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Herrschaft im kolonialen Raum | Nomaden | bpb.de

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Herrschaft im kolonialen Raum Territorialität als Ordnungsprinzip

Ulrike Jureit

/ 16 Minuten zu lesen

Der koloniale Staat orientierte sich am europäischen Modell des territorialen Flächenstaates. Mobile Lebensformen galten in diesem Ordnungsentwurf, für den die bürokratische Erfassung der Bevölkerung in einem fest definierten Territorium konstitutiv war, als ungehorsam und potenziell widerständig.

Der in den 1580er Jahren in Florenz von dem flämischen Maler Jan van der Straet angefertigte Stich "America" (siehe Abbildung), der die Entdeckung der Neuen Welt als Begegnung zwischen dem in Diensten der Familie Medici stehenden Kaufmann und Navigator Amerigo Vespucci und einer nackten Frau in Szene setzt, dient mittlerweile in verschiedenen Forschungskontexten dazu, die sexualisierte Kodierung kolonialer Landnahme zu entziffern. Mit Fantasien der Inbesitznahme und Penetration des weiblichen Körpers assoziiert, wird Kolonialisierung als Akt der männlich dominierten Bemächtigung einer unbekleideten Frau gezeigt, die als kulturloser, noch ganz der Wildnis verhafteter Körper präsentiert wird. Der Soziologe Michel de Certeau verstand die von van der Straet gewählte Szene dahingehend, dass sich Vespucci als männlicher Eroberer in den von ihm erweckten und sich ihm darbietenden Körper des neuen Kontinents einschreibt.

Abbildung: America, von Theodor Galle nach Jan van der Straet, um 1600

Hierfür ist Vespucci auf dem Bild mit mehreren Gegenständen ausgestattet: Kreuzbanner, Schwert und Astrolabium. Und dieses letztere, auf Winkelmessung beruhende Navigationsinstrument gibt Hinweis auf eine weitere Deutungsvariante. Mit Bezug zu Michel de Certeau hat der Literaturwissenschaftler Jörg Dünne überzeugend darauf aufmerksam gemacht, dass sich die europäische Einschreibung offenbar nicht nur auf die Kulturtechnik der Alphabetschrift bezog, wie de Certeau selbstverständlich annahm, sondern darüber hinaus auch Verfahren der räumlichen Orientierung und der territorialen Erfassung des von Vespucci erstmals als nuova terra benannten Raumes einschloss. Auch wenn hier noch die von Handelsinteressen geprägte Expansion zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert im Vordergrund steht, verweist das Astrolabium auf eine weitere Dimension kolonialer Landnahme. Die Entdeckung fremder Territorien in Amerika und Afrika zielte nicht nur auf militärische Unterwerfung und ökonomische Ausbeutung, sondern umfasste zugleich auch den Transfer europäischer Raumordnungskonzepte. Die Eroberer kamen eben nicht nur mit Schwert und Bibel, sondern brachten auch ihre in europäischen Kontexten gefertigten Instrumente, Insignien und Praktiken territorialen Ordnens mit.

Kolonialer Staat und territoriale Herrschaft

Dass Europa den Staat erfunden hat, gehört zu den prägnanten Schlagworten, mit denen der Historiker Wolfgang Reinhard seine Forschungen zur Geschichte der Staatsgewalt pointiert hat. Auch wenn er den meisten Europäern heute selbstverständlich erscheint: Der Staat ist weder urwüchsig noch natürlich, er ist auch anthropologisch nicht notwendig oder gar ein Entwicklungsziel der Moderne. Der Staat ist vielmehr "ein durch Machtprozesse menschlichen Handelns zustande gekommenes Gedankengebilde", das nur in seiner Interdependenz von Diskurs und Praxis angemessen erfasst werden kann. Und das gilt in gleicher Weise für die daraus abgeleitete Vorstellung eines durch Grenzen fixierten Territoriums. Die historisch gewachsene Korrespondenz von Staat, Nation und Territorium brachte ein europäisches Modell hervor, das zwar in großem Stil global exportiert und transferiert wurde, aber zugleich zu der irrigen Annahme führte, die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung habe oder werde sich früher oder später in genau dieser Weise organisieren. Tatsache ist hingegen, dass das europäische Nationalstaatsmodell mit seinen spezifischen Strukturelementen der Staatsgewalt, des Staatsvolkes und des Staatsgebietes, mit seiner Ausformung eines bürokratischen Verwaltungsapparates, mit seiner historisch gewachsenen politischen Kultur, mit seinen europazentrierten Identitätspolitiken und seinem signifikanten Gemeinwohldenken weltgeschichtlich eine Ausnahme und keinesfalls die Regel darstellt. Der Exportschlager Nationalstaat avancierte im 19. und 20. Jahrhundert zwar formal zur weltweit vorherrschenden Organisationsform, in der Praxis verfügten allerdings die wenigsten europäischen und außereuropäischen Länder über eine sich selbst als homogen empfindende Nation. Hinzu kommt, dass die Adaption oder Implementierung staatlicher Strukturen gerade in kolonialen Zusammenhängen alles andere als widerspruchsfrei verlief. Die Übertragung des europäischen Staatsmodells nach Asien, Amerika und Afrika beförderte langfristig keineswegs Stabilität, Demokratie und Wohlstand, sondern vor allem die Instabilität der vorgefundenen wie auch der implantierten Ordnungen, letztlich die "Transformation, wenn nicht sogar Auflösung" staatlicher Strukturen.

Um sich diesem globalen Transformationsprozess anzunähern, ist es hilfreich, den einschlägigen Praktiken der kolonialen Raumaneignung und damit jenen der fortschreitenden Territorialisierung detaillierter nachzugehen. Die hierfür ausschlaggebenden Rahmenbedingungen waren bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts noch alles andere als einheitlich. Im Verlauf der kolonialen Eroberungen hatten sich weltweit verschiedenste Anwartschaften, Rechtstitel und Besitzverhältnisse entwickelt, und die sich seit den 1870er Jahren erneut zuspitzende Rivalität um koloniales Land – vor allem in Zentral- und Südafrika – offenbarte ein buntes Durcheinander beim Wettlauf um die letzten, noch als unentdeckt geltenden Gebiete auf der Weltkarte. Konkurrierende Okkupationsinteressen, ungeklärte Besitzverhältnisse, strategische Blockbildungen unter den europäischen Großmächten und den USA sowie die drohende Gefahr, dass die massive Konkurrenz zu offenen Konfrontationen zwischen den europäischen Mächten selbst führen könnte, kennzeichneten eine angespannte Großwetterlage, in der vor allem Afrika territorial aufgeteilt wurde.

Am 6. Oktober 1884 lud der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck zu einer internationalen Konferenz nach Berlin ein. Hintergrund dieser Zusammenkunft der führenden Kolonialmächte waren anhaltende Querelen um konkurrierende Handelsinteressen in Afrika, insbesondere im Kongobecken. Neben der Beilegung von Interessengegensätzen um Einflusssphären und Handelsfreiheit zielten die Verhandlungen in Berlin auf die "Feststellung der Formalitäten, welche zu beobachten sind, damit neue Besitzergreifungen an den Küsten von Afrika als effektive betrachtet werden". Die am 26. Februar 1885 unterzeichnete Generalakte enthielt ein zwischen den teilnehmenden Staaten ausgehandeltes, rechtlich verbindliches Regelwerk, das die einzelnen Merkmale einer effektiven Okkupation festlegte. Darin verpflichteten sich die unterzeichnenden Staaten, neue Besitzergreifungen "mit einer an die übrigen Signatarmächte der gegenwärtigen Akte gerichteten Anzeige" zu notifizieren, "um dieselben in den Stand zu setzen, gegebenenfalls ihre Reklamationen geltend zu machen". Weiterhin wird die Verpflichtung anerkannt, "in den von ihnen an den Küsten des afrikanischen Kontinents besetzten Gebieten das Vorhandensein einer Obrigkeit zu sichern, welche hinreicht, um erworbene Rechte und, gegebenenfalls, die Handels- und Durchgangsfreiheit" zu schützen. Eine effektive Besitzergreifung lag somit dann vor, wenn eine für den freien Handel (und dessen Garantie war ein zentrales Anliegen der Konferenz) notwendige und hinreichende Ordnung als gesichert galt. Eine solche war allerdings ohne hoheitliches Handeln nicht zu gewährleisten, daher zielte Artikel 35 im Ergebnis auf die Herstellung territorialer Souveränität. Die Generalakte umfasste Bedingungen der gegenseitigen Anerkennung eines bestimmten Territoriums als Kolonie eines souveränen Staates.

Eindeutig war, dass nur diejenigen, die – wie die anderen Unterzeichnerstaaten – als staatlich souverän im europäischen Sinne galten, gemäß der Generalakte das Recht besaßen, mit den anderen Vertragspartnern über die Anerkennung ihrer Besitzansprüche zu verhandeln. Der Rechtstitel "Effektive Okkupation" betraf somit ausschließlich das Verhältnis der landnehmenden europäischen Staaten untereinander, eine Zustimmung der in staatenlosen Gebieten lebenden Einwohner wurde auf der Konferenz mehrheitlich abgelehnt. Staatenloses Gebiet, ob bewohnt oder unbewohnt, galt nach diesem Verständnis als res nullius (Niemandsland). Afrika wurde – mit wenigen Ausnahmen – als staatsfreier Raum angesehen und war daher aus europäischer Sicht frei okkupierbar. Bestehende Verträge mit vorgefundenen Herrschaftsordnungen, die dem europäischen Rechts- und vor allem Staatsverständnis nicht entsprachen, waren rechtlich zwar nicht bedeutungslos, faktisch untermauerten sie aber nur – wenn überhaupt – die Ansprüche der jeweiligen Eroberer gegenüber ihren Konkurrenten. Keine europäische Kolonialmacht verstand sich als Rechtsnachfolgerin vorgefundener Systeme. Geht effektive Besitzergreifung mit dem Erwerb territorialer Souveränität einher, schloss sich daran das Recht an, fremde Souveränität auf dem erworbenen Gebiet auszuschließen. Territoriale Souveränität bedeutet, über ungeteilte Hoheitsrechte auf einem mit eindeutigen Grenzen fixierten Gebiet zu verfügen. Dass solchen vertraglichen Regelungen europäische Staats-, Souveränitäts- und Territorialkonzepte zugrunde lagen, bedarf kaum noch einer weiteren Erläuterung. Hier transformierten souveräne Nationalstaaten ihr territoriales Ordnungsmodell in multilaterales Recht, auch wenn die Generalakte von 1885 aus anderen Gründen kein universell gültiges Völkerrecht schuf.

Sesshaftigkeit als Norm

Die Errichtung kolonialer Herrschaft war ein komplexer, keineswegs geradliniger und schon gar nicht in jeglicher Hinsicht erfolgreicher Prozess. Unter äußerst heterogenen machtpolitischen, ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen umfasste (staatliche) Kolonialisierung zunächst die militärische Eroberung beziehungsweise "Pazifizierung" des kolonialen Gebietes, mithin die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols gegenüber denjenigen Herrschaftsinstanzen, die vor Ort als Inhaber und Repräsentanten vorkolonialer Macht identifiziert wurden. Die Landnahme erstreckte sich idealtypisch somit auf die Unterwerfung und Sicherung des kolonialen Raumes, die Entmachtung, Umwandlung oder Indienstnahme vorgefundener Machtsysteme, die Unterwerfung der lokalen Bevölkerungsgruppen, die Installation von regionalen und überregionalen Verwaltungsapparaten sowie auf alle rechtlichen, ökonomischen und politischen Maßnahmen, die dazu dienten, koloniale Herrschaft aufrechtzuerhalten und zu stabilisieren. Hierzu zählten die bürokratische Erfassung der Bevölkerung, ihre Arbeitsrekrutierung und Besteuerung wie auch unterschiedliche Formen kolonialer Wissens- und Symbolpolitik.

Mit diesem Prozess kolonialer Landnahme vollzog sich auch das, was im Folgenden unter dem Transfer räumlicher Ordnungsformen verstanden wird. Dass der koloniale Staat sich dabei am territorialen Flächenstaat orientierte, markierte eine tiefe Zäsur in den räumlichen Strukturen, die bis dahin in weiten Teilen Afrikas vorherrschten. Dabei ist in Rechnung zu stellen, im Detail hier allerdings nicht darstellbar, dass die vorkolonialen Herrschafts- und Ordnungsverhältnisse in Afrika stark differierten und somit auch auf Seiten der Kolonisierten keineswegs von auch nur annähernd einheitlichen Sozial- und Machtbeziehungen ausgegangen werden kann. Diese Heterogenität bezieht sich einerseits auf die Entstehung, Stabilisierung und Differenzierung von lokalen wie auch überregionalen Gemeinwesen, zum anderen auch auf die Ausprägung und den Wandel sesshafter beziehungsweise nomadischer Lebensformen.

Generell, wenn auch verkürzt, lässt sich feststellen, dass europäische Kolonialmächte in Afrika auf verschiedene Formen und Ausprägungen nomadischer Lebensführung trafen. Nomadismus stellte im kolonialen Kontext eine indigene Kultur- und Gesellschaftsform dar, die es ermöglichte, den jeweiligen geoökologischen Rahmenbedingungen vor allem in semiariden, also überwiegend trockenen Räumen effektiv zu begegnen. Ungeachtet der unterschiedlichen Definitionsanstrengungen lässt sich verallgemeinern, dass nomadische Kulturen durch Mobilität ihre gemeinschaftliche Existenz zu sichern versuchen – sei es permanent oder auch nur zyklisch. Die damit verbundene räumliche Flexibilität erlaubt es, ökologischen oder sozialökonomischen Faktoren, die sich auf die eigene Lebensweise ungünstig, zuweilen sogar bedrohlich auswirken, auszuweichen. Neben anderen Varianten spielt dabei die extensive Weidewirtschaft mit Wanderviehhaltung eine zentrale Rolle. Nomadische und halbnomadische Lebensformen beruhen im Unterschied zu sesshaften Kulturen auf Raumkonzepten, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie zwar räumliche Unterteilungen und Differenzierungen vornehmen, eine lineare Abgrenzung oder gar eine markierte Aufteilung des Raumes für ihre Unterscheidung von Hier und Dort aber nicht zwingend notwendig ist. Ihre Raumwahrnehmungen orientieren sich wie in anderen Kontexten auch an den jeweiligen Erfordernissen der Alltagsbewältigung, die zwar eine Identifikation und Unterscheidung von genutzten Räumen braucht, diese aber eher als zu durchquerende Passagen oder als weite Flächen imaginiert. Aufgrund der erforderlichen Mobilität werden Räume nicht als territorial begrenzt, sondern als potenziell offen und ungeteilt wahrgenommen und gedeutet.

Es ist leicht nachzuvollziehen, dass solche Raumkonzepte andere Vorstellungen und Formen des Landbesitzes beziehungsweise der Ressourcennutzung hervorbringen, als es sesshafte Gesellschaften tun, und es ist auch unmittelbar einsichtig, dass nomadische Lebensformen andere, weniger territorial gebundene Herrschafts- und Gesellschaftsverhältnisse ausbilden. Im vorkolonialen Afrika verfügten Herrscher in erster Linie nicht über durch lineare Grenzen gerahmte Territorien, sondern über Gefolgsleute und Untertanen. Klient- und Tributbeziehungen sowie Verwandtschaftsverhältnisse konstituierten einen Herrschaftsraum, der folglich weitaus weniger fixiert und damit sehr viel wandelbarer war, als es europäische Territorialkonzepte vorsahen.

Koloniale Landnahme ignorierte weitgehend die politisch-sozialen Gefüge, die ihr vorausgingen, und verletzte dadurch die bestehende Vielfalt unterschiedlichster politischer Organisationsformen, die in ihrer Mehrheit den europäischen Maßstäben von Staatlichkeit und Territorialität nicht entsprachen. Damit wurde nicht nur eine neue, mehr oder weniger einheitliche Raumordnung oktroyiert, es wurden auch andere Formen von Herrschaftsbeziehungen etabliert und praktiziert. Entgegen der bisher oftmals auf persönlichen Bezügen aufgebauten Systeme, in die der Einzelne durch Rechte und Pflichten eingebunden und Gefolgschaft in der Regel familiär legitimiert war, beruhte koloniale Herrschaft auf einem Ausschließlichkeitsprinzip, das sich auf staatlich-territoriale Zugehörigkeiten berief. Vorkoloniale Hegemonie war zu allererst Herrschaft über Untertanen, während in den Kolonien Gebietshoheiten installiert wurden, aus denen sich staatliche Herrschaft über die dort ansässige, sprich sesshafte Bevölkerung erst ableitete. Auf einem Kontinent, der im Unterschied zu Europa vor allem über eines verfügte, nämlich über sehr viel Land, und in dem ein erheblicher Teil der Bevölkerung nomadisch oder zumindest doch halbnomadisch lebte, war es nahezu unabdingbar, Herrschaft primär nicht auf territorialen, sondern auf personalen Prinzipien aufzubauen. In der kolonialen Kontaktzone prallten daher unterschiedliche Raumordnungskonzepte relativ unvermittelt aufeinander. Gerade die erste Phase kolonialer Herrschaft war durch den Gegensatz zwischen territorialen und personalen Herrschaftsbeziehungen geprägt, was insgesamt dazu führte, dass sich sowohl koloniale wie auch indigene Macht- und Ordnungskonzepte transformierten.

Territorialität als Herrschaftsprinzip

Koloniale Grenzziehungen waren zu einem gewissen Teil Resultate administrativer und diplomatischer Aushandlungsprozesse, in denen es vorrangig um die Herstellung, Abgrenzung und Legitimierung europäischer Interessensphären ging. In der Praxis vollzog sich diese Raumaufteilung in bi- und multilateralen Grenzkommissionen, in denen Vertreter souveräner Nationalstaaten europäische Territorialvorstellungen in bilaterale Grenzverträge überführten und auf diese Weise afrikanisches Land in kolonialen Raum transformierten. Dass die räumliche Erschließung der Kolonien dabei oft im Ungefähren verblieb, stellte eine ebenso schwere Hypothek dar wie die Installation einer Territorialordnung, die nicht selten auf allenfalls "vorgedachten" Grenzführungen basierte. Aufgrund fehlenden oder lückenhaften Wissens blieb koloniale Grenzziehung zu einem nicht unerheblichen Teil ein auf Karten vollzogener Akt der Inbesitznahme.

Die Diskrepanz von kolonialem Herrschaftsanspruch, fiktiver Grenzziehung und faktischer Territorialisierung schlug sich in den Grenzkommissionen auf signifikante Weise nieder. Die Kommissionen waren Orte der räumlichen Wissensproduktion, dort wurden Reiseberichte, Tagebücher, Vermessungsdaten und Forschungsberichte gesammelt und ausgewertet. Doch die diskursive Verdichtung und Operationalisierung dieses Wissens war am Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht vollständig ausgereift und erreichte nur für bestimmte Regionen Afrikas ein tragfähiges Niveau. Die oftmals intensive Arbeit der Grenzkommissionen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Grenzziehungen – je weiter sie ins Landesinnere vordrangen – eher mathematischer Natur blieben. Grenzführungen, die Längen- und Breitengraden oder auch Flussläufen folgten, dienten in der Regel dazu, die aus europäischer Sicht weitgehend unerforschten Regionen überhaupt verhandelbar zu machen. Wer ein beanspruchtes Territorium nicht in seinen Koordinaten benennen konnte, geriet in Erklärungsnot, wenn es galt, die eigenen Interessen gegenüber den kolonialen Konkurrenten durchzusetzen.

Geografisches Wissen wurde zu einem entscheidenden Verhandlungs- und Machtfaktor, auch wenn die Kenntnisse der beteiligten Kolonialmächte über die entsprechenden Grenzgebiete in der Regel alles andere als umfassend waren. Ganz im Gegenteil: Auf dem diplomatischen Parkett Europas wurde koloniales Land verteilt, verschachert und getauscht, indem geografisch uninformierte Regierungsvertreter relativ unbekümmert auf lückenhaften, ungenauen und mit vielen weißen Flächen versehenen Landkarten nationale Interessengebiete absteckten und markierten, oft völlig unabhängig von den dort herrschenden geografischen, politischen und sozialen Bedingungen. Dieses Verfahren glich – wie der Referent der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes Freiherr von Danckelman offen eingestand – "einem Lotteriespiel und hat nachträglich oft herben Tadel erfahren". Seiner Meinung nach habe es aber zu dieser Vorgehensweise keine Alternative gegeben, wenn man "bei dem allgemeinen Wettlauf der Mächte, sich im letzten Augenblick noch ein Stück von Afrika" sichern wollte.

Die koloniale Landnahme in Afrika schuf somit eine – oftmals beständige – territoriale Ordnung, ohne über fundamentale Datengrundlagen zu verfügen und ohne die gewachsenen strukturellen Bedingungen gebührend zu berücksichtigen. Gerade die begrenzten Ressourcen und das fehlende geografische Wissen machten die kartografische Visualisierung zu einer Art Ersatzhandlung einer ansonsten allenfalls oberflächlichen Raumerfassung.

Zonen kolonialer Macht

Neben dieser transnationalen Ebene vollzog sich koloniale Territorialisierung durch die Installation von hierarchisch abgestuften Verwaltungseinheiten innerhalb der Kolonien. Während zu Beginn das koloniale Gebiet – also nach vertraglichem Erwerb oder militärischer Okkupation – oftmals nur durch mal mehr, mal weniger befestigte Militärposten gesichert wurde, schuf die administrative Durchdringung der Kolonie eine neue räumliche Ordnung – zumindest in den Teilen, in denen sich überhaupt gewisse Formen staatlicher Herrschaft ausbildeten. Die Verwaltungsbezirke, geführt von in der Regel mit weitreichenden Kompetenzen ausgestatteten Kolonialbeamten in der Funktion der Stationsleiter oder der Bezirksamtsleute, waren die zentralen Organisationseinheiten europäischer Herrschaft. Hier wurde koloniale Politik interpretiert, angeeignet und in Handlungen übersetzt. Hier trafen zudem die Ordnungen der Eroberer auf die der Eroberten. Die Bezirksämter wirkten wie Scharniere, wenn sie in Kooperation mit einer nach kolonialpolitischen Relevanzen (um)gestalteten Häuptlingshierarchie politische Vorgaben realisierten. Ziel administrativen Handelns war die vollständige, gleichmäßige und vor allem uneingeschränkte Herrschaftsausübung im gesamten Territorium, der sich niemand durch unkontrollierte und damit illegale Abwanderung entziehen durfte.

Das Territorialprinzip setzt Sesshaftigkeit normativ voraus und macht den Aufenthaltsort zum Maßstab für rechtskonformes Verhalten. Migration stellt in dieser Logik eine Normenverletzung dar, und "es entsteht eine Forderung nach Gehorsam, die sich auf den Aufenthaltsort der Menschen gründet". Sesshaftigkeit gilt nach diesem Verständnis als normal, unkontrollierte Bewegung wird kriminalisiert. Koloniale Herrschaft gliederte sich von der größten, also kolonialstaatlichen, über die mittlere Verwaltungsebene bis hin zur kleinsten, meist dörflichen Einheit und beruhte somit durchgängig auf territorialen Prinzipien – eine Ordnungsstruktur, die den meisten Afrikanern in Togo, Angola und Deutsch-Südwestafrika bis dahin fremd gewesen war und auch noch lange Zeit fremd blieb.

Es ist keine neue Erkenntnis, dass der koloniale Staat nur in seltenen Fällen mehr war als eine europäische Herrschaftsutopie. Das Ideal territorialer Herrschaft mit anerkanntem Gewaltmonopol, klar definierten Staatsgrenzen, effektiver Steuerhoheit und schriftlich fixiertem und durchsetzbarem Recht blieb in vielen Kolonien Stückwerk. Auch die wirtschaftliche Ausbeutung erreichte – nicht nur in den deutschen Schutzgebieten – oft keine nachhaltige und ökonomisch relevante Größenordnung. Koloniale Herrschaft war vor allem Kontrolle über lokal verfügbare Bevölkerungsgruppen und weniger staatlich monopolisiertes Regierungshandeln gegenüber rechtlich homogenisierten Schutzgebietsangehörigen. Der beanspruchten Hegemonie stand eine von knappen Ressourcen, permanentem Personalmangel und begrenzter Durchsetzungsfähigkeit bestimmte Herrschaftspraxis gegenüber, die stets auf die Kooperation mit intermediären Instanzen lokalen Ursprungs angewiesen blieb. So lässt sich koloniale Macht räumlich je nach herrschaftlicher Durchdringung der einzelnen Regionen differenzieren. In unmittelbarer Nähe der Stationen galt koloniale Macht als relativ gesichert, doch bereits zehn oder zwanzig Kilometer entfernt konnte dieser Herrschaftsanspruch durchaus wieder infrage stehen, mal davon abgesehen, dass weite Teile im Landesinneren ohnehin ohne jeglichen europäischen Einfluss blieben. In bestimmten Phasen und in bestimmten Gebieten kämpfte der koloniale Staat schlicht um sein Überleben.

Über die Wirkmächtigkeit der territorialen Neuordnung sagen diese Defizite indes wenig aus. Der koloniale, wenn auch oftmals schwache Staat intervenierte durch Territorialisierungsmaßnahmen wie Infrastrukturausbau, Landerschließung, Ressourcenabbau, Arbeitsrekrutierung und Ansiedlungsprojekte, um nur einige Bereiche zu nennen, massiv in die Ordnungsarchitektur indigener Gesellschaften. Diese Neuordnung bezog sich strukturell vor allem auf die Institutionalisierung und Instrumentalisierung des Häuptlingtums.

Zum einen zwangen europäische Kolonialmächte den vormals häuptlinglosen Gesellschaften dieses Gesellschaftsmodell auf, zum anderen transformierten sie das vorkoloniale Häuptlingtum in ein System intermediärer Herrschaftsordnung. Die Etablierung und Inanspruchnahme des nun nach kolonialen Erfordernissen umstrukturierten und daher vor allem administrativen Häuptlingtums erzeugte einerseits eine enorme Machtsteigerung der Häuptlinge, verkoppelte aber ihre Macht mit dem kolonialen Staat, von dem sie mehr oder weniger abhängig waren (und umgekehrt). Die Durchsetzung des administrativen Häuptlingwesens bedeutete zugleich die Institutionalisierung territorialer Herrschaftsprinzipien, denn die vorherige Interdependenz von Genealogie und Raum und das damit verbundene familiale Gefolgschaftsprinzip wich einem System räumlicher Herrschaft, das die politischen, ökonomischen und sozialen Beziehungen langfristig bestimmte. Die Einführung der Kopfsteuer ist hierfür ebenso kennzeichnend wie die Rekrutierung der lokalen Bevölkerungen zu Pflicht- und Zwangsarbeiten. Mobile Lebensformen galten in einem Ordnungsentwurf, für den die bürokratische Erfassung der Bevölkerung in einem fest definierten Territorium konstitutiv war, als ungehorsam und potenziell widerständig.

Kolonialismus zielte auf die radikale Umwälzung vorgefundener Ordnungen, er zerstörte bestehende politische und soziale Gefüge oder instrumentalisierte sie für die eigenen Ziele, allerdings ohne letztlich in der Lage zu sein, andere tragfähige Herrschafts- und Ordnungssysteme auf Dauer zu institutionalisieren. Der Historiker Jürgen Osterhammel hat Kolonialismus definiert als "eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden". Zu ergänzen bliebe, dass es sich hierbei um einen weitgehend gescheiterten Herrschaftsanspruch handelt, dessen negative Bilanz eben nicht nur die irreparable Zerstörung vorgefundener Ordnungen umfasst, sondern zudem gravierende ökonomische und politische Langzeitfolgen für den afrikanischen Kontinent mit sich brachte. Nirgendwo auf der Welt existieren bis heute so viele gescheiterte Staaten wie in Afrika.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Amerigo findet America. Zu Jan van der Straets Kupferstichfolge Nova Reperta, in: Heide Wunder/Gisela Engel (Hrsg.), Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Königstein 1998, S. 372–394; Maike Christadler, Giovanni Stradanos America-Allegorie als Ikone der Postcolonial Studies, in: Guernica-Gesellschaft (Hrsg.), Jahrbuch "Kunst und Politik", Bd. 4, Göttingen 2002, S. 17–33.

  2. Vgl. Michel de Certeau, Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt/M. 1991, S. 7.

  3. Vgl. Jörg Dünne, Ortung und Zeichenordnung im Códice Valentim Fernandes: Die portugiesische Atlantikschifffahrt zwischen Raumkalkül und Raumsymbolisierung, in: Tanja Michalsky/Felicitas Schmieder/Gisela Engel (Hrsg.), Aufsicht – Ansicht – Einsicht: Neue Perspektiven auf die Kartographie an der Schwelle zur Frühen Neuzeit, Berlin 2009, S. 141–160.

  4. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 15.

  5. Ebd., S. 18.

  6. Ebd., S. 29.

  7. Entwurf einer Note auf der Grundlage des Zirkularerlasses vom 6. Oktober 1884, o.D., in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 6. Legislaturperiode, 1884/85, 7. Band, Anlagen Nr. 290, Aktenstücke zur Kongo-Frage, No. 38, Externer Link: http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_k6_bsb00018455_00329.html (2.6.2015).

  8. Vgl. Generalakte der Berliner Konferenz vom 26. Februar 1885, in: Stenographische Berichte (Anm. 7), No. 44, Art. 34 und 35, Externer Link: http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_k6_bsb00018455_00338.html (2.6.2015).

  9. Vgl. Jörg Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht. Die Auseinandersetzungen um den Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1984, S. 422.

  10. Ein erheblicher Teil der afrikanischen Kolonien wurde nicht okkupiert, sondern durch Verträge mit den vorgefundenen oder neu konstituierten Herrschaftsordnungen "erworben". Allerdings kam diesen Verträgen in der Praxis immer weniger Bedeutung zu, da die europäischen Mächte mehrheitlich die Auffassung vertraten, Afrika sei völkerrechtlich als herrenlos anzusehen. Der bisherige völkerrechtliche Verkehr wurde bis zum Ersten Weltkrieg somit durch geltendes Recht zwischen den Europäern ausgehöhlt. Zu den sogenannten Schutz- und Freundschaftsverträgen mit afrikanischen Häuptlingen vgl. Lazarus Hangula, Die Grenzziehungen in den afrikanischen Kolonien Englands, Deutschlands und Portugals im Zeitalter des Imperialismus 1880–1914, Frankfurt/M. 1991, S. 99–111.

  11. Vgl. Roxana Kath/Anna-Katharina Rieger (Hrsg.), Raum – Landschaft – Territorium. Zur Konstruktion physischer Räume als nomadischer und sesshafter Lebensraum, Wiesbaden 2009. Zu einem modernen Verständnis von Nomadismus als historisch stets verfügbare und auch immer wieder neu entstehende Lebensform vgl. Sylvia Hipp, Sehnsuchtsort, Risikolebensraum, Nomaden-Highway. Die Steppe als Ort der Erkenntnis, in: Behemoth. A Journal on Civilisation, 2 (2009) 2, S. 83–98.

  12. Vgl. ebd., S. 87.

  13. Vgl. Michael Pesek, Präsenz und Herrschaft. Räume kolonialer Macht in Ostafrika, in: Ulrike Jureit (Hrsg.), Raum und Gewalt. Raumaneignung, Ordnungswille und Gewaltmobilisierung, Hamburg 2016 (i.E.).

  14. Vgl. Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012.

  15. Alexander von Danckelman, Grenzfestsetzungen, Grenzregulierungen und Grenzexpeditionen, in: Heinrich Schnee (Hrsg.), Deutsches Kolonial-Lexikon, Bd. 1, Leipzig 1920, S. 752–756, hier: S. 752.

  16. Trutz von Trotha, Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des "Schutzgebietes Togo", Tübingen 1994, S. 289.

  17. Vgl. Andreas Eckert, Kolonialismus, Frankfurt/M. 2006, S. 95–98; ders./Michael Pesek, Bürokratische Ordnung und koloniale Praxis. Herrschaft und Verwaltung in Preußen und Afrika, in: Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004, S. 87–106.

  18. Vgl. M. Pesek (Anm. 13).

  19. Vgl. T.v. Trotha (Anm. 16), S. 217–334.

  20. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen, München 1995, S. 21.

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Dr. phil., geb. 1964; Historikerin, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, Feldbrunnenstraße 52, 20148 Hamburg. E-Mail Link: ulrike.jureit@wiku-hamburg.de