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Das andere 1989: Balkanische Antithesen | Aufbruch '89 | bpb.de

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Das andere 1989: Balkanische Antithesen

Stefan Troebst

/ 15 Minuten zu lesen

Die Geografie des annus mirabilis 1989 zeigt ein östliches Mitteleuropa, bestehend aus Polen und Ungarn sowie, um etliche Monate zeitversetzt, DDR und ČSSR. Hinzu kommt eine teils parallele, kausal aber nur bedingt verknüpfte Entwicklung in der UdSSR. Südosteuropa war von alledem bis Ende 1989 nicht tangiert. Denn das, was in Bulgarien als "Wechsel" bezeichnet wird, sowie die gar als "Revolution" figurierende Entwicklung in Rumänien waren dem Inhalt nach primär Palastrevolten im Zuge von Konflikten innerhalb der Herrschaftselite und in der Form lediglich Imitate dessen, was zuvor in Budapest, Warschau und Leipzig geschehen war. Während in Ostmitteleuropa staatssozialistische Regime unter dem Druck von Gegenkräften einknickten, steigerten die Parteidiktaturen Südosteuropas den Konformitätsdruck auf die Mehrheitsgesellschaften und verstärkten dabei beträchtlich den mit Formeln kommunistischen Sozialingenieurtums verbrämten Assimilierungsdruck auf nationale Minderheiten. Dies galt nicht nur für Gerontokraten wie Todor Živkov, der seit 1954 an der Spitze der Bulgarischen Kommunistischen Partei stand, oder den rumänischen Diktator Nicolae Ceauşescu, seit 1965 im Amt, sondern auch für den neuen starken Mann der jugoslawischen Teilrepublik Serbien, Slobodan Milošević.

Zwei Wochen nach Tadeusz Mazowieckis Wahl zum ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Nachkriegspolens am 24. August 1989 und einen Monat vor dem Leipziger Sieg der Friedlichen Revolution in der DDR am 9. Oktober veröffentlichte Viktor Meier, der langjährige Südosteuropa-Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ), einen Artikel mit dem auf den ersten Blick tautologischen Titel "Der Balkan wird wieder Balkan". Auch der Untertitel nahm sich kryptisch aus: "Das Werk von Schiwkow, Ceauşescu und Milošević". Worum es Meier in dem Artikel ging, war die Verletzung von Menschenrechten in Bulgarien, Rumänien und Jugoslawien durch die nationalistischen, gar rassistischen Nationalitätenpolitiken der drei südosteuropäischen Autokraten. Er beschrieb darin drei Phänomene: erstens das im Frühjahr installierte apartheidähnliche serbische Besatzungsregime in der bis dahin autonomen Provinz Kosovo; zweitens die als "Systematisierung" verharmloste Politik der Zwangsurbanisierung in Rumänien, von der sich vor allem die nationalen Minderheiten bedroht fühlten; und drittens die gewaltsame Assimilierungspolitik des bulgarischen Staates gegenüber der großen türkischen Minderheit des Landes samt staatlich geschürter Fluchtwelle, vom Regime zynisch "Wiedergeburtsprozess" beziehungsweise "Großer Ausflug" genannt. Die geografische Region Balkan, so Meiers Argument, war erneut deckungsgleich mit dem negativen Regionalstereotyp gleichen Namens, das für Bakschisch und Blutrache, Korruption und Gewalttätigkeit, Rückständigkeit und nationalen Überwertigkeitswahn stand. Das Jahr 1989 war ihm zufolge der Beginn einer Re-Balkanisierung des Balkans im schlechtesten Sinne des Wortes.

Zwangsassimilierung, Fluchtwelle, Palastrevolte: Bulgarien

Als extremsten der drei Fälle stellte Meier Bulgarien dar. Denn die seit 1984 umgesetzte zwangsassimilatorische Politik Sofias gegenüber den etwa 900.000 Türkinnen und Türken im Lande hatte zwischen Juni und August 1989 eine staatlich geschürte, massenhafte Fluchtbewegung in die Türkei ausgelöst, die zu einem Rekordrückgang der Bevölkerung des Landes um über drei Prozent und zur Entvölkerung weiter Gebiete im Osten des Landes führte. Was mit einer behördlichen Kampagne zur zwangsweisen Änderung arabisch-islamischer Vor-, Vaters- und Familiennamen in slavisch-christliche Namensformen begonnen hatte und seitens der Betroffenen mit stummem Hass und vereinzelten Terroranschlägen beantwortet wurde, hatte die interethnischen Beziehungen auf einen Tiefpunkt gebracht. Minderheit und Staat standen sich jetzt feindlich gegenüber, während die bulgarische Mehrheitsbevölkerung zu großen Teilen die turkophobe Politik des Živkov-Regimes unterstützte – mit gravierenden Folgen für das Zusammenleben in den ethnisch gemischten Gebieten im Nord- und Südosten des Landes.

1989 gingen in Bulgarien drei auf den ersten Blick unverbundene, auf den zweiten indes interdependente politische Entwicklungen vonstatten: Erstens eskalierten die Spannungen zwischen Staat und türkischer Minderheit in Form von Massenprotesten und anschließender Massenflucht. Zweitens formierte sich eine politische Oppositionsbewegung von Vertreterinnen und Vertretern der Mehrheitsbevölkerung, die zwar klein war, aber intellektuell wirkmächtig und bis in die kommunistische Monopolpartei hineinreichte. Und drittens wuchs in Zentralkomitee (ZK) und Politbüro der Bulgarischen Kommunistischen Partei die Unzufriedenheit mit dem selbstherrlichen Živkov, der die Dynamik der Perestroika in der sowjetischen Führungspartei wie auch seine Amtskollegen in Rumänien und der DDR erkennbar unterschätzte und sich offen dagegen stellte.

Im Frühjahr 1989 kam es zu Hungerstreiks und anderen Protestaktionen von Türken, die im Mai flächendeckend den gesamten Osten des Landes erfassten. Die Staatsmacht, deren Repressionsressourcen durch die Ausbreitung der Widerstandsbewegung auf etwa ein Drittel des Territoriums Bulgariens erkennbar überdehnt wurden, reagierte anfänglich mit Gewalt, wobei über 30 Demonstrantinnen und Demonstranten starben. Sodann zog jedoch die Parteiführung die Notbremse: Am 29. Mai 1989 hielt Partei- und Staatschef Živkov eine Fernseh- und Radioansprache, in der er die vorgezogene Ausgabe von Reisepässen an alle Bürgerinnen und Bürger des Landes ankündigte. Binnen weniger Wochen beantragten daraufhin 370.000 bulgarische Türken die Ausstellung von Reisepässen. In den elf Wochen der Öffnung der bulgarisch-türkischen Grenze durch Ankara vom 3. Juni bis zum 21. August 1989 emigrierten 344.000 von ihnen in die Türkei.

Živkov verlor nun sukzessive die Unterstützung der Partei und geriet selbst im Politbüro in Isolation. Am 24. Oktober erklärte sein langjähriger Adlatus, Außenminister Petăr Mladenov, in einem offenen Brief an die Parteiführung als Zeichen des Protestes gegen Živkovs "Abkehr von UdSSR und KPdSU" seinen Rücktritt als Minister (nicht aber als Politbüromitglied). Anschließend holte er sich in Moskau die informelle Zustimmung für den Sturz des seit 35 Jahren herrschenden Partei- und Staatschefs. Am 10. November, einen Tag nach der unfreiwilligen Öffnung der Berliner Mauer durch die SED, nötigte er im ZK-Plenum Živkov zum Rücktritt von all seinen Funktionen. Zugleich übernahm er von dem Gestürzten das Amt des Generalsekretärs der Partei und eine Woche später auch dasjenige des Staatsratsvorsitzenden.

Es folgten eine allmähliche Transformation der weiterhin regierenden kommunistischen zu einer linkssozialdemokratischen Partei sowie eine Formierung der Opposition zum parteiübergreifenden Bündnis "Union demokratischer Kräfte". Vor allem aber stiegen die interethnischen Spannungen im Land dramatisch an. Denn sowohl dagebliebene als auch nun aus der Türkei zurückkehrende Türken forderten, die Namensänderungen rückgängig zu machen, und organisierten wochenlange Demonstrationen vor dem Parlamentsgebäude. Am 29. Dezember 1989 fassten Staatsrat und Ministerrat einen Beschluss, in dem die "angewandten Zwangsmaßnahmen bei der Namensänderung von bulgarischen Staatsbürgern, die moslemische Namen trugen", auf "willkürliche und von einzelnen Personen gefasste Beschlüsse während des totalitären Regimes" zurückgeführt und als "grobe Verletzung der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz" verurteilt wurden. Zugleich wurde eine Rückgängigmachung der Zwangsumbenennung sowie des Verbots der türkischen Sprache und anderer diskriminierender Maßnahmen angekündigt. Darauf wiederum reagierten große Teile der bulgarischen Mehrheitsgesellschaft vor allem im Osten des Landes mit Empörung, Angst und Aggression. Der Parteiapparat in den gemischt besiedelten Gebieten, die dortigen Außenstellen der Staatssicherheit, aber auch Betriebsleitungen und Lehrerkollektive organisierten sich am 31. Dezember in einem Gesamtvölkischen Komitee zur Verteidigung der nationalen Interessen. Hauptforderung war ein Referendum über die Ergebnisse des "Wiedergeburtsprozesses", um eine Aufhebung der Zwangsumbenennung und eine Legalisierung der türkischen Sprache zu verhindern. In der ersten Januarwoche 1990 fanden in zahlreichen Städten im Osten und Süden des Landes Demonstrationen, Kundgebungen und Autocorsi von zehntausenden Bulgarinnen und Bulgaren statt, bei denen Losungen wie "In Bulgarien nur bulgarische Namen!" oder – unter Anspielung auf die osmanische Herrschaft – "Sind 500 Jahre denn nicht genug?" skandiert und plakatiert wurden. Nur mit großer Mühe gelang es der Regierung gemeinsam mit dem neuen Oppositionsbündnis und der neu formierten Partei der bulgarischen Türken, der Bewegung für Rechte und Freiheiten, die ethnopolitische Hochspannung binnen anderthalb Jahren abzubauen.

In Geschichtspolitik und Erinnerungskultur Bulgariens ist die Zwangsassimilierungskampagne der Jahre 1984 bis 1989 das bis heute bei weitem heikelste Thema. Über die Schrecken des kommunistischen Lagersystems oder die Verwerflichkeit der sogenannten Regenschirmmorde an Oppositionellen im Exil durch das Komitee für Staatssicherheit können sich die Bulgaren fast ausnahmslos verständigen. Für den "Wiedergeburtsprozess" und den "Großen Ausflug" gilt dies nicht. Zwar hat das bulgarische Parlament im Januar 2012, 22 Jahre nach dem Beginn des Demokratisierungsprozesses, die Zwangsassimilierung in einer Erklärung verurteilt. Doch Parolen wie "Bulgarien den Bulgaren!" und "Türken raus!" sind bis heute Bestandteil der politischen Kultur des Landes.

Dorfvernichtungspläne, Hungerrebellion, Tyrannenmord: Rumänien

Das Rumänien Ceauşescus war 1989 das Armenhaus Europas. Lebensmittel, Kleidung und Schuhe waren, wenn überhaupt, nur mit Zuteilungskarten und in schlechter Qualität zu bekommen, die Fernheizungssysteme blieben auch im Winter abgeschaltet, Elektrizität, Gas und Benzin wurden strengstens rationiert und medizinische Versorgung nur gegen Schmiergeldzahlung geleistet. Zugleich dröhnte die Parteipropaganda unvermindert weiter, und die Geheimpolizei Securitate war allgegenwärtig.

Am 15. Dezember 1989 lief das Fass über, als es in Temeschwar, der zweitgrößten Stadt des Landes und Zentrum der multiethnischen Grenzregion Banat, zu einem regelrechten Volksaufstand gegen das kommunistische Regime kam. Vom 17. Dezember an schossen die Sicherheitskräfte gezielt auf Demonstranten, was zu einem Überschwappen der Proteste auf die Hauptstadt führte. In den folgenden Tagen fielen über tausend Menschen der Gewalt der Securitate zum Opfer. Bereits am 22. Dezember war der Diktator Ceauşescu geflohen, wurde aber gefasst und am 25. Dezember gemeinsam mit seiner Ehefrau vor ein Schnellgericht gestellt und hingerichtet. Eine Parteifraktion um Ion Iliescu, die gemeinsam mit in Ungnade gefallenen Altkommunistinnen und -kommunisten, Militärs, Geheimdienstoffizieren und einigen Alibi-Dissidentinnen und -Dissidenten als "Front der nationalen Rettung" auftrat, übernahm jetzt staatsstreichartig die Macht und bildete am 27. Dezember eine provisorische Regierung.

Die Erinnerung an Hungerrebellion, Palastrevolte und die vielen Toten der beiden letzten Wochen des Jahres 1989 überlagert in Rumänien heute jene an die landesweite Welle von Zukunftsangst, welche die Verlautbarungen des Regimes über die Intensivierung der "Systematisierung" jetzt auch im ländlichen Bereich ausgelöst hatte. Die Umsetzung des 1974 verabschiedeten "Gesetzes 58/1974 zur Systematisierung des Territoriums sowie urbaner und ruraler Ortschaften" war ab 1. März 1978 mittels Einebnung historischer Stadtzentren erfolgt, um Platz für Neubauten zu schaffen. Der Historiker Dinu C. Giurescu konstatierte 1989, dass damals in 29 rumänischen Städten bereits 85 Prozent der historischen Bausubstanz (einschließlich Kirchen und Friedhöfe) zerstört waren, darunter auch die der Hauptstadt, und in 37 weiteren Städten die Abrissarbeiten begonnen hatten. Auf dem Land hingegen war die "Systematisierungskampagne" nur schleppend verlaufen. Daher erließ das Regime 1988 mehrere Dekrete zu ihrer Beschleunigung. Bis zu 6.000 der 13.000 Ortschaften Rumäniens, so Ceauşescu in einer Rede am 3. März 1988, sollten jetzt "systematisiert" werden. Anstelle dieser Dörfer sollten 550 "agro-industrielle Zentren" mit Wohnraum für jeweils mindestens 5.000 Menschen gebaut und die vormaligen Dorfbewohnerinnen und -bewohner dorthin zwangsumgesiedelt werden. Allein diese Ankündigungen lösten landesweit Verunsicherung bis hin zu Panik aus.

Auch wenn das gesamte Land unter Ceauşescus zerstörerischem Modernisierungswahn litt, sahen kritische Beobachterinnen und Beobachter innerhalb und außerhalb Rumäniens die ungarische, deutsche und Székler-Minderheit in Siebenbürgen sowie die serbische und deutsche im Banat als Hauptzielgruppen für die Umsiedlungen in Agrostädte. Damit, so die Befürchtung, sollten kompakte rurale Siedlungsgebiete der Minderheiten, die damals neun Prozent der Bevölkerung ausmachten, aufgelöst werden. Die Neubelebung der "Systematisierungsmanie" im Jahr 1988 löste entsprechend vehemente Proteste in den Nachbarstaaten aus. Im Mai 1988 protestierte die neue Staats- und Parteiführung Ungarns gegen Ceauşescus Pläne und im Juli verurteilten die Außenminister Österreichs und der Bundesrepublik Deutschland, Alois Mock und Hans-Dietrich Genscher, diese als gravierende Menschenrechtsverletzung. Am 9. März 1989 verurteilte die UN-Menschenrechtskommission mit der Stimme des Warschauer Pakt-Mitglieds Ungarn und bei Stimmenthaltung der UdSSR, der DDR und Bulgariens den Abriss von Dörfern in Rumänien und die dortige repressive Minderheitenpolitik. Eine Woche später verabschiedete auch das Europäische Parlament eine Resolution gegen die Verletzung elementarer Menschenrechte durch das Ceauşescu-Regime, in der an erster Stelle die Politik ruraler Zwangsumsiedlung firmierte – neben der Unterdrückung nationaler Minderheiten, der repressiven Bevölkerungspolitik, die Geburtenkontrolle und Abtreibung unter Strafe stellte, und der Zwangseinweisung von Dissidenten in psychiatrische Anstalten.

So konfliktträchtig und widersprüchlich die rumänische "Wende"-Variante samt ihrer Folgen auch war, so positiv hat sich der Regimewandel doch in puncto "Systematisierung" ausgewirkt – für die Bevölkerungsmehrheit wie für die Minderheiten: Die Umsetzung des megalomanen Plans, nach den Städten Rumäniens auch seine Dörfer zu zerstören, konnte in letzter Minute verhindert werden.

Sezession, Apartheidsregime, Staatszerfall: Serbien in Jugoslawien

Anders als für Bulgarien und Rumänien brachte das Jahresende 1989 für Jugoslawien keinen Systemwechsel, sondern irreparable Risse in seiner föderalen Struktur, sodass die Systemkrise in der gesamten Osthälfte Europas dort die Form von Staatszerfall annahm. Der italienische Politikwissenschaftler Daniele Conversi hat dabei die landläufige Sicht einer 1989 beginnenden Abspaltung Sloweniens sowie sukzessive Kroatiens vom Gesamtstaat durch eine gegenläufige Deutung konterkariert: Ihm zufolge hat sich das politische Zentrum der Föderation, nämlich die Teilrepublik Serbien samt der auf ihrem Territorium gelegenen Bundeshauptstadt Belgrad und der von ihr kontrollierten Bundesorgane – wie Jugoslawische Volksarmee, Bundespolizei und Zoll – durch mehrfachen Bruch der Bundesverfassung aus dem Staatsverband hinaus katapultiert. Auch der US-kroatische Historiker Ivo Banac teilt diese Sichtweise, wobei er insbesondere auf die verfassungswidrige Aufhebung der Territorialautonomie der beiden Sozialistischen Autonomen Provinzen Vojvodina und Kosovo innerhalb der Teilrepublik Serbien im März 1989 verweist. Desgleichen markiert für die deutsche Südosteuropahistorikerin Marie-Janine Calic "1989 (den) Anfang vom Ende", wobei auch sie auf den Autonomieverlust der beiden Provinzen abhebt.

Als treibende Kraft dieser "Sezession des Zentrums" nutzte der 1987 an die Spitze des Bundes der Kommunisten Serbiens gelangte Slobodan Milošević seine im Mai 1989 gewonnene Stellung als Präsident der Teilrepublik Serbien, um den jugoslawischen Föderalismus im serbischen Sinne unter dem Schlagwort einer "antibürokratischen Revolution" umzugestalten: Statt des Konsensprinzips sollte von nun an auf Bundesebene das Mehrheitsprinzip gelten – was einer serbischen Hegemonie gleichkam. Denn von den acht Stimmen im Föderationsrat kontrollierte Milošević vier: die Serbiens, diejenigen der formal weiterbestehenden Föderationssubjekte Vojvodina und Kosovo sowie die des kurz zuvor gleichgeschalteten Montenegro. Angesichts der schwankenden Haltung von Mazedonien, Bosnien und Herzegowina gerieten die beiden nördlichen Republiken Slowenien und Kroatien so in eine strukturelle Minderheitenposition. Der Bruch, den der Verfassungsstreit zwischen den Protagonisten Serbien und Slowenien ausgelöst hatte, wurde auf dem außerordentlichen 14. Kongress des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens im Januar 1990 offenkundig. Serbien und Montenegro drängten auf stärkere Zentralisierung, Slowenien und Kroatien auf mehr Selbstständigkeit und Mazedonien und Bosnien versuchten das Titosche Prinzip von "Brüderlichkeit und Einheit" der "Völker und nationalen Minderheiten Jugoslawiens" zu retten. Der Kongress endete mit dem Zerfall der Gesamtpartei.

Verstärkt wurden die zentrifugalen Kräfte durch das Ende des Kalten Krieges, fiel doch jetzt der den blockfreien Bundesstaat zusammenhaltende äußere Druck weg. Und mit dem Ende des Kommunismus in Ostmittel- und Südosteuropa sowie in Eurasien hatte sich auch das als "Dritter Weg" vermarktete jugoslawische Sozialismusmodell mit seinen marktwirtschaftlichen Spurenelementen überlebt. Die raison d’être einer (fast) alle Südslawinnen und -slawen umfassenden Bundesrepublik war nicht mehr gegeben – dies war Ende 1989 unübersehbar. 1990 begann daher ein erst 2008 abgeschlossener und in den Jahren 1991 bis 1995 sowie 1998 bis 1999 überaus blutiger Prozess der Dekomposition der Titoschen Föderation in sieben Nachfolgestaaten.

Die dramatischste Form nahmen 1989 die innerjugoslawischen Gegensätze im Südteil Serbiens, der Provinz Kosovo, an. Milošević setzte beim Ausbau seiner Machtstellung vor allem auf Nationalismus. Das Tito zugeschriebene Prinzip "Serbien muss schwach sein, damit Jugoslawien stark ist!" galt es ihm zufolge ein für alle Mal mittels serbischer Dominanz über die anderen Teilrepubliken außer Kraft zu setzen. Die Region Kosovo bot sich gleich aus zwei Gründen als Exempel an. Zum einen konnte hier die "Schmach" beseitigt werden, dass mit der Tito-Verfassung von 1974 Serbien als einzige Teilrepublik autonome Provinzen tolerieren musste. Zum anderen aber griff er auf den mittelalterlichen Kosovo-Mythos zurück, demzufolge diese Region das Herzland aller Serbinnen und Serben sei. So zielte Miloševićs Streben nach Hegemonie innerhalb Jugoslawiens zu Beginn der 1990er Jahre auf ein aus großen Teilen des implodierten Bundesstaates bestehendes Großserbien.

Für die Kosovo-Albanerinnen und -Albaner begann im Frühjahr 1989 eine zehnjährige Leidenszeit, die im Frühsommer 1999 in der massenhaften ethnischen Säuberung von über 900.000 von ihnen über die Landesgrenzen hinweg nach Mazedonien und Albanien, durchgeführt von regulären wie irregulären serbischen Sicherheitskräften, kulminierte. Mindestens 5.000 albanische Kosovarinnen und Kosovaren wurden dabei getötet. Bereits im November 1988 hatte Milošević als serbischer Parteichef ihm hörige Funktionäre an die Spitze des ZKs des Bundes der Kommunisten des Kosovo gesetzt, was zum einen Massendemonstrationen in Prishtina, zum anderen nationalistische Gegenkundgebungen in Belgrad auslöste. Im Februar 1989 traten die kosovo-albanischen Bergleute in einen Hungerstreik, der umgehend zu einem die gesamte Provinz erfassenden Generalstreik auswuchs. Am 23. März zwang die serbische Republikführung unter Androhung von Gewalt durch Armee und Miliz die Provinzparlamente des Kosovo und der Vojvodina, einer Änderung der Verfassung Serbiens zuzustimmen, die die beiden autonomen Provinzen abschaffte. Im Zuge neuerlicher Massendemonstrationen und der Verhängung des Ausnahmezustandes gab es im Kosovo mindestens 29 Tote und zahlreiche Verletzte. Milošević krönte seinen Triumph mit der 600-Jahr-Feier der Schlacht auf dem Amselfeld am symbolträchtigen St. Veitstag, dem 28. Juni 1989, an der Gedenkstätte Gazimestan bei Prishtina vor einer Million Menschen. In seiner Rede identifizierte er "Heldentum" als Hauptcharakteristikum der Geschichte Serbiens und der Serben von der Schlacht 1389 bis zur Gegenwart und forderte Heroismus auch für die Zukunft: "Heute, sechs Jahrhunderte später, stehen wir wieder in Schlachten und vor Schlachten".

Vom Frühjahr 1989 bis zum Abkommen von Kumanovo am 9. Juni 1999 zwischen der serbisch kommandierten Jugoslawischen Volksarmee und der NATO über den Rückzug serbischer Sicherheitskräfte befand sich der Kosovo unter einem apartheidähnlichen serbischen Okkupationsregime, in dem Albaner praktisch rechtlos waren. Dennoch blieb der albanische Widerstand gegen Belgrad lange Zeit gewaltfrei. Unter der Leitung der von Ibrahim Rugova geführten Demokratischen Liga des Kosovo bauten die Albaner ihren "Schattenstaat" mit eigenen Bildungs- und Gesundheitsstrukturen auf. Eine der bittersten Lektionen der Gewaltfreiheitsgeschichte des 20. Jahrhunderts ist, dass sich die pazifistische Option für die Albaner im Kosovo nicht ausgezahlt hat. Außer Lob für ihre Friedfertigkeit erhielten sie von der Staatengemeinschaft nichts. Erst als Militante die Befreiungsarmee des Kosovo UÇK formierten und Rugova beiseite drängten, realisierte die Weltöffentlichkeit 1998, dass Handlungsbedarf bestand.

In der Erinnerung der Kosovo-Albaner endeten 1989 die mit dem Namen Tito verbundenen 15 Autonomie-Jahre in der jugoslawischen Periode ihrer Nationalgeschichte. Was folgte, waren serbische Okkupation, passiver Widerstand, bewaffneter Kampf und schließlich Eigenstaatlichkeit. Das dramatische Jahrzehnt von 1989 bis 1999 lässt dabei wenig Raum für Jugo-Nostalgie.

Fazit

Auch wenn die Wirkungen des Jahres 1989 in Bulgarien und Rumänien in der Folgezeit eine Liberalisierung und eine partielle Demokratisierung mit sich brachten, sind die Unterschiede zum Entwicklungsverlauf in Ostmitteleuropa eklatant – mit bis heute erkennbaren Folgen. In der zerbrechenden jugoslawischen Föderation kam es zu Staaten- und Bürgerkriegen, die 1995 nur teilweise durch internationale Intervention und das Dayton-Abkommen beendet wurden. Denn die 1989 einsetzende serbische Repressionspolitik im Kosovo eskalierte 1998/1999 in einer gigantischen ethnischen Säuberung, die eine weitere Militärintervention der Staatengemeinschaft auslöste. Für viele, wenn nicht für die meisten Menschen in Südosteuropa, gleicht 1989 daher vielmehr einem annus horribilis.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Viktor Meier, Der Balkan wird wieder Balkan. Das Werk von Schiwkow, Ceauşescu und Milošević, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 8.9.1989, S. 16.

  2. Vgl. Stefan Troebst, Bulgarien 1989: Gewaltarmer Regimewechsel in gewaltträchtigem Umfeld, in: Martin Sabrow (Hrsg.), 1989 und die Rolle der Gewalt, Göttingen 2012, S. 357–383.

  3. Vgl. Wolfgang Höpken, Živkov-Erklärung zu Unruhen unter der türkischen Minderheit Bulgariens. Dokumentation, in: Südosteuropa, 38 (1989) 5, S. 327–332.

  4. Vgl. Wolfgang Höpken, Was geschah am 10. November? Hintergründe zum Živkov-Sturz, in: Südosteuropa, 39 (1990) 10, S. 627–641.

  5. Vgl. Wolfgang Höpken, Sofias Kurskorrektur in der Türken-Politik. Dokumentation, in: Südosteuropa, 39 (1990) 1, S. 76–79.

  6. Vgl. Stefan Troebst, "Demokratie als ethnisch geschlossene Veranstaltung": Nationalistischer Integrationsdruck und politische Formierung der nationalen Minderheiten in Bulgarien (1989-April 1991), in: Wolfgang Höpken (Hrsg.), Revolution auf Raten – Bulgariens Weg zur Demokratie, München 1996, S. 117–172.

  7. Vgl. Evgenia Kalinova, Remembering the "Revival Process" in Post-1989 Bulgaria, in: August Dimou et al. (Hrsg.), Remembering Communism. Private and Public Recollections of Lived Experience in Southeast Europe, Budapest–New York 2014, S. 567–593.

  8. Vgl. hier und im Folgenden Peter Ulrich Weiss, Traumatische Befreiung. Die rumänische Revolution von 1989/90 als unbewältigte Gewalterfahrung, in: M. Sabrow (Anm. 2), S. 304–337 sowie Dragoş Petrescu, Explaining the Romanian Revolution of 1989. Culture, Structure, and Contingency, Bukarest 2010.

  9. Vgl. Dietmar Müller, Strategien des öffentlichen Erinnerns in Rumänien nach 1989: Postkommunisten und postkommunistische Antikommunisten, in: Ulf Brunnbauer/Stefan Troebst (Hrsg.), Zwischen Amnesie und Nostalgie. Die Erinnerung an den Kommunismus in Südosteuropa, Köln u.a. 2007, S. 47–69.

  10. Vgl. Dinu C. Giurescu, The Razing of Romania’s Past, Washington, DC, 1989, S. X.

  11. Vgl. Dennis Deletant, Social Engineering in Romania: Ceauşescu’s Systematization Program, 1965–1989, in: Romanian Civilization, 2 (1993) 1, S. 53–74.

  12. Vgl. Cristina Petrescu, From Robin Hood to Don Quixote. Resistance and Dissent in Communist Romania, Bukarest 2013, S. 93–215.

  13. Vgl. Daniele Conversi, The Dissolution of Yugoslavia: Secession by the Centre?, in: John Coakley (Hrsg.), The Territorial Management of Ethnic Conflicts, London 2003², S. 264–292.

  14. Vgl. Ivo Banac, Post-Communism as Post-Yugoslavism: The Yugoslav Non-Revolutions of 1989–1990, in: ders. (Hrsg.), Eastern Europe in Revolution, Ithaca-London 1992, S. 168–187.

  15. Marie-Janine Calic, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 297.

  16. Vgl. Holm Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen, Wien u.a. 2012, S. 253–277.

  17. Zit. nach: ebd., S. 262.

  18. Vgl. Stefan Troebst, Chronologie einer gescheiterte Prävention: Vom Konflikt zum Krieg im Kosovo, 1989–1999, in: Osteuropa, 49 (1999) 8, S. 777–795.

  19. Vgl. Stephanie Schwandner-Sievers/Isabel Ströhle, Der Nachhall des Sozialismus in der albanischen Erinnerung im Nachkriegskosovo, in U. Brunnbauer/S. Troebst (Anm. 9), S. 216 -235.

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Dr. phil. habil., geb. 1955; Professor für Kulturstudien Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig; stellv. Direktor des dortigen Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Reichsstr. 4–6, 04109 Leipzig. E-Mail Link: troebst@uni-leipzig.de