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Zentralisierung und Föderalismus in Afrika

Ole Frahm

/ 15 Minuten zu lesen

Seit ihrer Gründung oszillieren viele Staaten Subsahara-Afrikas zwischen Bemühungen, die Staatsgewalt zentral zu steuern, und Versuchen, ein dezentraleres föderales Regierungs- und Verwaltungssystem aufzubauen.

Seit Ende des Zweiten Weltkrieges, als noch ein Großteil des afrikanischen Kontinents unter europäischer Fremdherrschaft stand, hat sich die politische Landkarte Afrikas wenig verändert: Abgesehen von einigen Ausnahmen wie Eritrea und Südsudan, decken sich die Grenzen der heute unabhängigen Staaten mit jenen ihrer kolonialen Vorgänger. Die meist kaum ein Jahrhundert währende Kolonialherrschaft hat die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Struktur der afrikanischen Staaten stark geprägt und wirkt bis heute nach – auch mit Blick auf die innerstaatlichen Entscheidungs- und Verwaltungsstrukturen.

Zentrum und Peripherie im Kolonialismus

Die Gründung der gegenwärtigen Staaten Afrikas geht in vielen Fällen auf eine Art pervertierte Dezentralisierung zurück: Die europäischen Kolonialmächte führten die Kolonien als Außenstellen ihrer zentralisierten Macht; den afrikanischen Peripherien kam in erster Linie die Funktion der Versorgung der Metropolen mit Ressourcen zu, worauf Namen wie Elfenbeinküste oder Goldküste (das spätere Ghana) hinweisen. Gerade an den Küstenstaaten lässt sich dies auch topografisch ablesen: Die Hauptstädte lagen und liegen vielerorts nahe oder direkt an der Küste, um die Kommunikation mit London, Paris oder Brüssel zu erleichtern; auch die Infrastruktur im Landesinneren war, wie etwa in Kamerun, einzig darauf ausgerichtet, Menschen und Güter aus dem Inland zur Küste und zurück zu transportieren. Eine Vernetzung innerhalb der Kolonie wurde fast nirgendwo in Angriff genommen, da der Kolonialmacht die Kosten zu hoch und der Nutzen zu gering erschienen. Kolonien ähnelten also nicht Provinzen oder Bundesländern, sondern waren Peripherien mit sehr geringem Einfluss auf Entscheidungsprozesse im imperialen Staat, dessen rassistische Ideologie keine Selbstbestimmung der Kolonialbevölkerung vorsah. Selbst dort, wo wie in Algerien die Kolonie auch formell dem französischen Staat einverleibt wurde, blieb das Wahlrecht und damit die Repräsentation Algeriens in der Pariser Nationalversammlung allein den französischstämmigen Siedlern und ihren Abkömmlingen vorbehalten.

Im Zuge der nach dem Zweiten Weltkrieg mit neuem Elan aufkommenden Unabhängigkeitsbewegungen war die Zersplitterung der afrikanischen Völker in voneinander getrennte Kolonien ein wichtiges Thema. In den Kreisen afrikanischer Unabhängigkeitskämpfer und Intellektueller entfaltete die besonders vom ersten ghanaischen Präsidenten Kwame Nkrumah propagierte Idee der afrikanischen Einheit als Gegenentwurf zur Aufteilung in separate territoriale Einheiten eine enorme Wirkung. Paradoxerweise bestand das vereinende Element der in Bräuchen, Sprache, Glaube und ethnischer Zugehörigkeit ausgesprochen vielfältigen Bewohnerinnen und Bewohner des Kontinents gerade in der (fast) allen gemeinsamen Kolonialerfahrung. "Die Kolonisierung hatte ein entscheidendes Ergebnis. Ein Gefühl wurde auf dem afrikanischen Kontinent erschaffen – ein Gefühl von Einheit", so der spätere tansanische Präsident Julius Nyerere 1960.

Anders als in der arabischen Welt, wo panarabische Einigungsversuche unternommen wurden, gab es südlich der Sahara jedoch keine praktischen Bemühungen, die angedachte Einheit zu realisieren. Die 1963 gegründete Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) beschloss bereits 1964, dass die kolonialen Grenzen unangetastet bleiben sollten. Sowohl die internationale Gemeinschaft als auch die meisten Unabhängigkeitsbewegungen zogen letztlich souveräne Nationalstaaten der Utopie einer kontinentalen Einheit vor. Einzig in Reden, Traktaten und Appellen sowie der in Addis Abeba ansässigen OAU-Nachfolgeorganisation der Afrikanischen Union lebt der Gedanke der afrikanischen Einheit fort. Der Paragraf in Malis Verfassung, der die Auflösung des Staates im Falle der afrikanischen Einheit vorsieht, ist inzwischen eher Kuriosum denn Ausdruck einer realistischen Erwartung.

Im Gegensatz zu den Staatsgründungsprozessen in Europa entstanden die Territorialstaaten Afrikas somit nicht im Gefolge zwischenstaatlicher Kriege, die auch zur inneren Einheit der werdenden Nationalstaaten beitrugen, sondern durch die weitestgehend kampflose Übergabe durch die Kolonialmächte – eine Ausnahme ist das südliche Afrika. Ein Resultat dieser Entstehungsgeschichte ist, dass die Beziehungen zwischen den Staaten überwiegend geregelt verliefen, wohingegen ihre innerstaatliche Lage von Instabilität und Aufruhr gekennzeichnet war. Bei diesen innenpolitischen Auseinandersetzungen spielte und spielt die Zentralisierung beziehungsweise Delegation von Macht und Ressourcen eine entscheidende Rolle.

Vorbild westeuropäischer Nationalstaat

In der Geschichtswissenschaft wird derzeit die Frage diskutiert, inwiefern es auf dem afrikanischen Kontinent Kontinuitätslinien aus der vorkolonialen Zeit bis zur Gegenwart gibt, die den Einschnitt des Kolonialismus intakt überstanden haben. So unbestreitbar wichtig dieser Blick über den eurozentrischen Tellerrand ist, so wenig relevant ist er für ein Verständnis des Widerstreits zwischen Zentralisierung und Föderalismus im postkolonialen Afrika. Denn in den Jahren nach der Unabhängigkeit diente den neu gegründeten Staaten generell der territoriale Nationalstaat westeuropäischen Zuschnitts als Vorbild. Allzu oft entsprachen Aufbau und Gliederung des Staates ausgerechnet jenen der ehemaligen Kolonialmacht: Vormals britische Kolonien installierten ein Zweikammersystem, während ehemals französisch regierte Staaten die Institutionen der Fünften Republik oft eins zu eins übernahmen.

Diese institutionelle Kontinuität fand sich auch in der Gliederung der staatlichen Verwaltung wieder und prägte die Beziehungen zwischen innerstaatlichem Zentrum und Peripherie in ähnlicher Weise wie zuvor jene der Metropole vis-à-vis der Kolonie. Viele afrikanische Staaten waren in der Nachkolonialzeit zentralistisch organisiert, und die in der Hauptstadt verortete Zentralregierung verfügte über weitreichende Kontrollkompetenzen. In einer derartigen Staatsorganisation, wie sie bis in die 1980er Jahre in Afrika die Regel war und auch heute noch vielerorts besteht, konzentrierte und konsolidierte sich die staatliche Macht meist in der Hauptstadt und ihrer Umgebung. Das bedeutete auch, dass die Vernachlässigung der entlegeneren Provinzen nach der Unabhängigkeit andauerte – unabhängig davon, ob ein kapitalistischer, sozialistischer, demokratischer oder autoritärer Entwicklungspfad beschritten wurde. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Lebensläufe der jeweiligen Führungsriegen, deren politische und intellektuelle Sozialisation oft in jenen Ländern erfolgt war, gegen deren Herrschaft sie aufbegehrten, die sie aber dennoch als Muster für den neu zu formenden Staat sahen. Jenseits dieser Pfadabhängigkeit waren es vor allem zwei Motive, die die afrikanischen politischen Eliten vielerorts auf einen stark zentralisierten Staat setzen ließen.

Da der europäische Nationalstaat implizit als Maßstab erfolgreicher Staatsbildung fungierte, galt es zum einen, für den jeweiligen neuen Staat ein Staatsvolk zu schaffen beziehungsweise wirkungsvoll zu imaginieren. Die aufgrund der willkürlichen kolonialen Grenzziehungen oftmals sozial, ethnisch, kulturell und linguistisch sehr heterogenen Einwohnerinnen und Einwohner – im Kongo werden über 200 Sprachen gesprochen, in Nigeria mehr als 500 – mussten erst zu einer Gemeinschaft mit kollektiver Identität zusammengeschweißt werden. Aus Sicht vieler Politiker der ersten Stunde vermochte nur ein Einheitsstaat eine solche Mammutaufgabe zu leisten. Die Kehrseite des zwangsweise einenden Moments zeigte sich im Umgang mit jenen Institutionen und Personen, die der Idee des Nationalstaates im Wege standen – in erster Linie traditionelle lokale Autoritäten wie Stammesführer, die zudem im Fortschrittsglauben der Epoche als Relikte einer überkommenen Zeit und Kultur galten. Symptomatisch ist der Ausspruch des ersten Präsidenten Mosambiks Samora Machel: "Damit die Nation leben kann, muss der Stamm sterben." Aus dieser Überzeugung heraus kam eine föderale Struktur, die lokalen Kräften, in einer Mehrzahl der Fälle traditionellen Führern, größere Mitspracherechte gewährt hätte, für viele Eliten nicht infrage.

Zum anderen konnte in einem Zentralstaat das neopatrimoniale Herrschaftssystem einfacher aufrechterhalten werden – selbst wenn dies als Motiv kaum offen ausgesprochen wurde. Ein solches System, wie es nach wie vor in vielen afrikanischen Staaten besteht, fußt auf der Kontrolle der staatlichen Ressourcen durch das Zentrum, das wiederum seinen Anhängerinnen und Anhängern im Tausch gegen ihre Loyalität Pfründe und Vergünstigungen gewährt. Besonders häufig findet sich dieses System in ressourcenreichen Ländern wie Angola oder Äquatorialguinea. Der Staat nimmt hier einen exorbitant großen Raum im gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Leben ein und verdrängt andere Akteure. Zugleich nutzen diejenigen, die Teil des Staatskörpers sind, dessen dominante Position, um sich und den Zentralstaat auf Kosten der Bevölkerung zu bereichern und den Fortbestand des Versorgungsapparates zu sichern. Infolgedessen wuchsen vor allem die Hauptstädte rasant an – Luanda, die Hauptstadt Angolas, ist zehnmal so groß wie die nächstgrößte Stadt des Landes – und verformten sich zu gigantischen Wasserköpfen, die sich auf Kosten der ländlichen Massen nähren.

Solange jedoch der sicherste Zugang zu Reichtum und Einfluss in der Kontrolle über die Staatsorgane besteht, wird Politik unweigerlich zu einem Nullsummenspiel, bei dem es nur einen Gewinner geben kann. Im postkolonialen Afrika bedeutete diese Anreizstruktur, dass sich politischer Wettbewerb durch Oppositionsparteien oder Rebellenbewegungen darauf verengte, Kontrolle über die Zentralregierung zu erlangen. Forderungen nach Devolution wurden hingegen kaum geäußert und noch seltener gehört. Ganz im Gegenteil nahmen mehrere Herrscher die Verarmung und Verwahrlosung der Provinzen entweder in Kauf oder sahen darin sogar eine Strategie zum Machterhalt. So ließ Präsident Mobutu in Zaïre, der heutigen Demokratischen Republik Kongo, bewusst die Infrastruktur des riesigen Landes zerfallen, um möglichen regionalen Oppositionskräften die Mittel zu nehmen, ihn zu stürzen. Ein besonders drastischer Fall ist auch Sierra Leone, wo Premierminister Siaka Stevens nach seinem Wahlsieg 1967 die Eisenbahntrasse ins Hinterland kappen ließ. Dies ruinierte zwar die Wirtschaft, hatte aber den aus Stevens Sicht weitaus wichtigeren Effekt, dass das Hinterland, das mit großer Mehrheit den Gegenkandidaten unterstützt hatte, dauerhaft an Einfluss auf die nationale Politik verlor.

Dezentralisierung des gescheiterten Zentralstaates

Dieses auf Korruption und Privatisierung des Gemeinguts basierende Vorgehen hatte zur Folge, dass der Staat zwar zentralisiert, in der Peripherie zugleich aber relativ schwach war. In vielen ländlichen Regionen, wo zunächst noch die große Mehrheit der Bevölkerung lebte, waren der Staat beziehungsweise seine Organe kaum präsent, sodass beispielsweise ein tschadischer Bauer nur selten einen Richter, Lehrer oder anderen Staatsbeamten zu Gesicht bekam. Dementsprechend hielten sich Verbundenheit mit und Loyalität gegenüber dem Zentralstaat bei der Landbevölkerung in Grenzen. Nur durch Zwang und Repression konnte sich der schwache Staat über Wasser halten – und hielt dabei den Repressionsapparat des ehemaligen Kolonialstaates zu seinen Gunsten am Leben und baute ihn weiter aus. Der Einheitsstaat erwies sich zusehends als Entwicklungshindernis.

Unterdrückung und fehlende Leistung schwächten die Legitimität des Staates und bewirkten eine Abkehr von der Zentralregierung sowie eine Rückkehr zu den nie ganz von der politischen Bildfläche verschwundenen Loyalitäten zu ethnischer Gruppe, Clan und Stamm. Ein Beispiel dafür ist Niger, ein dünn besiedelter Staat mit dem Anspruch eines starken Zentralstaates in französisch-jakobinischer Tradition. In der Praxis führte das Bestreben der Staatselite, alternative regionale, soziale oder ethnische Machtzentren auszuschalten, dazu, dass zentrifugale Kräfte religiöser wie ethno-regionaler Art das Gewaltmonopol des Staates immer stärker untergruben.

Forderungen nach Reformen und einer Umverteilung von Entscheidungsbefugnissen und Gütern vom Zentrum an lokale Strukturen wurden schließlich besonders in den 1990er Jahren durch die Demokratisierungswelle befeuert, die den Kontinent nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erfasste. Für die von einer Reihe von Staaten daraufhin unternommenen Dezentralisierungsreformen kann man vier allgemeine Motive identifizieren: Erstens war in einigen Ländern die Regierung tatsächlich bereit, Kompetenzen an dezentrale Organe abzugeben; zweitens mussten sich gerade kleinere afrikanische Staaten wie Gambia im Zuge der Schuldenkrise der 1980er Jahre aus Kostengründen von der Bereitstellung vieler öffentlicher Dienstleistungen zurückziehen; drittens knüpften Geberländer seit den 1990er Jahren die Vergabe von Hilfsgeldern vermehrt an Dezentralisierungsschritte; viertens ist Dezentralisierung in Postkonfliktgesellschaften eine probate Antwort auf ethno-regionale Konflikte, wofür exemplarisch Power-sharing-Arrangements in Südafrika und Nigeria stehen.

Dezentralisierung ist jedoch kein Garant für Frieden und Stabilität. Nigeria, das bevölkerungsreichste Land Afrikas, hat nach dem Trauma des sezessionistischen Biafra-Krieges Ende der 1960er Jahre eine immer weitere Untergliederung durchlaufen, die die Zahl der Bundesstaaten von drei (1960) auf zwölf (1967), dann 19 (1976), später 30 (1990) und zurzeit 36 vervielfältigte – wobei jede neue Region sich als frisches Biotop für Korruption, Unterschlagung und Vetternwirtschaft erwies. Dennoch besteht für die Zentralregierung die effektivste Methode, für Sicherheit zu sorgen, nach wie vor darin, lokale Rebellengruppen mit horrenden, aus Erdöleinnahmen finanzierten Ablasszahlungen zu beschwichtigen. Des Weiteren haben Devolutionsprogramme unter anderem in Senegal, Tansania, Ghana, Uganda und Kenia entgegen ihrem Anspruch de facto zu einer Rezentralisierung der Macht geführt. In Äthiopien beispielsweise schuf die Regierung nach ihrer Machtübernahme 1991 einen ethnischen Föderalstaat mit autonomen Regionen für jede Ethnie. Die Gliedstaaten dienen jedoch im Wesentlichen dazu, die Weisungen des autoritären, von der Hauptstadt Addis Abeba aus gelenkten Zentralstaates auszuführen und deren Umsetzung zu überwachen.

Doch selbst in jenen Staaten, in denen Macht und Ressourcen tatsächlich an lokale Körperschaften delegiert wurden, ist die lokale Ebene oft von Korruption und fehlender Repräsentativität gekennzeichnet, wobei die Einbindung traditioneller Autoritäten eine entscheidende Rolle spielt. Eine Ausnahme bildet hierbei Botswana, das traditionelle Führer in den formellen Staat integriert hat, indem sie im senatsähnlichen House of Chiefs ihre Interessen artikulieren und durchsetzen können. Nicht zufällig ist Botswana eines der stabilsten und in den Indizes menschlicher Entwicklung weit oben rangierenden Länder des Kontinents. Es ist jedoch fraglich, ob sich dieser Ansatz in heterogeneren, bevölkerungsreicheren und krisengeplagten Ländern replizieren lässt, in denen weitaus mehr Interessen gegeneinander abzuwägen sind.

Beispiel Südsudan

Ein solcher heterogener und von Kriegen gezeichneter Staat ist Südsudan, dessen Geschichte die Unwägbarkeiten von Dezentralisierungsmaßnahmen in schwachen Staaten illustriert. Zentrum-Peripherie-Konflikte prägen die Region seit Jahrzehnten und sind auch eine entscheidende Ursache für den seit Dezember 2013 wütenden Bürgerkrieg. Bereits seit der Unabhängigkeit Sudans von Großbritannien 1956 gab es im südlichen Drittel des Landes, das zu Kolonialzeiten getrennt verwaltet wurde und sich auch ethnisch-religiös vom überwiegend arabisch-muslimisch geprägten Norden unterschied, Forderungen nach mehr Teilhabe und Autonomie. Da die Regierungen in Khartum sich stets weigerten, dem Süden größere Eigenständigkeit zuzugestehen, war der Süden bis 2005 Schauplatz brutaler Guerillakriege. Seit dem Friedensvertrag 2005 wird Südsudan von der einstigen Separatistenbewegung Sudan People’s Liberation Movement (SPLM) als autonome Region regiert, nach einem nahezu einstimmigen Referendum 2011 als unabhängiger Staat.

Dezentrale Entscheidungsstrukturen sind in den meisten südsudanesischen Gemeinschaften Tradition. Seit dem Buschkrieg gegen die sudanesische Regierung, die Macht und Ressourcen in der zentralen Dschasira-Region konzentrierte, vertrat die SPLM Föderalismus und vertikale Gewaltenteilung auch als staatsorganisatorische Grundprinzipien. Das ursprünglich emanzipatorische Ziel eines Neuen Sudans, in dem sämtliche Regionen am geeinten Sudan teilhaben sollten, starb jedoch mit dem langjährigen SPLM-Führer John Garang bei einem Hubschrauberabsturz 2005 und wich einem verengten Fokus auf die Unabhängigkeit des Südens.

Die vorläufige Verfassung Südsudans ist ein klares Bekenntnis zu dezentraler Gewaltenteilung. Tatsächlich besteht der Staat nominell aus fünf Verwaltungsebenen: Neben der Zentralregierung gibt es zehn Bundesstaaten, die wiederum in counties untergliedert sind, unter denen auf lokaler Ebene payam (eine Gruppe Dörfer) und boma (die einzelnen Dörfer) rangieren. In der Regierungspraxis dominiert jedoch unumstritten die Zentralregierung in der Hauptstadt Juba. Weder Kompetenzen noch finanzielle Mittel werden delegiert. Die lokale Macht der County Commissioner äußert sich vor allem in autokratischem Gebaren und der Einschüchterung konkurrierender Autoritäten wie beispielsweise von Richtern. Die lokalen Entscheidungsträger sind zudem de facto nicht den Menschen vor Ort verantwortlich, sondern ihren Vorgesetzten in Juba: So hat Präsident Salva Kiir in den vergangenen Jahren unter Missachtung der Verfassung mehrere gewählte Gouverneure ihrer Ämter enthoben und durch Getreue ersetzt. Auch die wahrscheinlich funktionsfähigste Institution des Staates, die Armee, ist zentral gesteuert.

Diese Entwicklung ist in vielerlei Hinsicht typisch für Länder, in denen Befreiungsbewegungen an die Macht gelangt sind: Sei es die SWAPO in Namibia, die EPLF/PFDJ in Eritrea oder ZANU-PF in Simbabwe – sie zeigen sich notorisch unwillig, die einmal errungene Macht zu teilen, da sie sich durch ihren Einsatz von Leib und Leben als rechtmäßige Herrscher legitimiert fühlen und ob ihres militärischen Hintergrunds zivilen Akteuren und Handlungsweisen misstrauen. Ein wichtiger Unterschied in Südsudan besteht jedoch darin, dass der Staat nicht über die Fähigkeiten, das Personal und die Infrastruktur verfügt, um sein Territorium effektiv zu regieren. Jenseits der Hauptstadt und einiger Provinzstädte sind oft weder der Zentralstaat noch seine Untergliederungen in irgendeiner Form präsent. Stattdessen haben traditionelle Autoritäten das Sagen und regeln unter anderem Streitigkeiten nach Gewohnheitsrecht.

Ein weiterer Grund für die Ablehnung machtteilender und somit auch föderaler Arrangements liegt in der Geschichte des südsudanesischen Befreiungskampfs. Föderalismus und Dezentralisierung wurden von der sudanesischen Regierung als Mittel zur Schwächung regionaler Autonomiebestrebungen eingesetzt. So führte der von einer Logik des divide et impera geleitete Beschluss des Diktators Dschafar Muhammad an-Numairi, den zuvor einheitlichen Südsudan in drei Subregionen (Bahr al-Ghazal, Upper Nile, Equatoria) zu unterteilen, 1983 zur Gründung der SPLM und zum zweiten, über zwanzig Jahre währenden Bürgerkrieg. Auch die aktuelle Unterteilung Südsudans in zehn Gliedstaaten ist das Erbe einer Reform der Regierung Omar al-Baschirs von 1994, gegen deren Übernahme die SPLM sich lange sträubte.

Im Schatten des seit 2013 andauernden Bürgerkrieges in Südsudan und angesichts des offensichlichen Scheiterns des Zentralstaates ist die Diskussion um die föderale Struktur des jungen Staates erneut entbrannt und zieht trotz der unmissverständlichen Ablehnung seitens der Regierung weite Kreise. Die Debatte in Südsudan ist nicht grundlegend neu, sondern knüpft an Debatten aus den 1970er und 1980er Jahren an. Dabei fordern vor allem Vertreterinnen und Vertreter aus Equatoria, der südlichen und ethnisch vielfältigsten der drei Großregionen Südsudans, mehr Mitsprache und ein größeres Stück vom staatlichen Kuchen. Diese angesichts des Missmanagements in Juba auf den ersten Blick nachvollziehbare Forderung ist vor allem deshalb brandgefährlich, da sie auf einem Verständnis von Föderalismus basiert, das den "ursprünglichen" oder autochthonen Bewohnerinnen und Bewohnern Vorrechte gegenüber Zugezogenen einräumt. Im Falle Equatorias ist das besonders brisant, da im Zuge der Unabhängigkeitskämpfe ein Großteil der Bevölkerung mindestens einmal Opfer von Vertreibung wurde, und sich an vielen Orten Equatorias Dinka angesiedelt haben, die zahlenmäßig größte ethnische Gruppe Südsudans, die ihrerseits aus anderen Regionen fliehen mussten und auch nach der Unabhängigkeit dort geblieben sind. Das Verlangen nach größerer regionaler Autonomie lässt sich somit zu einem Gutteil auf Verteilungskämpfe um (Weide-)Land reduzieren.

Einen bedenklichen Weg, wie solche Forderungen realisiert werden können, weist ausgerechnet einer der brutalsten Milizenführer, David Yau Yau. Im Austausch gegen eine Waffenruhe wurde ein neuer Gliedstaat unter seiner persönlichen Kontrolle eingerichtet. Die Regierung selbst hat darüber hinaus unbeabsichtigt zu einer Verschärfung der Gegensätze beigetragen. Wurden ethnische Grenzen zuvor eher fließend und offen gehandhabt, forcierte der Land Act von 2009, der Land als Eigentum der jeweiligen vor Ort ansässigen Gemeinschaft festschreibt, die bewusste Abgrenzung gegen nicht zur Gemeinschaft Zugehörige. In letzter Konsequenz bedeutet die Forderung nach einer stärkeren Föderalisierung Südsudans also eine Gefahr für den ohnehin schwer angeschlagenen nationalen Zusammenhalt.

Schlussfolgerung

Trotz der angesichts der Größe und Vielfalt Afrikas gebotenen Vorsicht bei Verallgemeinerungen sind in vielen Staaten Subsahara-Afrikas bestimmte Abfolgen zu beobachten: Auf eine Zentralisierung der Macht folgen Forderungen nach Föderalismus, die zu zögerlichen Reformen führen, die wiederum eine Rezentralisierung von Kompetenzen nach sich ziehen. Trotz (teilweiser) Demokratisierung, erwachender Zivilgesellschaften und eines gestiegenen Drucks durch die Gebergemeinschaft bleibt der zentralisierte starke Staat in weiten Teilen Afrikas das Paradigma erfolgreicher Staatsbildung. Und mit Chinas Aufschwung tritt ein Paradebeispiel einer erfolgreichen zentral gelenkten Entwicklung an die Seite bürgernaher demokratischer Regierungsmodelle.

In vielen afrikanischen Staaten ist die Bilanz des zentralistischen Paradigmas hinsichtlich wirtschaftlicher Entwicklung, sozialer Gleichheit oder Teilhabe der Bevölkerung aber ausgesprochen mager. Die Pervertierung des Dezentralisierungsgedankens in Südsudan, wo die Zentralregierung nicht gewillt ist, den formell föderalen Staat mit Leben zu füllen und in der Folge weite Teile des Landes jenseits staatlicher Präsenz existieren, ist dafür ein trauriger Beleg. Der Verlauf der dadurch angestoßenen Föderalismusdebatte ist zugleich jedoch Warnung, dass der Ruf nach Dezentralisierung auch die Vorstufe zu einem Appell zur ethnischen Säuberung sein kann. Unorthodoxe Formen der Devolution wie zum Beispiel die formalisierte Beteiligung traditioneller Führer an staatlichen Entscheidungsprozessen können hingegen ein Weg sein, die Kluft zwischen dem Staat und seinen Bürgerinnen und Bürgern zu überbrücken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Julius Nyerere, Africa’s Place in the World, Rede auf dem "Symposium on Africa" des Wellesley College, 17.2.1960.

  2. Vgl. Jeffrey Herbst, States and Power in Africa, Princeton 2000, S. 109.

  3. Vgl. z.B. Catherine Boone, Political Topographies of the African State, Cambridge 2004.

  4. Vgl. Christopher Clapham, Africa and the International System: The Politics of State Survival, Cambridge 2007, S. 21.

  5. Vgl. Godfrey Mwakikagile, The Modern African State: Quest for Transformation, New York 2001, S. 207.

  6. Zit. nach: Albie Sachs/Gita Honwana Welch, Liberating the Law: Creating Popular Justice in Mozambique, London 1990, S. 5.

  7. Vgl. Gero Erdmann/Ulf Engel, Neopatrimonialism Revisited – Beyond a Catch All Concept, GIGA Working Paper 16/2006.

  8. Vgl. Jean-François Bayart, The State in Africa: The Politics of the Belly, London–New York 1993, S. 78.

  9. Vgl. Daron Acemoğlu/James A. Robinson, Why Nations Fail, London 2012, S. 336f.

  10. Vgl. Jibrin Ibrahim, The Weakness of "Strong States": The Case of Niger Republic, in: Adebayo Olukoshi/Liisa Laakso (Hrsg.), Challenges to the Nation-State in Africa, Uppsala 1996, S. 50–73.

  11. Vgl. Giorgio Blundo/Jean-Pierre Jacob, Socio-anthropologie de la décentralisation en milieu rural africain, Genf 1997, S. 4.

  12. Vgl. Richard Werbner, Challenging Minorities. Difference and Tribal Citizenship in Botswana, in: Journal of Southern African Studies, 28 (2002) 4, S. 671–684.

  13. Vgl. David K. Deng, Challenges of Accountability: An Assessment of Dispute Resolution Processes in Rural South Sudan, Juba 2013, S. 19.

  14. Vgl. Sara Rich Dorman, Post-Liberation Politics in Africa: Examining the Political Legacy of Struggle, in: Third World Quarterly, 27 (2006) 6, S. 1085–1101.

  15. Vgl. Cherry Leonardi, Dealing with Government in South Sudan: Histories of Chiefship, Community and State, Woodbridge 2013.

  16. Vgl. Ole Frahm, How a State Is Made: Statebuilding and Nationbuilding in South Sudan in the Light of Its African Peers, unveröffentlichte Dissertation, Berlin 2014.

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Geb. 1980; promovierter Politikwissenschaftler und Politikberater; lebt in Berlin. Externer Link: http://www.olefrahm.com