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Weltarmut und Menschenrechte – Essay | Entwicklungszusammenarbeit | bpb.de

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Weltarmut und Menschenrechte – Essay

Thomas Pogge

/ 14 Minuten zu lesen

Trotz eines hohen globalen Durchschnittseinkommens leben nach wie vor sehr viele Menschen in extremer Armut. Dass es sich dabei um ein anhaltendes Unrecht handelt, das den Armen der Welt zugefügt wird, erkennen nur wenige.

Trotz eines hohen und wachsenden globalen Durchschnittseinkommens leben nach wie vor sehr viele Menschen in extremer Armut. Bei einer Weltbevölkerung von gegenwärtig rund 7,25 Milliarden Menschen sind nach offiziellen Angaben 805 Millionen Menschen unterernährt, haben mehr als eine Milliarde keine geeignete Unterkunft, etwa 748 Millionen kein sauberes Trinkwasser, rund 1,8 Milliarden keine ausreichenden sanitären Einrichtungen und 1,2 Milliarden keinen elektrischen Strom. Mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung hat keinen verlässlichen Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten und 781 Millionen Menschen über 14 Jahre sind Analphabeten. 168 Millionen Kinder zwischen fünf und 17 Jahren leisten Lohnarbeit, oft unter sklavenähnlichen und gefährlichen Bedingungen: als Soldaten, Prostituierte oder Haushaltshilfen, in der Landwirtschaft, im Bauwesen oder in der Textil- und Teppichwirtschaft. Mindestens ein Drittel aller menschlichen Todesfälle, 18 Millionen pro Jahr, geht auf armutsbedingte Ursachen zurück. Das summiert sich auf etwa 450 Millionen vorzeitige Todesfälle seit Ende des Kalten Krieges – viel mehr in 25 Jahren, als durch staatliche Gewalteinwirkung im 20. Jahrhundert ums Leben kamen.

Dieses Problem ist nicht unlösbar – trotz seiner Dimension. Die ärmere Hälfte der Menschheit verfügt über nur 3,3 Prozent des globalen Haushaltseinkommens und könnte, wenn es nur fünf oder sechs Prozent wären, von allen schwerwiegenden Entbehrungen befreit sein. Noch dramatischere Ungleichheiten existieren in der Verteilung von Vermögen: Das Vermögen der ärmeren Hälfte der Menschheit entspricht jenem der reichsten 66 Milliardäre. Es ist offensichtlich, dass gravierende Armut heute vermeidbar ist.

Bewohnerinnen und Bewohner der wohlhabenderen Länder scheinen jedoch konditioniert zu sein, Schwere und Fortdauer der Weltarmut herunterzuspielen und sie als Anlass für Wohltätigkeit zu betrachten. Zum Teil auch aufgrund wirtschaftswissenschaftlicher Erklärungen wird mehrheitlich die Ansicht vertreten, gravierende Armut sei ausschließlich lokalen Ursachen geschuldet. Wenige erkennen, dass gravierende Armut ein anhaltendes Unrecht ist, das den Armen der Welt zugefügt wird. Würden wir in den wohlhabenden Ländern das wahre Ausmaß des Armutsproblems und unsere kausale Beteiligung daran begreifen, könnten wir das Notwendige unternehmen, um sie zu beseitigen.

Dass Weltarmut ein anhaltendes Unrecht ist, das wir zufügen, scheint den meisten Bewohnern der wohlhabenden Länder jedoch völlig unvorstellbar. Wir nennen es tragisch, dass grundlegende Menschenrechte so vieler unerfüllt bleiben, und sind bereit einzugestehen, dass wir mehr Hilfe leisten sollten. Dass wir aktiv verantwortlich für diese Katastrophe sind, ist für uns undenkbar. Denn dann wären wir, die zivilisierten und gebildeten Bewohner der "entwickelten" Länder, des größten je gegen die Menschlichkeit verübten Verbrechens schuldig. Was könnte abwegiger sein?

Denken wir aber einen Moment lang das Undenkbare. Gibt es Maßnahmen, die die wohlhabenden Länder ergreifen könnten, um gravierende Armut in anderen Ländern zu mindern? In Anbetracht der bereits erwähnten enormen Ungleichheiten bei Einkommen und Gesundheit scheint dies höchst wahrscheinlich. Die Annahme ist jedoch weit verbreitet, die Minderung gravierender Armut in anderen Ländern auf Kosten unseres eigenen Wohlstands sei ein Zeichen von Großzügigkeit und keine Verpflichtung; eine Unterlassung unsererseits sei allenfalls ein Mangel an Großzügigkeit und mache uns nicht moralisch verantwortlich für die fortwährenden Entbehrungen der Armen.

Ich bestreite diese weit verbreitete Annahme. Ich bestreite, dass die wohlhabendsten 20 Prozent der Weltbevölkerung angesichts doppelt so vieler in schwerer Armut lebender Menschen ein moralisches Recht auf ihre 84 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts haben. Ist diese Haltung wirklich so abwegig, dass die Argumente, die für sie sprechen, gar nicht erst in Betracht zu ziehen sind? Erlegt uns die radikale Ungleichheit zwischen unserem Wohlstand und deren Notlage nicht zumindest die Bürde auf, zu beweisen, warum uns moralisch so viel zustehen soll, während andere so wenig haben? Im Folgenden möchte ich die gängige Annahme diskutieren und zeigen, dass die üblichen Methoden, unseren großen Vorteil zu rechtfertigen, fehlschlagen. Meine Argumentation stützt sich auf drei voneinander unabhängige Thesen.

Tatsächliche Geschichte

Viele vertreten die Ansicht, die bestehende radikale Ungleichheit ließe sich mit der Art und Weise ihrer Entstehung rechtfertigen, beispielsweise aufgrund von Unterschieden in Fleiß, Kultur, Gesellschaftsinstitutionen, Bodenqualität, Klima oder schlicht Glück beziehungsweise Pech. Ein Blick auf die den wohlhabenden und ärmeren Ländern gemeinsame blutige Geschichte, durch die diese Ungleichheit entstanden ist, hinterfragt eine solche Rechtfertigung: Zum Großteil entwickelte sie sich in der Kolonialzeit, als die heute wohlhabenden Länder die heute armen Regionen der Welt beherrschten, mit ihren Völkern wie mit Vieh handelten, ihre politischen Institutionen und Kulturen zerstörten, ihnen Land und natürliche Ressourcen raubten und ihnen Produkte und Zölle aufzwangen. Die tatsächlichen geschichtlichen Verbrechen waren so schlimm, vielfältig und folgenreich, dass keine Konzeption historisch legitimierter Eigentumsrechte glaubhaft die Annahme stützen könnte, unsere gemeinsame Geschichte sei gutartig genug, um die heute herrschende gewaltige Ungleichheit in sozioökonomischen Ausgangspositionen zu rechtfertigen.

Thesen wie diese werden häufig mit der bequemen Erwiderung abgetan, wir könnten nicht verantwortlich gemacht werden für die Taten anderer vor unserer Zeit. Diese Erwiderung ist zwar richtig, aber irrelevant. Tatsächlich können wir nicht die Verantwortung für die Sünden unserer Vorväter erben. Doch wie können wir dann glaubhaft die Früchte ihrer Sünden für uns beanspruchen? Wie können wir Anspruch erheben auf den großen Vorsprung, den unsere Länder beim Übergang in das postkoloniale Zeitalter genossen haben, und auf unsere daraus resultierenden gewaltigen Vorteile gegenüber den Armen der Welt?

Ich sage: "Die Aufrechterhaltung von radikaler Ungleichheit ist verwerflich, wenn diese Ungleichheit durch einen moralisch skandalösen historischen Prozess zustande gekommen ist." Demnach schwächt der historische Prozess, der zu unserem außerordentlichen Wohlstand führte, unseren moralischen Anspruch auf diesen in hohem Maße – ganz sicher angesichts derer, die derselbe historische Prozess akuter Entbehrung ausgeliefert hat. Die ärmere Hälfte der Menschheit hat einen wesentlich stärkeren moralischen Anspruch auf jene zusätzlichen zwei Prozent des globalen Bruttosozialprodukts, die sie benötigt, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, als wir wohlhabenden 20 Prozent auf unsere 84 statt 82 Prozent.

Fiktive Geschichten

Andere, die nicht historisch legitimierte Gerechtigkeitskonzeptionen vertreten, sind möglicherweise der Meinung, es sei statthaft, jedwede ökonomische Verteilung aufrechtzuerhalten, und sei sie auch noch so schieflastig, wenn sie nur auf einem moralisch akzeptablen Weg zustande gekommen sein könnte. Sie beharren darauf, wir seien berechtigt, selbst auf Kosten Millionen Toter jährlich unseren Besitz zu behalten und zu verteidigen – es sei denn, es gebe einen schlüssigen Beweis dafür, dass ohne die Gräuel der europäischen Eroberungen die gravierende Armut weltweit heute substanziell geringer wäre. Da jedoch jede Verteilung, so ungleich sie auch sein mag, eine Folge selbstgewählter Risiken und Wagnisse sein könnte, würde die Berufung auf eine solche fiktive Geschichte alles rechtfertigen und wäre daher völlig unplausibel.

John Locke zufolge kann eine fiktive Geschichte den Status quo nur rechtfertigen, wenn die mit ihr verbundenen Veränderungen in Sachen Besitz und gesellschaftliche Ordnung so gestaltet sind, dass alle Beteiligten ihnen rational hätten zustimmen können. Darüber hinaus vertritt er die Ansicht, in einem Urzustand hätten Menschen das Recht auf einen gleichwertigen Anteil an den natürlichen Rohstoffen der Erde. Wer anderen "genug und gleich Gutes" vorenthalte – sei es mittels einseitiger Aneignungen oder institutioneller Regelungen wie ein radikal inegalitäres Eigentumsrecht –, schade ihnen durch die Verletzung einer negativen Pflicht. Für Locke hängt die Gerechtigkeit jedweder institutioneller Ordnung daher davon ab, ob es den von ihr am meisten Benachteiligten mindestens so gut geht wie Menschen in einem Urzustand mit gleichem Zugang zu Rohstoffen. Nach Locke’s permissivem Ansatz darf eine kleine Elite zwar von dem gewaltigen gemeinschaftlichen Überschuss, den eine moderne soziale Organisation produziert, in Gänze Besitz ergreifen, sie darf dabei jedoch niemanden unter die Basislinie des Urzustands herabsetzen.

Diese Basislinie ist natürlich unscharf, genügt jedoch für meine zweite These: Wie auch immer man sich einen menschlichen Urzustand vorstellen mag, könnte man ihn realistischerweise nicht mit so viel Leid und vorzeitigen Todesfällen wie im heutigen Umfang ersinnen. Nur eine straff durchorganisierte soziale Ordnung kann eine solche Not hervorbringen und eine fortwährende jährliche Todesrate von 18 Millionen Menschen aufrechterhalten. Die gegenwärtige Verteilung ist daher nach Lockeschen Maßstäben insoweit inakzeptabel, als die Bessergestellten erhebliche Vorteile bei der Nutzung natürlicher Rohstoffe genießen, während die Schlechtergestellten von dieser Nutzung und den daraus resultierenden Gewinnen weitgehend und ersatzlos ausgeschlossen sind. Wenn wir als Bürgerinnen und Bürger sowie Regierungen der wohlhabenden Staaten Hand in Hand mit den Herrschenden vieler ärmerer Länder die Armen der Welt zwangsweise von einem gleichwertigen Rohstoffanteil und jedwedem Substitut ausschließen, verletzen wir eine negative Pflicht. Daher schlägt auch der Versuch fehl, die heutige, zwangsweise aufrechterhaltene radikale Ungleichheit durch die Berufung auf einen irgendwie moralisch akzeptablen fiktiven historischen Prozess zu rechtfertigen, der zu ihr geführt haben könnte.

Gegenwärtiges globales Institutionengefüge

Eine dritte Perspektive auf die Gerechtigkeit radikaler Ungleichheit führt über eine Reflexion über die institutionellen Regelungen, die diese Ungleichheit reproduzieren. Dabei kann eine Wirtschaftsordnung und die von ihr hervorgebrachte Verteilung ungeachtet historischer Überlegungen gerechtfertigt werden, indem sie mit praktikablen institutionellen Alternativsystemen und den Verteilungsprofilen verglichen wird, die diese hervorbringen würden. Als Beispiel für diesen Ansatz dienen zahlreiche im weiteren Sinne konsequentialistische und kontraktualistische Gerechtigkeitskonzeptionen, die jeweils eine andere Ausgestaltung der wirtschaftlichen Institutionen unter modernen Bedingungen favorisieren. Diese stimmen jedoch darin überein, dass eine Wirtschaftsordnung ungerecht ist, wenn sie vorhersehbare und vermeidbare massive Menschenrechtsdefizite hervorruft – wie etwa die im feudalen Russland oder Frankreich vorherrschenden Systeme der Leibeigenschaft und Zwangsarbeit.

Dementsprechend lautet meine dritte These, dass die wohlhabenden Länder ihre großen wirtschaftlichen Vorteile durch eine globale Wirtschaftsordnung aufrechterhalten, die angesichts der massiven und vermeidbaren Entbehrungen, die sie vorhersehbar reproduziert, ungerecht ist. Diese institutionelle Ordnung trägt zur Reproduktion radikaler Ungleichheit insofern bei, als es praktikable institutionelle Alternativen gibt, mit deren Hilfe sich solch schwere und weitverbreitete Armut abschaffen oder zumindest erheblich reduzieren ließe, ohne zugleich andere Schäden vergleichbaren Ausmaßes zu verursachen wie etwa schwere Umweltzerstörungen.

Drei Begriffe von Schaden

Diese drei Thesen münden in die Schlussfolgerung, dass die Armen der Welt ein zwingendes moralisches Anrecht auf einen Teil unseres Wohlstands haben und dass wir, indem wir ihnen verweigern, wozu sie moralisch berechtigt sind und was sie dringend benötigen, aktiv zu ihren Entbehrungen beitragen. Und doch richten sich diese Thesen an verschiedene Zielgruppen und sprechen daher unterschiedliche und zueinander in einem schwierigen Spannungsverhältnis stehende moralische Konzeptionen an.

Zudem verwenden sie unterschiedliche Begriffe von Schaden. Gewöhnlich wird "Schaden" meist in einem historischen Sinne verstanden, entweder diachron oder konjunktivisch: Jemandem wird geschadet, wenn sie oder er schlechter gestellt wird als es zu einem vorherigen Zeitpunkt der Fall war oder der Fall gewesen wäre, wenn zuvor getroffene Regelungen weiterhin unberührt geblieben wären. Meine ersten beiden Thesen begreifen Schaden auf diese gewöhnliche Art und Weise und begreifen daraufhin Gerechtigkeit zumindest teilweise in Hinblick auf Schaden: Wir verhalten uns ungerecht gegenüber den Armen der Welt, indem wir ihnen die anhaltenden Auswirkungen historischer Verbrechen auferlegen oder sie unterhalb jedweder glaubwürdigen Basislinie eines Urzustands halten.

Meine dritte These jedoch begreift Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nicht bezogen auf einen unabhängig festgelegten Begriff von Schaden. Vielmehr verbindet sie Schaden und Gerechtigkeit auf die umgekehrte Art, indem sie Schaden bezogen auf eine unabhängig festgelegte Konzeption von sozialer Gerechtigkeit begreift: Wir schaden den Armen der Welt, falls und soweit wir daran mitwirken, ihnen eine ungerechte globale institutionelle Ordnung aufzuerlegen. Diese ist definitiv ungerecht, falls und soweit sie vorhersehbar große Menschenrechtsdefizite aufrechterhält, die sich vernünftigerweise, also ohne andere Schäden vergleichbaren Ausmaßes zu verursachen, mittels praktikabler institutioneller Änderungen vermeiden ließen.

Meine dritte These ist empirisch anspruchsvoller als die beiden anderen, da ich hier drei Behauptungen belegen muss: Globale institutionelle Regelungen stehen in ursächlichem Zusammenhang mit der Reproduktion extremer Armut; für diese tragen die Regierungen der wohlhabenden Länder die Hauptverantwortung und können ihre abträglichen Auswirkungen vorhersehen; und die Bürger dieser wohlhabenden Länder tragen wiederum die Verantwortung für das, was ihre Regierungen in ihrem Namen aushandeln.

Zwei wesentliche Neuerungen

Bei diesen drei Behauptungen liegt meine Einschätzung dieser eher empirischen Angelegenheiten ebenso quer zu den üblichen empirischen Debatten wie meine Beurteilung unseres moralischen Verhältnisses zu dem Problem der Weltarmut zu den üblichen moralischen Debatten querliegt. Letztere drehen sich um die Stringenz unserer moralischen Pflichten, den Armen in anderen Ländern zu helfen. Während die meisten von uns die Auffassung vertreten, diese Pflichten seien eher schwach und somit sei es kein großes Unrecht, gar keine Hilfe zu leisten, argumentieren einige, etwa die Philosophen Peter Singer, Henry Shue und Peter Unger, unsere positiven Pflichten seien durchaus stringent und anspruchsvoll. Andere wiederum, wie etwa der Philosoph Liam Murphy, vertreten den dazwischenliegenden Standpunkt, unsere positiven Pflichten würden nicht besonders viel von uns abverlangen, sofern sie tatsächlich stringent sind. Ich möchte diese Debatte ausklammern und mich auf das konzentrieren, was sie außer Acht lässt: die moralische Pflicht, nicht zu schaden. Selbstverständlich haben wir die positive Pflicht, Menschen aus lebensbedrohlicher Armut zu befreien. Eine Konzentration auf diese kann jedoch in die Irre führen, wenn auch stringentere negative Pflichten im Spiel sind: die Pflicht, Menschen nicht lebensbedrohlicher Armut auszusetzen, sowie die Pflicht, sie vor Schäden zu schützen, für die wir aktiv verantwortlich wären.

Die üblichen empirischen Debatten behandeln die Frage, wie Entwicklungsländer ihre wirtschaftlichen Institutionen und ihre Wirtschaftspolitik gestalten sollten, um gravierende Armut innerhalb ihrer Landesgrenzen zu reduzieren. Mit Blick auf Hongkong, Singapur und jüngst auch China lautet die herkömmliche Devise, diese Länder sollten sich für freie und offene Märkte mit minimalen Steuern und Regulierungen entscheiden, um Investitionen anzuziehen und das Wachstum anzukurbeln, während eine Reihe einflussreicher Ökonomen hingegen fordert, wie im indischen Bundesstaat Kerala umfangreiche staatliche Investitionen in Bildung, Gesundheitswesen und Infrastruktur zu tätigen oder wie in Südkorea protektionistische Maßnahmen zu treffen, um noch junge Nischenbranchen zu schützen, bis sie international wettbewerbsfähig sind. Auch diese Debatten möchte ich ausklammern, um mich einmal mehr darauf zu konzentrieren, was sie ignorieren: die Rolle der Ausgestaltung der globalen institutionellen Ordnung bei der Fortdauer schwerer Armut.

Viele halten es für eine Tatsache, dass die Schlüsselfaktoren hierfür in den nationalen Unterschieden liegen. Angesichts des Schwindens der Armut in einigen Entwicklungsländern wie China oder Südkorea, und ihrer Zunahme in anderen, wie die Demokratische Republik Kongo oder Simbabwe, deren Eliten gewöhnlich ein hohes Maß an Inkompetenz, Korruption und Unterdrückung aufweisen, erscheint ein solcher "explanatorischer Nationalismus" gerechtfertigt. In der Tat sind nationale und regionale Faktoren keinesfalls irrelevant. Globale Faktoren spielen jedoch eine ebenso große Rolle bei andauernder gravierender Armut in einem Land. In diesem Zusammenhang liegen vor allem vier globale Faktoren auf der Hand.

Erstens beeinträchtigt der Protektionismus der wohlhabenden Länder die Exportmöglichkeiten der ärmeren Länder und Regionen erheblich. Während die wohlhabenden Länder im Rahmen der Welthandelsorganisation einerseits auf asymmetrische Schutzvorkehrungen wie Antidumpingzölle, Exportkredite und Subvention einheimischer Produkte für ihre Märkte pochen, bestehen sie andererseits darauf, dass ihre eigenen Exporte mit offenen Märkten empfangen werden. Würden sie ihre protektionistischen Barrieren gegenüber Importen aus ärmeren Ländern abbauen, würden deren Bevölkerungen in hohem Maße davon profitieren: Hunderte Millionen würden der Arbeitslosigkeit entrinnen, das Lohnniveau substanziell ansteigen und die Exporteinnahmen jedes Jahr um Milliarden von Dollar zunehmen.

Zweitens bestehen dieselben wohlhabenden Staaten nachdrücklich darauf, dass ihre in Umfang und Dauer ständig erweiterten Rechte an geistigem Eigentum in den ärmeren Ländern streng umgesetzt werden. Für Musik, Software, Produktionsprozesse sowie Saatgut, biologische Arten, vor allem aber für Medikamente müssen diese den Unternehmen aus wohlhabenden Ländern als Bedingung für einen nach wie vor vielfach begrenzten Zugang zu ihren Märkten Abgaben bezahlen. Könnten Hersteller von billigeren generischen Versionen lebensrettender Medikamente in den ärmeren Ländern frei produzieren und vermarkten, ließen sich Millionen Menschen vor Krankheiten und dem Tod bewahren.

Drittens kommen die reichen Länder nicht für die Auswirkungen ihres weit überproportionalen Beitrags zur globalen Umweltverschmutzung und Rohstoffausbeutung auf. Die Armen der Welt profitieren wenn überhaupt am wenigsten von umweltschädlichen Aktivitäten und sind auch am wenigsten imstande, sich vor den Auswirkungen dieser Verschmutzung auf ihre Gesundheit und natürliche Umwelt zu schützen, wie etwa vor Überschwemmungen durch steigende Meeresspiegel. Natürlich bezahlen die wohlhabenden Länder für die riesigen Mengen importierter Rohstoffe. Solche Zahlungen können jedoch die Preiseffekte unseres übermäßigen Verbrauchs nicht kompensieren, die den Konsumspielraum armer Menschen und auch die Entwicklungsmöglichkeiten ärmerer Länder und Regionen einschränken – im Vergleich zu den Möglichkeiten, die unsere Länder in einem vergleichbaren Stadium ihrer wirtschaftlichen Entwicklung ausnutzen konnten.

Noch bedeutender ist viertens jedoch die Tatsache, dass diese Zahlungen an die Herrschenden der rohstoffreichen Länder fließen, ohne zu berücksichtigen, ob diese demokratisch gewählt sind oder sich zumindest minimal an den Bedürfnissen der von ihnen beherrschten Menschen orientieren. Allein auf Basis tatsächlicher Macht erkennen die wohlhabenden Länder Herrschende als befugt an, im Namen ihrer Landsleute zu agieren. Die wohlhabenden Länder bezahlen sie für die Rohstoffe "ihrer" Länder, gewähren ihnen häufig hohe Kredite gegen die Sicherheit zukünftiger Exporte und verkaufen ihnen bereitwillig jene modernen Waffensysteme, auf denen ihre fortdauernde Herrschaft allzu oft beruht. Indem sie die Vergünstigungen staatlicher Machtträger substanziell erhöhen, verstärken die genannten Privilegien den Anreiz, die Macht mit Waffengewalt zu übernehmen und fördern somit Staatsstreiche und (Bürger-)Kriege in den ärmeren Ländern. Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, schwere Armut dauere in vielen ärmeren Ländern an, weil diese sich so schlecht regieren, werden die Bevölkerungen der meisten betroffenen Länder sehr schlecht regiert und das gegen ihren Willen. Schwere Armut wird tatsächlich von lokaler Misswirtschaft gefördert. Doch diese wird ihrerseits von globalen Regeln ermöglicht, die die wohlhabenderen Länder aufstellen und von denen sie erheblich profitieren.

Wird dieser Kausalzusammenhang zwischen der globalen institutionellen Ordnung einerseits und der Fortdauer schwerer Armut andererseits erst einmal erkannt, zeigt sich die Ungerechtigkeit dieser Ordnung und ihrer Aufrechterhaltung. Letztere liegt in der Verantwortung der wohlhabenden Staaten, die auf internationaler Ebene die Gestaltungsmacht besitzen – und damit letztendlich bei uns, ihren Bürgerinnen und Bürgern, in deren Namen unsere Regierungen agieren.

PhD (Harvard), geb. 1953; Leitner-Professor für Philosophie und Internationale Angelegenheiten an der Yale University, PO Box 208306, New Haven, CT/USA.
E-Mail Link: thomas.pogge@yale.edu