Von Einzigartigkeit über Normalität zu Staatsräson: 50 Jahre diplomatische Beziehungen - Essay
Konrad Adenauer wünschte sich, durch das Luxemburger Abkommen 1953 "zu einem ganz neuen Verhältnis zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk wie auch zu einer Normalisierung der Beziehungen" zu gelangen.[1]Außenminister Walter Scheel beschrieb die deutsch-israelischen Beziehungen 1969 als "normal".[2] Willy Brandt prägte während seines Israelbesuches im April 1973 die Formulierung, "normale Beziehungen mit einem besonderen Charakter".[3] Helmut Kohls Regierungssprecher Peter Boenisch meinte, dass die Beziehungen sich nicht auf Auschwitz beschränken sollten.[4]
Seitdem hat sich die deutsche "Temperaturprüfung" der Beziehungen auf eine sachlichere Ebene verlagert. Angela Merkel hat bei ihrem Israelbesuch 2008 das Eintreten für die sichere Existenz Israels als deutsche Staatsräson definiert.[5] Als Joachim Gauck das Land 2012 besuchte, wiederholte er diese Definition nicht, betonte aber, dass die Existenz Israels für die deutsche Politik "bestimmend" sei.[6]
Ungeachtet der Motive für die ständige Temperaturprüfung auf deutscher Seite fällt eine Einschätzung der Beziehungen nach 50 Jahren eindeutig positiv aus. Die politischen Kontakte haben sich im Laufe der Jahre trotz Rückschlägen gut entwickelt, und zwar nicht nur auf bilateraler Ebene, sondern auch im Rahmen der Europäischen Union. Ebenso positiv fällt die Bilanz der Sicherheitszusammenarbeit und militärischen Kontakte aus, die schon vor 1965 aufgenommen worden waren und sowohl für internationalen wie für innenpolitischen Wirbel in beiden Ländern sorgten.[7] Auch die Entwicklung der wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Beziehungen ist mehr als zufriedenstellend.
Schuld und Versöhnung
Der Schatten eines zivilisatorischen Bruchs wie der Shoah[8] scheint indes immer noch lang. Die schier obsessive Intensität, mit der man sich auf deutscher Seite bemühte, Normalität zu beschwören, wirkt bisweilen eher wie ein Versuch, sich von der Schuld freizumachen. Daher auch die scharfen Worte des israelischen Schriftstellers Amos Oz: "Vor allem: Keine Normalisierung."[9] Doch schwingt angesichts der Schwierigkeit jüdischerseits, Vergebung zu erteilen, auch Unverständnis mit. Die Rollenverteilung zwischen Opfer und Täter ist noch immer eindeutig. Oft werden zwei Monologe gehalten, die auf unterschiedlichen kollektiven Erfahrungen basieren, wobei auch die unterschiedlichen historischen Erfahrungen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Bei Deutschen dominiert die Lehre "Nie wieder Krieg", während bei Israelis die Erkenntnis "Nie wieder wehrlos" lautet. Dies bedeutet nicht, dass auf der sachlichen Alltagsebene keine Verständigung möglich ist. Auf der Metaebene erscheint aber eine jüdische Vergebung im theologischen Sinne vorläufig nicht erreichbar.Die Versöhnung ist das säkulare Pendant der Vergebung, und auch sie scheint nicht immer in greifbarer Nähe zu sein. Das deutsche Selbstverständnis ist in einer europäischen Identität eingebettet und damit längst in die postnationale Phase eingetreten. In Israel hat indes das Primat der Selbstverteidigung das nationale Selbstverständnis entscheidend geprägt. Israel sieht sich mit einer Nachbarschaft konfrontiert, die immer noch Schwierigkeiten hat, das Recht des jüdischen Volkes auf sein Heimatland zu akzeptieren. Darüber hinaus hat sich im Nahen Osten die Schwelle zur Gewaltanwendung als Mittel zur Konfliktregelung erheblich gesenkt. Auch wenn Israel sich mit den besten Vorsätzen taubenhaft gerieren sollte, wäre dies keine Friedensgarantie, da Tauben in der Regel von Falken erlegt werden. Die unbewiesene Behauptung, dass Demokratien Konflikte ohne Gewaltanwendung regeln, hätte für Israel in dieser gewaltbetonten Nachbarschaft schwerwiegende Folgen. Man ist besser beraten, ein Schaf im Wolfspelz zu sein als ein Wolf im Schafsfell.
Adenauers Schuldbekenntnis und seine Bereitschaft, sich der moralischen Verantwortung und materiellen Wiedergutmachung zu stellen, fand in den 1950er Jahren wenig Zuspruch in der deutschen Öffentlichkeit. Dass der Lauf der Geschichte keiner moralischen Weisung gehorcht, ist zwar bedauernswert, aber unvermeidbar. Geschichte ist kein Gerichtshof. Von einer "Stunde null" konnte keine Rede sein. In der frühen Bundesrepublik waren nostalgische Einstellungen zur Nazizeit weit verbreitet, verbunden mit einem latenten, aber stabilen Antisemitismus, der leider Bestandteil der deutschen wie auch der europäischen Seelenlandschaft blieb. Aus realpolitischen, aber auch moralischen Überlegungen war es Adenauer wichtig, diplomatische Beziehungen zum Staat Israel aufzunehmen. In der Tat wollte die deutsche Seite die Aufnahme der Beziehungen mit dem Luxemburger Abkommen von 1953 verknüpfen. Dieser Vorschlag war für Israel jedoch moralisch inakzeptabel. Aus realpolitischen Überlegungen schlug Israel schließlich in der zweiten Hälfte der 1950er und Anfang der 1960er Jahre vor, diplomatische Beziehungen aufzunehmen – und wurde nun zurückgewiesen. Im Mai 1965 "stolperte" die Bundesrepublik gewissermaßen in die Beziehungen mit Israel hinein. Im Mittelpunkt der bundesdeutschen Nahostpolitik standen damals die Hallstein-Doktrin und die Aufrechterhaltung der deutschen Interessen im arabischen Raum.[10] Israel spielte eine untergeordnete Rolle.
Seitdem ist viel Wasser den Rhein beziehungsweise die Spree und den Jordan hinuntergeflossen. Politiker und namhafte Mitglieder der deutschen Elite haben sich aus moralisch-historischen Gründen kontinuierlich zum Existenzrecht und zur Sicherheit des Staates Israel bekannt. Es gilt als politisch korrekt. Einerseits können diese Versicherungen als Unterstützung aufgefasst werden, andererseits begnügt sich Israel nicht immer mit verbalen Freundschaftsbekenntnissen. Und nicht selten kam ein solches Freundschaftsbekenntnis zusammen mit einem Freibrief, legitime, manchmal aber auch unqualifizierte Kritik an Israel zu üben.
Angesichts der endemischen Instabilität in der Region, sei es durch Irans nukleare Ambitionen oder durch den radikalen Islamismus, kann nie ausgeschlossen werden, dass die Frage der sicheren Existenz Israels auf die aktuelle politische Tagesordnung Deutschlands rückt. Die meisten Politiker würden sich solch einer Gretchenfrage entziehen wollen. Die Deutungshoheit darüber, wann eine Bedrohungssituation vorliegt, wird vermutlich in Deutschland bleiben.