die Verfügbarkeit von Daten angewiesen, wobei sich die NSA die massenhaft anfallenden digitalen Bestände zunutze gemacht hat, die eine digitalisierte Gesellschaft prägen. Dabei ist die Kommunikation von Informationen und Daten zunächst etwas, das für ein menschliches und ein gesellschaftliches Leben von grundlegender Bedeutung ist. Ohne einen Austausch von Informationen zwischen den Mitgliedern einer Gruppe oder Gesellschaft ist kein soziales Leben denkbar. Über das Sammeln, Austauschen und Bewerten von Informationen versuchen Menschen sich innerhalb ihrer Umwelt zurechtzufinden beziehungsweise die sie umgebende Welt zu begreifen. Die Informationen oder Daten werden dafür genutzt, um festzustellen, wer jemand ist, wo eine Person herkommt oder mit welcher Absicht sich jemand an einem Ort aufhält. In solchen Fällen geht es um die Identität des jeweils anderen, die eigene Sicherheit oder auch nur die Möglichkeit, eine Beziehung zu diesem Menschen aufzubauen.

Zu welchem Zweck auch immer Informationen erhoben oder abgefragt werden, der Umgang mit ihnen beruht grundsätzlich darauf, dass sie bewertet werden. Informationen über die Welt und die dazugehörigen materiellen und nicht materiellen Dinge und Erscheinungen werden kategorisiert und klassifiziert, um sie mit Bedeutungen und Sinn zu versehen. Es handelt sich dabei um eine zutiefst menschliche Eigenschaft, die es ermöglicht, auch in einer fremden Umwelt auf Muster zurückzugreifen, mit denen Neues und Altes sinnvoll geordnet werden kann. Kategorien oder Klassifizierungen bestimmen über gut/böse, essbar/giftig, groß/klein, schön/hässlich et cetera. Kategorien müssen nicht immer extreme Paare sein. Es kann sich auch um Abstufungen handeln, Einteilungen, in denen Merkmale unterschieden werden, oder Definitionen, die sagen, wie etwas beschaffen ist, das für einen bestimmten Zweck nützlich, wichtig oder überflüssig ist. Alle Klassifikationen und Kategorien sind von Menschen gemacht. Jede Definition beruht auf von Menschen verabredeten Definitionen, mit denen Grenzen zu anderen Erscheinungen, Dingen oder sozialen Gruppen gezogen werden. Und wer die Macht hat, diese Definitionen zu beeinflussen, hat auch die Macht über die Kategorien und letztlich die Kontrolle, darüber zu bestimmen, in welcher Weise die Welt wahrgenommen werden kann.

Übertragen auf die täglich bei uns anfallenden Daten und ihre mögliche Kategorisierung bedeutet das, dass weniger die Daten selbst das Problem sind, sondern die Kategorien, mit denen sie bewertet werden. Denn erst durch diese erhalten die Daten einen Sinn und können in Bezug auf eine von anderer Seite gemachte Definition weiterverwendet werden. Wenn also ein Einkauf nicht nur bedeutet, dass eine Person Milch, Zucker und Mehl gekauft hat, sondern in der Logik einer Bewertung dieser Daten – gesammelt mithilfe von Kundenkarten –, dass diese Person wohl gern Pfannkuchen isst, die als ungesund eingestuft sind, dann geht die Erhebung der Daten über eine Aufzählung der gekauften Dinge hinaus. Ohne den weiteren Zusammenhang des Einkaufes zu kennen, werden Daten klassifiziert und dann zu den Käufern unbekannten Zwecken einer weiteren Bewertung unterzogen – etwa dass ihre Krankenkasse die Beiträge erhöhen sollte.

Die Macht, darüber zu bestimmen, was einzelne Daten im Zusammenhang bedeuten, ermöglicht die Kontrolle beziehungsweise Überwachung von Menschen, ohne dass diese anwesend sein müssen oder sie im Augenblick der Kontrolle von dieser wissen. Die Möglichkeit, eine Definition zu bestimmen und durchzusetzen, bedeutet, darüber zu entscheiden, wer Einlass erhält oder wer ausgeschlossen wird, weil die in der Definition vorgegebene Norm nicht erfüllt wird. Ob eine solche Norm ähnlich den sozialen Normen von den Mitgliedern einer Gruppe vorher akzeptiert wird oder gemeinsam ausgehandelt wurde, spielt hierbei keine Rolle mehr. Wer die Verfügungsgewalt über Daten und die Definitionsmacht über ihre Bewertung besitzt, kontrolliert die Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe.

Eine informationelle Selbstbestimmung, die besagt, dass eine Person die Kontrolle über die Verwendung ihrer eigenen Daten haben soll, ist ohnehin nur noch eingeschränkt möglich. Durch die digitale Vernetzung und Abhängigkeit unseres sozialen, politischen sowie wirtschaftlichen Lebens ist eine selbstbestimmte Verfügung über die eigenen Daten sowie deren Bewertung immer weniger realisierbar. Somit entschwindet dem Bürger die Kontrolle über die Verwendung von Daten immer mehr. Für Strategien der Überwachung werden solche Kategorien und Klassifikationsmuster aber immer wichtiger und bilden heute das entscheidende Element von sozialer Kontrolle durch Staat und Wirtschaft.

Kontrolle der Zukunft

Diese neuen Formen der Überwachung, die sich von den klassischen darin unterscheiden, dass sie nicht länger an einer Person als Person interessiert sind, sondern ihre Aufmerksamkeit den Klassifikationen und Kategorien schenken, sind für unsere Gesellschaften bestimmend. Es wird nicht eine Person überwacht, sondern generell die Gesellschaft anhand der Daten, die über vorbestimmte Kategorien gefiltert werden. Eine solche Überwachung konzentriert sich auf die Merkmale und möglichen Zusammenhänge und sucht die Personen, die es zu überwachen gilt, erst aufgrund der jeweils passenden Daten heraus. Entscheidend daran ist, dass nicht länger die Gegenwart im Zentrum des Interesses steht, sondern die Zukunft. Nicht was ist, wird erforscht, sondern was sein könnte. Unvorhersehbarkeit ist für Unternehmen wie für Geheimdienste eine beängstigende Größe, die es zu kontrollieren gilt. Um die Zukunft zu simulieren, müssen potenziell alle möglichen Daten von möglichst vielen Menschen gesammelt werden. Geheimdienste überwachen, damit sie in Zukunft gezielter diejenigen überwachen können, die abweichen und sich so verdächtig machen. Unternehmen wollen die Wünsche der Konsumenten steuern und sowohl diese als auch ihr Image kontrollieren.

Da Konsum ein elementarer Teil unseres Alltages ist, fällt diese Form der Überwachung nicht sofort als negativ auf. Daran anzuschließen ist für die Geheimdienste geradezu ideal und verführerisch, aber eben auch tückisch. Personen werden je nach Anlass und Zweck der Überwachung in einzelne Datensätze und Merkmale zerteilt. Dazu gehören persönliche Daten, biometrische Merkmale wie der Fingerabdruck oder DNA-Profile, Einträge bei der Schufa, die Einkäufe, die über Kunden- oder Bankkarten erhoben werden können, die Art der Auslandsbesuche und vieles Erdenkliche mehr. Aus den ausufernden Sammlungen werden je nach Bedarf Werbeprofile, Fahndungsakten oder Analysen zur Kreditwürdigkeit erstellt und diese dann einer Person zugeordnet, auf die solche aus Daten gewonnenen Identitäten zutreffen könnten. Ob die Merkmale oder Profile immer genau so auf die gewählte Person zutreffen, ist dabei nicht selbstverständlich. Überwachung bedeutet unter diesen Bedingungen eine ständige Risikoabschätzung und eine möglichst vorausschauende Kontrolle, um bereits im Vorwege quasi automatisch Kontrolle auszuüben. Überwachung bedeutet im Idealfall die Abweichung von einer durch Daten und Kategorien erzeugten Norm, was in der Gesellschaft zu einer Konformität führen könnte, die sich durch eine soziale Kontrolle so nicht ergeben würde, da jene wesentlich wandelbarer und durch die Gegenseitigkeit auch offener und flexibler gestaltbar wäre.

Die Gefahren für die Bürger im Einzelnen und die Gesellschaft insgesamt gehen unter diesen Bedingungen vor allem davon aus, dass die gesammelten Daten nicht für das verwendet werden, wofür sie gesammelt worden sind. Die von den Geheimdiensten in die Gesellschaft gebrachte Kultur des Verdachtes und die Steuerung der Begierden durch die Unternehmen sind somit sich ergänzende Phänomene, die auf ähnlichen Mechanismen beruhen und in der Praxis anschlussfähig sind. Der Wunsch des Staates nach einer vorausschauenden Kontrolle oder der Unternehmen nach Warenabsatz hat zur Konsequenz, dass Möglichkeiten eingeschränkt und Normen möglichst eng geführt werden müssen. Hier erscheinen die Interessen der Geheimdienste und der Unternehmen deckungsgleich zu werden: Die Bürger wie die Konsumenten unterliegen in beiden Fällen einer ständigen Risikoabschätzung, in der sie entweder zu einer potenziellen Gefahr geworden sind oder den Absatz durch die Verweigerung des Konsums zugunsten eigener Wünsche infrage stellen. Es lohnt sich darüber nachzudenken, was passiert, wenn die Überschneidungen so groß sind, dass der Geheimdienst unsere Wünsche steuern kann.

Dr. habil., geb. 1968; arbeitet am Institut für kriminologische Sozialforschung, Universität Hamburg, Allende-Platz 1, 20146 Hamburg. E-Mail Link: nils.zurawski@uni-hamburg.de Externer Link: http://www.surveillance-studies.org