Ist die DDR ausgeforscht? Phasen, Trends und ein optimistischer Ausblick
Das Zusammentreffen von Archivrevolution[1] und Übertragung des westdeutschen Wissenschaftsbetriebs auf Ostdeutschland führte im vereinigten Deutschland dazu, dass sich die "Historikerzunft" in ihrer ganzen Breite, von konservativ-liberal über SPD-nah bis linksliberal-alternativ und über alle Subdisziplinen hinweg dem Thema "DDR" zuwandte und es binnen eines Jahrzehnts zusammen mit der internationalen scientific community zu einer, wenn nicht der am dichtesten und gründlichsten erforschten Regionen der Weltgeschichte nach 1945 machte. Ein erster, noch immer eindrucksvoller und mit Gewinn zu lesender Überblick über die immense Frucht dieser Forschungseuphorie der 1990er Jahre erschien 2003 aus Anlass des 75. Geburtstags des unbestrittenen Doyens der DDR-Forschung Hermann Weber unter dem Titel "Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung".[2] Anstatt die bereits darin ausgebreitete und heute noch immer gültige Vielfalt der hochspezialisierten Forschungsthemen erneut zu rekapitulieren, sollen im Folgenden grundlegende Phasen und Trends der Entwicklung bis in die Gegenwart sowie ein Ausblick skizziert werden.Traditionelle Politikgeschichte im Zeichen des Totalitarismusansatzes
Die Aktenöffnung der DDR-Quellen auf ganzer Breite eröffnete zunächst einmal die Möglichkeit, binnen kurzer Zeit großflächig "Tatsachen" der DDR-Vergangenheit zu entdecken und festzuhalten, etliche der "weißen Flecken" der Kommunismusgeschichte (Hermann Weber) zu beseitigen und mit einigen Legenden aufzuräumen. Es lag daher in der Natur der Sache, dass während der ersten Welle der DDR-Forschungen nach der Archivrevolution ein positivistisches Verständnis historischer Ereignisse vorherrschte, das sich vor allem an den Strukturen und Aktionen des Herrschaftsapparates orientierte. Nur zum Teil verband sich diese fachwissenschaftliche Perspektive mit der sofort nach 1989 einsetzenden Rehabilitierung der Totalitarismustheorie. In den Diskussionen der Enquêtekommissionen des Deutschen Bundestages, in publizistischen Debatten, vor allem auch in den damit verbundenen politikwissenschaftlichen Kontroversen fanden verschiedene Spiel- und Lesarten dieses Konzepts hingegen deutlich breiteren Anklang. Das war vor allem dem postrevolutionären Erfordernis der eindeutigen Entlarvung und Denunzierung des SED-Regimes und der Sowjetherrschaft als eine mit der Nazi-Diktatur grundsätzlich vergleichbare Gewalt- und Willkürherrschaft zu verdanken. Allerdings stand die Abstraktheit dieser Debatte mit ihren Typenbildungen und Strukturmerkmalskatalogen in einer gewissen Spannung zu zahlreichen quellengesättigten Rekonstruktionen, in denen das Attribut "totalitär" eher als rhetorisches Beiwerk fungierte.Die weitgehend unangefochtene Rede von "der" totalitären Diktatur in den Sonntagsreden der Politikerinnen und Politiker und in den Feuilletons stellt sich rückblickend betrachtet als ein Pseudo-Triumph der Theorien totalitärer Herrschaft heraus, zumindest wenn man die professionelle Erforschung der DDR-Vergangenheit im Fach Geschichte zum Maßstab nimmt. Das ist am allerwenigsten diesen Theorien in ihrer ursprünglichen Ausarbeitung anzulasten. Sie waren als Gegenwartsdiagnosen verfasst worden, um inmitten des welthistorischen Konflikts zwischen liberalen Demokratien und verschiedenen Spielarten extremer Gewaltherrschaft zu seinem tieferen Verständnis beizutragen – und nicht als Gebrauchsanleitungen für deren rückblickende empirisch-historische Erforschung nach dem Ende des Konflikts, das in diesen Theorien in der Regel kaum "vorgesehen" war. Vieles von dem, was an solider Rekonstruktion politischer Herrschaftsgeschichte aus den neu zugänglichen Quellen erarbeitet wurde, ließ sich daher ohne größere Mühe unter dem Dach einer formelhaft verkürzten Lesart dieses Ansatzes platzieren. Das hat eine Reihe verdienstvoller, noch heute lesenswerter Arbeiten zur Herrschaftsgeschichte der DDR entstehen lassen.[3]
Frage nach der DDR als Gesellschaft
Zum Zeitpunkt der Vereinigung spielte die westdeutsche, mittlerweile um geschlechter- und alltagshistorische Ansätze erweiterte Sozialgeschichte in den Beratungsgremien der Wissenschaftspolitik eine tonangebende Rolle und prägte folglich auch den Umgestaltungsprozess der ostdeutschen Universitäts- und Forschungslandschaft. Ihre Vertreterinnen und Vertreter nahmen die Herausforderung an, ihr explizites, sich dezidiert eklektizistisch aus dem Repertoire der Nachbarwissenschaften speisendes Methoden- und Theorieverständnis nun anhand des neuen Forschungsgegenstandes "DDR" weiterzuentwickeln. Den sichtbaren Anfang bildete ein von Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka und Hartmut Zwahr herausgegebener Tagungsband "Sozialgeschichte der DDR"[4] und einige in der Zeitschrift "Geschichte und Gesellschaft" veröffentlichte Beiträge.[5] Auch der von Richard Bessel, einem britischen Sozialhistoriker, und Ralph Jessen, einem Schüler von Jürgen Kocka, herausgegebene Tagungsband "Die Grenzen der Diktatur" von 1996 gehört zu diesen ersten Positionsbestimmungen einer Gesellschaftsgeschichte der DDR als einer "modernen Diktatur".[6] Die Überformung aller sozialen und kulturellen Beziehungen durch den Gestaltungsanspruch der SED und des von ihr befehligten Staatsapparates stellten ihr zentrales konzeptionelles Problem dar.Sozialgeschichte war in Nachfolge von Marx und Weber immer von einer relativen Autonomie der durch Produktions- und Reproduktionsverhältnisse gestifteten sozialen Beziehungen ausgegangen, um anschließend einen Bezug zur Sphäre des Staates herzustellen. In der staatssozialistischen Diktatur funktionierte es umgekehrt: Alles Soziale schien gemäß dem Herrschaftsanspruch der Monopolpartei und ihrer Ideologie aus dem Politischen abgeleitet.[7] Auf der Suche nach Möglichkeiten, dennoch ein genuin sozialgeschichtliches Untersuchungsobjekt zu bestimmen, erlangten die mikrohistorische und erfahrungsgeschichtliche Herangehensweise der Alltagsgeschichte, denen das Establishment der "Bielefelder" zehn Jahre zuvor noch polemisch entgegengetreten war, einen Bedeutungszuwachs: Ganz offensichtlich wäre eine auf die Makroebene beschränkte Sozialgeschichte der DDR bei ihrer "Draufsicht" der Wirklichkeitskonstruktion des seinerzeitigen Wahrheitsmonopolisten SED verhaftet geblieben. Auf die unterste und mittlere Ebene zu gehen und von den individuellen Akteuren her die Herrschaftspraxis im SED-Staat nachzuzeichnen und nicht lediglich das Herrschaftsdesign, ermöglichte die Entdeckung des Informellen, des mangels Meinungsfreiheit Unausgesprochenen, und damit die Rekonstruktion sozialer Beziehungen unterhalb und außerhalb des vom SED-Staat vorgegebenen institutionellen Rahmens.[8]
Als Forschungsprogramm umgesetzt, brachte diese Perspektive bis auf den heutigen Tag eine Fülle an spezialisierten Einzelstudien und Überblicksdarstellungen hervor, die zusammen mit den erwähnten Darstellungen der politischen Institutionen, der Herrschaftsapparate und insbesondere der politischen Opposition in der DDR seit ungefähr Mitte der 2000er Jahre einen vorläufigen "Sättigungsgrad" in Sachen DDR-Forschung zeitigten. Von den behandelten Zeitabschnitten her standen zunächst die frühen DDR-Jahrzehnte bis zum Mauerbau und anschließend bis zum Ende der Ulbricht-Ära im Mittelpunkt, bei einem gleichzeitigen Fokus auf die Geschichte und unmittelbare Vorgeschichte der Friedlichen Revolution. In den vergangenen zehn Jahren rückte zunehmend die dazwischenliegende Zeit der Honecker-Ära in den Mittelpunkt des Interesses, und derzeit wenden sich DDR-Forscherinnen und -Forscher vereinzelt einem Zeitraum zu, der bislang von der "Transformationsforschung" bearbeitet wurde. In Ostdeutschland wie im ehemaligen Ostblock harren die Prozesse der Demokratisierung und des Übergangs zum Kapitalismus einer systematischen Historisierung.[9]
Auch wenn wir jetzt, fast 25 Jahre nach dem Ende der DDR, in der Zeit "nach dem großen Boom" der DDR-Forschung angelangt sind, bleibt im vereinigten Deutschland, im Vergleich etwa mit seinen postkommunistischen Nachbarn, die kommunistische Diktatur im eigenen Land weiterhin ein fester Bestandteil der reflexiven und selbstkritischen Geschichtskultur.[10] Dies ist sowohl den vielfältigen Projektförderungen zu verdanken als auch dem Pluralismus der Trägerinstitutionen und Massenmedien sowie der politischen und methodologischen Orientierungen – und nicht zuletzt dem anhaltenden Interesse nicht nur der eigenen Gesellschaft, sondern auch der europäischen und nordamerikanischen scientific community. Dabei kann an einige Gewissheiten angeknüpft werden, die sich nach und nach "eingebürgert" haben: Der Diktaturcharakter des politischen Systems der DDR ist unstrittig, versinnbildlicht in der diktatorischen Stellung der SED-Führung und der übermächtigen Stellung des Repressionsorgans MfS als "Schild und Schwert der Partei".[11] Ebenso hat sich die Sichtweise etabliert, dass SED-Herrschaftssystem und DDR-Gesellschaft nicht unversehens gleichzusetzen sind. Bei weitem nicht alles, was in der DDR "war", ist allein aus dem diktatorischen Charakter ihres politischen Systems zu erklären. Ebenso hat sich herumgesprochen, dass nicht ein Entweder-oder, sondern nur ein konstruktives Neben- und Miteinander von methodischen Zugängen weiterführt: Es heißt nicht mehr "Alltagsgeschichte" oder "Repressionsgeschichte", sondern "Repression im Alltag" und "Alltag der Repression und der Repressionsorgane".[12]
Dennoch: Oberflächlich betrachtet fällt es heute nicht mehr so leicht, Themen oder Bereiche zu benennen, zu denen es noch rein gar nichts "gibt". Wer das Geschäft seit den frühen 1990er Jahren mitverfolgt und -gestaltet hat, dem kommt heute beim Lesen der Rezensionen oder Drittmittelanträge immer öfter das Diktum Karl Valentins in den Sinn, wonach zwar schon alles gesagt sei, aber eben noch nicht von allen. Wir dürfen uns also bei der Beantwortung der Frage, ob die DDR "ausgeforscht" sei, nicht mehr, wie damals, von der Suche nach noch völlig unbekannten Gegenständen und Ereignissen leiten lassen. Was mehr denn je das Innovative in der Forschung ausmacht, ist nicht das einzelne Untersuchungsobjekt, sondern die wissenschaftliche Fragestellung und mit ihr das über die SBZ und die DDR hinausweisende Erkenntnisinteresse. Die DDR als Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsfeld reiht sich nun in die übrigen Gegenstandsbereiche und Epochen der historischen Forschung ein. Wie bei Themen der Frühen Neuzeit oder des 19. Jahrhunderts muss auch bei der DDR jede neue Forscher-Kohorte, von einem umfangreichen wissenschaftlich und kulturell überlieferten Vorwissen ausgehend, immer wieder diejenigen Fragen und Erkenntnisinteressen neu entdecken und formulieren, die für ihre Zeit am bedeutsamsten und aufschlussreichsten sind. Das Argument, dass man X oder Y "in der DDR" erforschen muss, nur weil es noch keiner gemacht hat, zieht nicht mehr. Auf der Ebene der bloßen Tatsachen wird die Wahrscheinlichkeit der unverhofften Überraschungen und der gelüfteten Geheimnisse immer geringer – es sei denn, es tritt das Moment einer aus Gegenwartsinteressen abgeleiteten Fragestellung hinzu, die so noch nicht an Untersuchungsgegenstände der DDR-Forschung herangetragen worden war.