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Nomaden Editorial Nomaden – Aufbrüche und Umbrüche in Zeiten neoliberaler Globalisierung Herrschaft im kolonialen Raum: Territorialität als Ordnungsprinzip Sesshaftmachung als Unterwerfung – Die kasachischen Nomaden im Stalinismus Truly Nomadic? Die Mongolei im Wandel Der Nomade als Theoriefigur, empirische Anrufung und Lifestyle-Emblem. Auf Spurensuche im Globalen Norden

Truly Nomadic? Die Mongolei im Wandel

Ines Stolpe

/ 17 Minuten zu lesen

In der Mongolei der Gegenwart hat weniger die real existierende mobile Weideviehwirtschaft als das Motiv eines mythischen "Nomadischen" Konjunktur. Der Beitrag behandelt Beziehungen zwischen räumlicher und sozialer Mobilität sowie politische Dimensionen kultureller Repräsentation.

Kaum ein Staat wird so ostentativ mit Nomadismus assoziiert – ob in Filmen, Bildbänden, bei Fotoausstellungen oder auf der Internationalen Tourismusbörse, auf der die Mongolei im März 2015 mit dem Slogan "Nomadic by Nature" als offizielles Partnerland auftrat – Mongolen gelten als Nomaden par excellence. Es mag daher überraschen, dass diejenigen, die tatsächlich von mobiler Weidewirtschaft leben, sich selbst nicht dieses Begriffes bedienen. Denn: "Nomadism is a category imagined by outsiders", eine externe Zuschreibung von Differenz. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts betrieb jedoch die Mehrheit der mongolischen Bevölkerung extensive Weideviehwirtschaft. Der mobile way of life war somit der Normalfall und bedurfte als kulturelle Selbstverständlichkeit keiner kontrastiven Terminologie. Ebenfalls einzigartig verlief die Modernisierung des Landes mit ihrer dezidierten Ausrichtung auf Gleichstellung bei wechselseitiger Integration von räumlicher und sozialer Mobilität. Vor diesem Hintergrund kritisierten mongolische Wissenschaftler die ab 1990 einsetzende Konjunktur einer diskursiven "Nomadisierung" als Anbiederung an externe Sichtweisen: "If we call ourselves nomadic people it will mean that we are simply a homeless tribe or people having no permanent abode. What kind of people will we be after all?" Wie das Zitat exemplarisch illustriert, erschien das Nomaden-Image vor allem wegen impliziter Assoziationen mit Rückständigkeit problematisch.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Wenn urbane Mongolen heute ihren Staat als "Land der Nomaden" präsentieren, so greifen sie mit dieser Selbstexotisierung ein im maß- und geldgebenden Ausland geläufiges Stereotyp auf, das sich gewinnbringend instrumentalisieren lässt. Ob im Tourismus, in Forschungslandschaften, der Entwicklungspolitik oder in Bezug auf postmoderne Lebensstile – Nomadismus klingt sexy. Häufig ist eine Zuschreibung dieser kollektiven Identität assoziiert mit abstrusen "myths of the nomad", die auf einer starken Anziehungskraft der binären Opposition sesshaft versus nomadisch basieren. Der Historiker Dipesh Chakrabarty hat nicht grundlos konstatiert, dass europäische Kategorien unverzichtbar sind, so inadäquat sie auch sein mögen. In der Mongolei verweist die Verwendungsgeschichte von Termini des "Nomadischen" auf politische Dimensionen kultureller Repräsentation; so ist die Stilisierung als exotisches "Nomadenland" heute exklusiv in kosmopolitischen Settings präsent. Dieses "mapping the Self with the categories of the Other" trägt Züge eines intellektuellen Kolonialismus mit einseitiger Anpassung an hegemoniale Kategorien des Westens. Ob strategisch oder pragmatisch motiviert, eine solche Homogenisierung blendet kulturelle Besonderheiten aus. Werfen wir also einen Blick auf emische Perspektiven und ihre Symbolik:

Im Mongolischen sind zur Beschreibung der traditionellen Lebens- und Wirtschaftsweise Äquivalente des Abstraktums "Nomadismus" ebenso unüblich, wie sich die Akteure selbst "Nomaden" nennen. Ihr Eigenname war und ist malčid, eine denominale Ableitung von mal – "Weidevieh". In diese Rubrik fallen Pferde, Schafe, Rinder (inklusive Yaks), Ziegen und Kamele. Diese Tierarten sind nicht nur Grundlage pastoralen Wirtschaftens (Naturweidewirtschaft), sondern auch kulturprägende Elemente und werden mit der Wortverbindung tavan chošuu mal bezeichnet. Die gängige Übersetzung als "fünf Weidetierarten" ignoriert den unvertrauten Part, der eine kulturspezifische Klassifikation impliziert: Neben der auch andernorts gebräuchlichen Einteilung in Groß- und Kleinvieh unterscheidet man in der Mongolei heiß- und kaltmäulige Tiere (chaluun/chüjten chošuut mal). Hiermit wird weniger auf Körpertemperaturen verwiesen, vielmehr gelten die als heißmäulig bezeichneten Pferde und Schafe als den Menschen besonders nahestehend und eignen sich daher als Opfertiere. Ebenfalls kulturspezifisch ist die Einteilung in Lang- und Kurzbeinvieh. Diese Klassifikation verweist direkt auf pragmatische Aspekte der jüngst als technoscape eurasischer Steppen charakterisierten Graslandökonomie: Die zum Kurzbeinvieh zählenden Schafe, Ziegen und Rinder werden in der Nähe gehütet, während Pferde und Kamele als Langbeinvieh oft unbegleitet in größerer Distanz weiden. Mit diesen fünf Tierarten ist die mongolische Weidewirtschaft in hohem Maße multispezialisiert.

Darüber hinaus existiert in der Taiga der mongolischen Provinz Chövsgöl mit der südlichsten Rentierhaltung der Welt auch eine monospezialisierte Form des Pastoralismus. Die Rentierhalter sind keine Mongolen, sondern Angehörige der ursprünglich turksprachigen Tuwiner (auch Tagna- beziehungsweise Sojon-Urianchaj), die sich selbst als duchalar (Taigaleute) bezeichnen und auf Mongolisch caatan (Rentierleute) genannt werden. Sie sind mit nur knapp 300 Personen die kleinste nationale Minderheit der Mongolei und nutzen, anders als ihre mobilen mongolischen Nachbarn, als Unterkünfte keine Jurten, sondern Zelte in Tipi-Form.

Jurten (mongolisch ger) gelten, gleich den fünf Weidetierarten, als identitätsstiftendes kulturelles Symbol: Die aus dem 13. Jahrhundert überlieferte "Geheime Geschichte der Mongolen" gibt Auskunft über die damalige Selbstbezeichnung als "Leute in Filzwandzelten", gleichsam als frühe Version eines über die mobile Behausung definierten ethnoscape. In der heutigen Mongolei leben etwa 45 Prozent aller Haushalte in Jurten.

Bemerkenswerterweise sucht man in mongolischen Statistiken eine Unterteilung der Bevölkerung in "sesshaft" und "nomadisch" vergeblich. Dergleichen ergäbe aus emischer Perspektive keinen Sinn, denn erstens sind diese Kategorien für Insider irrelevant, und zweitens sind allenthalben flexible Praxen üblich. So vollzieht sich die extensive Weideviehhaltung in einem Spektrum räumlicher Mobilität, das von Pastoralismus über Transhumanz (Vorhandensein immobiler Basislager) bis zu Agropastoralismus (Kombination mit Ackerbau) reicht. Viele Haushalte haben diverse Einkommensquellen, und auf der Mikroebene zeigt sich, dass temporäre Sesshaftigkeit oft mit sozialen Mobilitätsambitionen einhergeht. Bevor wir uns diesen zuwenden, werden politische Rahmenbedingungen räumlicher Mobilität aus vergleichender Perspektive skizziert.

Nomadismuspolitik, räumliche und soziale Mobilität

Es ist ein orthodoxes Narrativ, Nomadismus und Sozialismus seien Antipoden gewesen, und letzterer hätte allerorts danach getrachtet, ersteren durch Sesshaftmachung abzuschaffen. Drei Aspekte werden bei einer solch undifferenzierten Betrachtung ausgeblendet: erstens, dass diese Aussage nicht pauschal zutrifft, zweitens, dass Nomadismus beiderseits des "Eisernen Vorhangs" lange Zeit als Modernisierungshindernis und antiquiert-unrentable Wirtschaftsform galt, und drittens, dass forcierte Sesshaftigkeit oft (und gerade im Postsozialismus) mit Privatisierung und land grabbing einhergeht.

Ein kurzer Blick in die Geschichte Zentralasiens zeigt, dass während der Zarenzeit angesichts der Ausdehnung des Russischen Reiches und der Kolonisierung durch russische Bauern die kasachische Intelligenz selbst Sesshaftwerdung proklamierte, um die Landfrage zugunsten der eigenen Leute zu entscheiden. Die dann im 20. Jahrhundert in der Sowjetunion der Stalin-Ära erzwungenen Kollektivierungen und Sesshaftmachungen und ihre katastrophalen Folgen sind vielfach dokumentiert. Im Vergleich zur ebenfalls destruktiven Nomadismuspolitik anderer Staaten jedoch scheint die räumliche Mobilität weniger eingeschränkt worden zu sein. Retrospektiv diagnostiziert die Sozialanthropologin Carol Kerven für Kasachstan und Turkmenistan: "Soviet administration preserved some important elements of the nomadic system." Die Wanderdistanzen gingen erst nach 1990 zurück, woraufhin die Produktivität sank. Gleiches lässt sich für die postsozialistische Mongolei feststellen. Doch wie sah es zuvor aus?

Von 1924 bis 1992 existierte die Mongolische Volksrepublik (VR), die nach der Sowjetunion als zweiter sozialistischer Staat galt. Wiewohl stark beeinflusst vom "großen Bruder im Norden" (chojd ach), war die Mongolische VR keine Sowjetrepublik. Gerade die Nomadismuspolitik war einer der Bereiche, in dem der Satellit zu seinem Leitstern Distanz hielt: Anders als Sowjetisch-Zentralasien blieb das Land von Programmen zur Sesshaftmachung verschont, und die extensive Weideviehhaltung war als landwirtschaftliche Hauptproduktionsform anerkannt. Unterschiede zur Nomadismuspolitik der Sowjetunion gab es auch bei der Kollektivierung: Während diese in den Sowjetrepubliken trotz Widerstands gewaltsam umgesetzt wurde, brach man in der Mongolischen VR den ersten Versuch angesichts drohender Volksaufstände zunächst ab. Der nächste Anlauf wurde erst dreißig Jahre später genommen und führte durch anreizbasierte Herangehensweisen und attraktive Rahmenbedingungen schließlich zum Ziel. Die Unterschiede zu Kasachstan waren erheblich: "Pastoralism did not experience any economic, political or ideological marginalisation in Mongolia because its importance in economic respects and its being a fundamental feature of traditional Mongolian culture was generally acknowledged. There was no decline in livestock numbers during the collectivisation here as occurred in Kazakhstan, and pastoralism did not lose that much importance in relation to other sectors of the economy. The collectives were also not as rigidly organised and in every-day life there was a high level of individual decision making concerning livestock management."

Die Kollektivierung war flankiert von der Etablierung moderner Institutionen wie Schulen, Krankenhäusern, Poststationen, Veterinärzentren, Läden, Klubs und Bibliotheken. Mitunter werden die so entstandenen ländlichen Zentren als Bestrebungen zur Sesshaftmachung interpretiert, obwohl, wie unter anderem Caroline Humphrey und David Sneath in einer vergleichenden Studie nachgewiesen haben, die Existenz immobiler Infrastruktureinrichtungen kein Indikator für sinkende räumliche Mobilität ist. Auf der Basis länderübergreifender Analysen bewerten sie die Modernisierungen in der Mongolischen VR als gelungene Integration von mobilem und sesshaftem Lebensstil. Ebendies ist in der Mongolei Konsens und wird mit der Formel "ein Staat, zwei Zivilisationen" (neg uls, chojor irgenšil) auf den Punkt gebracht. Die Wortwahl ist durchaus kein Zufall, wird doch Zivilisation mit Modernität und Fortschritt assoziiert.

Fokussiert man den für gesellschaftliche Modernisierung zentralen Faktor soziale Mobilität, so ist die Mongolische VR ein wohl einzigartiges Beispiel für "Nomad-Mainstreaming", insofern staatliche Politik und Institutionen auf Gleichstellung ausgerichtet waren. Hierdurch sind auch die international anerkannten Erfolge im Bildungsbereich zu erklären, denn das Land war bei mehrheitlich mobiler Bevölkerung der erste Staat in Asien, der bis Ende der 1960er Jahre eine flächendeckende Alphabetisierung erreicht hatte. Gelungen war dies vor allem dadurch, dass die Bildungspolitik auf schulorganisatorischer Ebene stark auf die Viehwirtschaft Bezug nahm und das Bildungssystem eine hohe Durchlässigkeit aufwies. Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal war die sogenannte Gender-Inversion: je höher der Bildungsgrad, desto höher der Frauenanteil. Seit Geschlechterparität in den 1970er Jahren erreicht wurde, verzeichnen mongolische Hochschulen mehr Absolventinnen als Absolventen. Waren Frauen in der mongolischen Gesellschaft von jeher vergleichsweise autonom, so ist es seit der Modernisierung verbreitet, Töchter mit möglichst hohen Bildungsabschlüssen ausgestattet in die Ehe zu entlassen. Zum Ende des Sozialismus 1989/90 lag die Alphabetisierungsrate bei 96,5 Prozent. Damit hatte die von mobiler Viehwirtschaft geprägte Mongolei "a higher literacy rate than the United Kingdom or the United States, and a higher tertiary education rate than most countries in the developed world".

Von Nomadismus zu Migration

Vor diesem Hintergrund erklärt sich, weshalb die Herabstufung der Mongolei zu einem Entwicklungsland zu Beginn der 1990er Jahre einen Schock auslöste, entsprachen doch die Selbstwahrnehmung und die hohen Lebensqualitätsdaten des Human Development Index der Vereinten Nationen dieser Kategorisierung nicht. Doch angesichts der Wirtschaftskrise nach dem Kollaps des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON) sah sich die mongolische Regierung gezwungen, der als Stigmatisierung angesehenen Einstufung in die "Dritte Welt" nachzugeben, um Kredite zu erhalten. Diese wiederum waren an Privatisierungsauflagen gebunden und lösten Kontroversen aus, da es niemals in der mongolischen Geschichte Landeigentum gegeben hatte. Die Viehwirtschaft funktionierte stattdessen von jeher auf der Basis von Nutzungsrechten, denn es war allgemein bekannt, dass starre Grenzen einer nachhaltigen und witterungsangepassten Nutzung von Weideland in ariden (trockenen) Gebieten abträglich sind. Doch: "development planners (…) are uncomfortable with forms of collective land tenure". Ungeachtet heftiger Kritik war die Entwicklungspolitik der 1990er Jahre noch immer vom Leitbild der Tragedy-of-the-Commons-These inspiriert. Die der Mongolei angetragene sogenannte Schocktherapie basierte auf überkommenen Modellen, und die vielbeschworene Transition stellte sich im ländlichen Raum als Regression dar: Viehzüchter beschrieben die Umkehr des Entwicklungsprozesses als "having lost decades of improvement with conditions beginning to resemble those of the 1940s!"

Was war geschehen? Zunächst stand die Dekollektivierung an der Spitze der Agenda. Dieser 1991 bis 1993 vollzogene erste Schritt der Reform des Landwirtschaftssektors rief positive Resonanz hervor und war mit optimistischen Erwartungen verbunden. Viele Familien nahmen ihre Kinder, vor allem Jungen, aus den Schulen, um den mit großen Privatherden verbundenen Arbeitsaufwand bewältigen zu können. Nach der Privatisierung des etwa 26 Millionen Tiere umfassenden Viehbestandes war die Weidewirtschaft Anfang der 1990er Jahre der einzige ökonomische Sektor, der Wachstumsraten zu verzeichnen hatte. Doch durch die Abwicklung der Kollektive und den Rückzug des Staates brach die sozioökonomische Struktur der ländlichen Siedlungszentren zusammen. Viele Leistungsangebote in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Veterinärwesen, Kommunikation und Kultur fielen ersatzlos weg, inklusive der damit verbundenen Arbeitsplätze. 1991 bis 1994 führte dies in Kombination mit der miserablen Versorgungslage zum Rückzug in die ländliche Subsistenzwirtschaft und zum vielbeachteten Phänomen der "neuen Nomaden": Nach Privatisierung der Herden hatten landesweit etwa 95000 Personen aus anderen Berufsfeldern in die Viehzucht gewechselt. Hierbei handelte es sich vorwiegend um ehemalige Angestellte, die nach der Dekollektivierung infolge von Arbeitslosigkeit und Warenknappheit mit "pre-modern means of subsistence" ein Auskommen suchten. Dieser zuweilen etwas voreilig und romantisierend als "Konversion von der Sesshaftigkeit zum Nomadentum" gefeierte Prozess kehrte sich Ende der 1990er Jahre um, als bereits 35,6 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebten, in ländlichen Zentren keine suffiziente Infrastruktur mehr existierte und eine anhaltende Land-Stadt-Migration von mehr als einer halben Million Menschen die sogenannten Nomaden in eine Minderheit verwandelte.

Heute leben 68 Prozent der seit Januar 2015 drei Millionen zählenden Bevölkerung der Mongolei in Städten, davon mehr als 40 Prozent in Ulaanbaatar. In der kältesten Hauptstadt der Welt, die jüngst durch Spitzenwerte in der Luftverschmutzung traurige Berühmtheit erlangte, wohnen knapp zwei Drittel der Einwohner in Jurtenvierteln mit mangelhafter Infrastruktur. Die Ursachen für den anhaltenden Zuzug sind vielfältig, neben ökonomischen Gründen spielt vor allem der Wunsch nach sozialer Mobilität eine Rolle. Denn paradoxerweise hatte die junge Generation auf dem Land nach der politischen Wende schlechtere Bildungschancen als die Generation ihrer Eltern. Der im Rahmen der Strukturanpassung erstellte erste Masterplan zur Reform des Bildungswesens sah für ländliche Regionen Low-Budget-Schulen mit Wanderlehrern und Mehrklassenunterricht vor, was von der an Chancengleichheit gewöhnten Landbevölkerung wegen Diskriminierung abgelehnt wurde. Erstmals in der Geschichte der Mongolei gab es ausgerechnet beim Übergang zur Demokratie eine signifikante strukturelle Benachteiligung von Kindern aus Nomadenfamilien. Der Rückgang der Schulbesuche in den 1990er Jahren führte zu einer statistisch relevanten Wiederkehr des Analphabetentums – ironischerweise zeitlich synchron, aber inhaltlich konträr zur globalen Bildungsprogrammatik der "Education for All"-UN-Dekade. In dieser Zeit sahen sich Viehzüchterhaushalte mit sozialen Mobilitätsambitionen zu Migration für Bildung gezwungen, nicht selten verbunden mit Trennung der Familie und nahezu immer mit Einschränkungen des Weidewechsels und der Wanderdistanzen.

Im Umfeld ländlicher und urbaner Zentren, die Zugang zu Märkten, Informationen und Dienstleistungen versprachen, kam es nach 1990 zu Überweidung. Hierzu trug unter anderem der auf etwa 45 Prozent gestiegene Anteil profitabler Kaschmirziegen bei (die Mongolei ist neben China der weltgrößte Produzent von Kaschmirwolle). Katastrophale Auswirkungen hatten zudem konsekutive Dürren und Zud-Ereignisse. Letztere bezeichnen massenhaftes Viehsterben, zu dessen Ursachen hoher Schnee, überfrierende Nässe, Sturm und/oder Bodenverdichtung zählen, wobei das Ausmaß der Verluste von sozialen und politischen Faktoren abhängt. Nach Auflösung der Kollektive mit ihren Serviceleistungen wie Veterinär- und Transportdiensten, Futterproduktion sowie Notfallhilfe war Risikomanagement inklusive Zud-Prävention Privatsache. Regionen, in denen Heugewinnung nicht möglich ist, waren besonders von Viehverlusten betroffen, bevor die Regierung nach dem Verenden eines Fünftels der nationalen Tierbestände im Frühjahr 2010 erneut Notfallkapazitäten zur Zud-Intervention etablierte. Doch ex post war die durch Verlust der Existenzgrundlage ausgelöste neue Welle der Land-Stadt-Migration nicht mehr aufzuhalten. Erst ab 2013 begann die Regierung, in einigen Landkreisen die Modernisierung der ruralen Infrastruktur zu fördern.

Minegolia und die Postmoderne: Nomadism-to-go

Die Mongolei gehört zu den zehn rohstoffreichsten Ländern der Erde und ist als "Minegolia" oder "Moncoalia" in den Fokus transnationaler Wirtschaftsinteressen gerückt. Einige der auf gigantischen Direktinvestitionen basierenden Großprojekte zur Erschließung und Verarbeitung immenser Ressourcen an Kupfer, Gold, Kohle, Uran, Molybdän und Seltenen Erden stagnieren derzeit, hauptsächlich infolge politischer Instabilität und Rechtsunsicherheit. Umweltprobleme sind ebenso virulent wie Streit darum, wer von den Rohstofferlösen profitiert. Denn nach wie vor lebt etwa ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, und die Zuwanderung in die Jurtenviertel Ulaanbaatars hält an, während sich reiche Eliten in gated communities abschotten. In der Weidewirtschaft bringt der Rohstoffboom vielerorts Interessenkonflikte bei der Landnutzung hervor. Betroffen sind beispielsweise in den vergangenen Jahren quasi-privatisierte Winter- und Frühjahrslagerplätze, für deren Nutzung die Administration der Landkreise Zertifikate ausstellt, während übergeordnete Autoritäten mitunter für dieselben Orte Abbaulizenzen vergeben. In allen Provinzen der Mongolei schwelen Konflikte wegen großflächiger Zerstörung von Weideland durch Bergbau. Extreme Staubbelastungen durch Tausende Lastwagen auf unbefestigten Steppenwegen sowie Wasservergiftungen durch Quecksilber und Cyanide fordern Opfer. Mehr als 850 Flüsse und 1000 Seen sind infolge von Rohstoffabbau ausgetrocknet. Das Versiegen des Ongi-Flusses, von dessen Wasserressourcen über 60000 Hirten-Haushalte abhingen, löste international beachtete Proteste aus. Neben großen Firmen betreiben sogenannte Ninjas teils ungeregelten Kleinbergbau und hinterlassen oft kontaminierte Mondlandschaften. Wiewohl Gesetze zur Einhaltung von Umweltstandards durchaus existieren, scheitert deren Umsetzung vielerorts an fehlenden Autoritäten und/oder Korruption. Angesichts hoher Staatsverschuldung und prognostizierter Wachstumsraten setzt die Regierung weiter auf Bergbau als Top-Priorität für die ökonomische Entwicklung der Mongolei.

Als potenzieller Wachstumssektor gilt auch der Tourismus. Insbesondere im Umkreis landschaftlicher und geschichtsträchtiger Attraktionen sowie entlang der Hauptreiserouten verspricht sich die lokale Bevölkerung saisonale Verdienstmöglichkeiten. Selbst einige Gruppen von Rentierzüchtern ziehen aus der Taiga in die Nähe von Touristencamps, obwohl dies der Gesundheit der mitgeführten Rentiere abträglich ist. Kontrovers diskutiert werden durch Tourismus verursachte Umweltbelastungen (Wasser- und Holzverbrauch, Müll) sowie die Frage, inwieweit die ländliche Bevölkerung am Gewinn der fast ausnahmslos von Hauptstädtern oder Ausländern geleiteten Reiseunternehmen beteiligt ist. Nomadismus ist das Zauberwort, um Touristen in die Mongolei zu locken. Es wird gern gekoppelt mit dubiosen Versprechen einer Zeitreise in eine – freilich imaginäre – Vergangenheit. Fast alle Anbieter haben Besuche bei "echten Nomaden" im Programm, und obwohl der Weidewirtschaft von der Politik geringe Priorität beigemessen wird und die Viehzüchter de facto Abwertung erfahren, werden sie utilisiert als "spectacle for the tourist industry and a colourful testimony to Mongolia’s great heritage". Man bedient hiermit das exotistische Bedürfnis, in den Weiten scheinbar zivilisationsferner Steppen auf die authentische Unverdorbenheit kerniger Naturmenschen zu treffen, die das genuin Nomadische zu verkörpern versprechen.

In der Mongolei der Gegenwart hat weniger die real existierende mobile Weideviehwirtschaft als das Motiv eines mythischen "Nomadischen" Konjunktur. Es ist keineswegs auf Marketing im Tourismussektor beschränkt, vielmehr durchherrscht dieses Klischee sämtliche Identitätsdiskurse, die um die Frage kreisen, was wirklich, echt und wahrhaft (žinchene) mongolisch sei. Ob als nationalistisch-demonstrative Abgrenzung zum südlichen Nachbarn China ins diskursive Feld geführt oder beim Ringen um distinktive Wahrnehmbarkeit auf globalen Bühnen – das Nomadismus-Label eignet sich, vorzugsweise in Kombination mit Činggis Chaan, dem ersten mongolischen Großkhan, ideal als Markenzeichen. Das so kreierte Image der "Mongolian nomads" als "poetic fiction" verharrt nicht im euro-amerikanischen Bewusstsein, sondern ist längst in den Vorstellungswelten mongolischer Städter sesshaft geworden. Heute wird das, was als wahrhaft mongolisch gilt, von urbanen Eliten in träumerisch-essentialistischer Manier dem ländlichen Raum (chödöö) zugeordnet. Rurale Regionen, wiewohl nach 1990 von staatlicher Politik vernachlässigt, werden als Reservoir kultureller Intaktheit und Authentizität imaginiert. Anders als in fiktionalen westlichen Mongolei-Bildern sind bei einheimischen Städtern romantische Vorstellungen eines freien Umherschweifens in unberührter Natur freilich nicht anzutreffen.

Ohnehin hat Freiheit in der Heterogenität der Postmoderne andere Dimensionen. Mit "reductive mould of a ‚nomadic nation‘" kann in der Mongolei jenseits kosmopolitischer Settings kaum jemand etwas anfangen. Anstelle eines altbackenen Kulturdeterminismus finden wir, wie anderswo auf der Welt, deterritoriale Arten von Eskapismus. Ein verbreitetes Phänomen ist beispielsweise das umgangssprachlich alga boloch genannte Abtauchen: Sei es, um sich temporär von Stress zu erholen (im Hauptstadtmongolischen ist das Lehnwort "Stress" sehr populär) oder um sich sozialer Verantwortung zu entziehen, die postnomadische Urbanität bietet Freiheiten, sich auszuklinken. Diejenigen, deren way of life unter "Nomadismus" firmiert, stehen bekanntlich weder für Freiheit von Verpflichtungen noch für Indifferenz oder exterritoriale Bindungslosigkeit. Hiervon unbenommen bleibt das allegorische Potenzial des Nomadischen attraktiv, und weshalb sollte man ausgerechnet in der Mongolei darauf verzichten, mit nomadism-to-go jeglicher Couleur zu experimentieren?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Caroline Humphrey/David Sneath, The End of Nomadism? Society, State and Environment in Inner Asia, Durham 1999, S. 1.

  2. N. Doržgotov, Zarim ügijn tuchaj, in: Nüüdlijn nijgmijg olon ulsyn tüvšind sudlach n’. Nomadism – International Study, Ulaanbaatar 2002, S. 109.

  3. Anatoly M. Khazanov, Nomads and the Outside World, Madison 1984/94², S. 1.

  4. Im Original: "both indispensable and inadequate". Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton–New Jersey 2000, S. 6.

  5. John Clammer, Europe in Asia’s Imaginary. Disciplinary Knowledges and the (Mis)Representation of Cultures, in: Stephanie Lawson (Hrsg.), Europe and the Asia-Pacific. Culture, Identity and Representations of Region, London–New York 2003, S. 17–32, hier: S. 21.

  6. Der "emische" Zugang stellt kulturspezifische Zusammenhänge aus der Binnenperspektive dae.

  7. Vgl. Thomas Barfield, Nomadic Pastoralism in Mongolia and Beyond, in: Paula Sabloff (Hrsg.), Mapping Mongolia. Situating Mongolia in the World from Geologic Time to the Present, Philadelphia 2011, S. 104–124, hier: S. 104. Dies ist einer von fünf Analyserahmen (neben ethno-, media-, finance- und ideoscape), mit denen der Anthropologe Arjun Appadurai Beziehungen globaler Strömungen beschreibt. Vgl. Arjun Appadurai, Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996.

  8. Vgl. Tetsuya Inamura, The Transformation of the Community of Tsaatan Reindeer Herders in Mongolia and Their Relationship with the Outside World, in: Senri Ethnological Studies, 69 (2005), S. 123–152. Laut letztem Zensus waren es 282 Personen, siehe Externer Link: http://www.toollogo2010.mn (14.4.2015).

  9. Vgl. A. Appadurai (Anm. 7).

  10. Vgl. National Statistical Office of Mongolia, Chün am, oron suucny 2010 ony ulsyn toollogyn ür dün.

  11. Vergleichend dazu Elliot Fratkin, Pastoralism: Governance and Development Issues, in: Annual Review of Anthropology, 26 (1997), S. 235–261.

  12. Vgl. Peter Rottier, The Kazakhness of Sedentarization: Promoting Progress as Tradition in Response to the Land Problem, in: Central Asian Survey, 22 (2003) 1, S. 67–81.

  13. Vergleichend u.a. zu Skandinavien, Nordamerika und Ostafrika John G. Galaty/Douglas L. Johnson (Hrsg.), The World of Pastoralism. Herding Systems in Comparative Perspective, New York–London 1990.

  14. Carol Kerven (Hrsg.), Prospects for Pastoralism in Kazakstan and Turkmenistan. From State Farms to Private Flocks, London–New York 2003, S. 2.

  15. Vgl. Charles R. Bawden, The Modern History of Mongolia, London 1968.

  16. Vgl. David Sneath, Lost in the Post: Technologies of Imagination, and the Soviet Legacy in Post-Socialist Mongolia, in: Inner Asia, 5 (2003) 1, S. 39–52; I. Lchagvasüren, XX zuuny Mongolčuud, Osaka 2003.

  17. Peter Finke, Contemporary Pastoralism in Central Asia, in: Gabriele Rasuly-Paleczek/Julia Katschnig (Hrsg.), Central Asia on Display, Wien 2004, S. 397–410, hier: S. 398.

  18. Vgl. C. Humphrey/D. Sneath (Anm. 1).

  19. 1970 erhielt die Mongolische VR hierfür eine Auszeichnung der UNESCO.

  20. Vgl. Ines Stolpe, Schule versus Nomadismus? Interdependenzen von Bildung und Migration in der modernen Mongolei, Frankfurt/M. 2008.

  21. Vgl. Sodnomyn Zambaga, Mongolische Frauen: Traditionen und Veränderungen, in: Interkulturelle und Internationale Prozesse in der Frauenforschung und Frauenbewegung, 5 (1992), S. 34ff.

  22. Vgl. Mongol Ulsyn Zasgyn Gazar/United Nations Development Programme (UNDP), Mongol chünij chögžlijn iltgel, Ulaanbaatar 1997, S. 7.

  23. The Mongol Messenger vom 20.8.1997, S. 7.

  24. E. Fratkin (Anm. 11), S. 242.

  25. Vgl. Garrett Hardin, The Tragedy of the Commons, in: Science, 162 (1968) 3859, S. 1243–1248.

  26. David Sneath, Mongolia in the ‚Age of the Market‘: Pastoral Land-use and the Development Discourse, in: Ruth Mandel/Caroline Humphrey (Hrsg.), Markets and Moralities. Ethnographies of Postsocialism, Oxford–New York 2002, S. 191–210, hier: S. 196.

  27. Während des Sozialismus waren Privatherden von maximal 50 (in der Wüste Gobi 75) Tieren je Haushalt gestattet.

  28. Vgl. Mongol Ulsyn Zasgyn Gazar/UNDP (Anm. 22).

  29. Ole Bruun, The Herding Household: Economy and Organization, in: ders./Ole Odgaard (Hrsg.), Mongolia in Transition, Richmond 1996, S. 65–89, hier: S. 65.

  30. Franz-Volker Müller, Die Wiederkehr des mongolischen Nomadismus, in: Jörg Janzen (Hrsg.), Räumliche Mobilität und Existenzsicherung, Berlin 1999, S. 11–46, hier: S. 36.

  31. Vgl. Government of Mongolia/UNDP, Human Development Report Mongolia, Ulaanbaatar 2000, S. 23.

  32. Vgl. UNDP, Sustainable Urban Development in Mongolia, 2014, Externer Link: http://www.mn.undp.org/content/dam/mongolia/DevelopmentDialogues/DD2014/DD8_20140616/dd-8%20-eng.pdf (22.5.2015).

  33. Für Hintergründe der Bildungsreform und Fallstudien siehe I. Stolpe (Anm. 20).

  34. Vgl. Ines Stolpe, Zud in der Mongolei: Perspektiven auf wiederkehrende endemische Katastrophen, in: Mongolische Notizen, 19 (2010/2011), S. 44–60.

  35. Von dem sumyn tövijn šinečlel bzw. šine sum tösöl genannten Programm waren 2014 nur 16 der über 300 Landkreise erfasst worden. Vgl. Ines Stolpe, Postsozialistische Perestroika in der ländlichen Mongolei, in: Mongolische Notizen, 22 (2014), S. 111–128.

  36. Diese Bezeichnung verdanken die Goldwäscher Plastikschüsseln, die, auf dem Rücken getragen, an Schildkrötenpanzer der "Teenage Mutant Ninja Turtles" erinnern. Assoziationen mit anderen populärkulturellen Genres des Ninja-Mythos liegen ebenfalls nahe.

  37. Vgl. Elizabeth Endicott, A History of Land Use in Mongolia. The Thirteenth Century to the Present, Basingstoke 2012.

  38. Vgl. T. Inamura (Anm. 8).

  39. Ole Bruun, Nomadic Herders and the Urban Attraction, in: ders./Li Narangoa (Hrsg.), Mongols from Country to City. Floating Boundaries, Pastoralism and City Life in the Mongol Lands, Kopenhagen 2006, S. 162–184, hier: S. 182.

  40. Orkhon Myadar, Imaginary Nomads: Deconstructing the Representation of Mongolia as a Land of Nomads, in: Inner Asia, 13 (2011) 2, S. 335–362, hier: S. 339.

  41. Ebd., S. 335.

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Dr. phil., geb. 1969; Professorin für Mongolistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Regina-Pacis-Weg 7, 53113 Bonn. E-Mail Link: istolpe@uni-bonn.de