Tag der Deutschen Einheit: Festakt und Live-Übertragung im Wandel
"Nun haben wir ihn. Nun feiern wir ihn. Wie machen wir das?"[1] Diese Feststellung des ostdeutschen Schriftstellers Erich Loest auf einer Veranstaltung der Thüringer Landesregierung zum 3. Oktober 2003 war symptomatisch für die Debatte über den richtigen Umgang mit dem Tag der Deutschen Einheit. Für die einen war der 3. Oktober schlicht ein "Missgriff",[2] "willkürlich und ohne jeglichen historischen Bezug",[3] für die anderen ein Tag, an dem "Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander versöhnt werden", gerade weil das Datum keine bestimmten Ereignisse herausstelle.[4]Am 3. Oktober wird seit 1990 der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland gefeiert. Er wurde in Artikel 2 des Einigungsvertrages als gesetzlicher Feiertag festgelegt. Die zentralen Feierlichkeiten werden jeweils in dem Bundesland gefeiert, das den Bundesratsvorsitz innehat und von der jeweiligen Staatskanzlei organisiert. Der protokollarische Teil setzt sich aus einem ökumenischen Gottesdienst sowie einem Festakt mit anschließendem Empfang des Bundespräsidenten zusammen, an dem hohe Repräsentanten aus Staat und Gesellschaft sowie seit 1995 Bürgerdelegationen aus den 16 Bundesländern teilnehmen. Im Mittelpunkt der Festakte stehen die Reden des amtierenden Bundesratspräsidenten als Gastgeber sowie entweder von Bundespräsident, Bundestagspräsident, Bundeskanzler oder von geladenen Gästen, die von unterschiedlichen Programmpunkten eingerahmt werden. In der jeweiligen Landeshauptstadt[5] findet außerdem das sogenannte Bürgerfest mit vielfältigem Informations- und Unterhaltungsprogramm statt. Auf der "Ländermeile" präsentieren sich die Bundesländer und auch die Verfassungsorgane stellen sich vor.
In diesem Beitrag wird nachgezeichnet, welcher Stil sich für die Ausgestaltung des offiziellen Festakts im Laufe der Jahre herauskristallisiert hat, wie dieser durch die Live-Übertragung im Fernsehen verbreitet und schrittweise durch die Möglichkeiten des Mediums mitgeprägt wurde.[6] Diese Entwicklungen lassen sich auf drei Ebenen analysieren, die für politische Rituale prägende Zeitlichkeiten darstellen: Kollektives Erleben und Handeln, also Gleichzeitigkeit,[7] Außeralltäglichkeit beziehungsweise "Außergewöhnlichkeit"[8] sowie der Bezug zu "Schlüsselereignissen der Vergangenheit".[9]
Gemeinsames Erleben? Kritische Töne
Sowohl die Datumswahl des Nationalfeiertags als auch seine symbolische Ausgestaltung, durch die der 3. Oktober mehr die Züge eines Staats- als eines Nationalfeiertags trägt, ist umstritten.[10] Regelmäßig wurden der 9. Oktober oder der 9. November als geeigneterer Nationalfeiertag in die öffentliche Debatte eingebracht, um die Rolle der ostdeutschen Bürgerbewegung und Massenproteste stärker zu würdigen. Ebenso stand die Trennung der offiziellen Feierlichkeiten in zwei separate Teile in der Kritik. Der Ausschluss der Bevölkerung vom offiziellen Festakt wurde in Ost und West gleichermaßen als "Großer Festakt ohne Volk"[11] gebrandmarkt und es waren Schlagzeilen wie "Wir sind das Volk, wir müssen draußen bleiben"[12] zu lesen. Von 1993 bis zum Jubiläum 2000 in Dresden fand keine der Einheitsfeiern in den neuen Bundesländern statt und keinem ostdeutschen Redner, keiner ostdeutschen Rednerin wurde das Wort erteilt, was den Eindruck einer westdeutschen Elitenfeier noch zusätzlich verstärkt haben mag.Angesichts dieser strikten Trennung des offiziellen Festakts vom gesellschaftlichen Teil der Feierlichkeiten wird die Bedeutung der massenmedialen Vermittlung deutlich: Allein die Live-Übertragung im Fernsehen kann der interessierten Öffentlichkeit einen "vereinheitlichten Zugang"[13] zum Festakt gewähren. Die Massenmedien und insbesondere die öffentlich-rechtlichen Sender erfüllen so eine wichtige gesellschaftsstiftende Funktion, schaffen Transparenz und üben eine "Legitimations- und Kontrollfunktion" politischer Macht aus.[14]
Das Medium Fernsehen verfügt darüber hinaus über bestimmte Techniken, die ein gemeinsames "Erleben" suggerieren können. Dazu gehören zum Beispiel die bessere Sicht am Bildschirm als vor Ort[15] sowie das Zeigen der Reaktionen der Festteilnehmer auf die gebotenen Beiträge, wodurch der "gemeinschaftsstiftende Charakter der abgebildeten Erfahrung" betont wird.[16]
Im Zeichen der Zurückhaltung
Als gesetzlicher Feiertag durchbricht der 3. Oktober zwar den Arbeitsalltag, jedoch gab es anfänglich wenig Bestrebungen, ihn durch eine außergewöhnliche Inszenierung vom Alltag abzusetzen. Wohl auch angesichts der im In- und Ausland geführten Debatte über die Gefahr eines neu aufkeimenden Nationalismus im wiedervereinten Deutschland fielen die Organisation und die symbolische Ausgestaltung sehr zurückhaltend aus.Der 3. Oktober soll über jeden Vorwurf eines Hurrapatriotismus erhaben sein und ein verfassungspatriotisches Signal senden. Bundespräsident Roman Herzog machte diese Maxime der Zurückhaltung 1994 explizit, indem er anmahnte, "die Liebe zu unserem Land nicht einen Augenblick zu verschweigen, uns dabei aber (…) ausgesprochen leiser Töne zu befleißigen. Nationales Trara, Fanfaren und Tschinellen sind das letzte, was wir dabei brauchen können."[17]
Bereits die Bezeichnung als "zentrale" und nicht als "nationale" Feier verdeutlicht diesen Anspruch. Auch der Verzicht, die offiziellen Feierlichkeiten im wieder zur Hauptstadt gewählten Berlin abzuhalten, ist nicht nur als föderales Symbol, sondern auch als politische Entscheidung zu verstehen, mit der Begründung, dass eine "zentrale Hauptstadt-Feier (…) weder dem vereinten Deutschland noch Berlin nützen" würde.[18]
Im Gegensatz zu anderen Nationalfeiertagen wie zum Beispiel dem französischen 14. Juli, an dem die Champs-Élysées einem trikoloren Fahnenmeer gleichen, werden nationale Symbole am Tag der Deutschen Einheit eher sparsam eingesetzt. Durch das gemeinsame Singen der Nationalhymne, die den offiziellen Festakt beschließt und bei der sich alle Anwesenden im Festsaal erheben, erhält die Feier jedoch ein typisches Element eines Nationalfeiertags.
Von den Fahnen der Bundesländer im Festsaal bis hin zur Ländermeile auf dem Bürgerfest ist dagegen der Föderalismus präsent. Die länderbezogene Ausgestaltung des 3. Oktobers verleiht ihm nicht nur historische Tiefenschärfe, sondern erfüllt eine weitere wichtige Funktion, indem sie eine gemeinsame Identifikationsgrundlage bereitstellt, welche die dichotome Gegenüberstellung von Ost- und Westdeutschen aufbricht.
Darüber hinaus ist das deutsche Bekenntnis zur europäischen Integration sowohl in den Festreden als auch in der symbolischen Ausgestaltung präsent und wurde insbesondere in den Anfangsjahren stark herausgestellt. So feierte das Saarland bereits zweimal – am 3.10.1993 und am 3.10.2009 – ein grenzüberschreitendes "Europa-Fest".[19]
Ebenso zeigen die Festakte eine vergangenheitsbewusste Perspektive. Das Holocaustgedächtnis und die Reflexion der deutschen Tätergeschichte haben ihren Platz in den Reden am Tag der Deutschen Einheit. Mit dem Fall der Mauer solle nichts vergessen sein, betonte beispielsweise Bundesratspräsident Henning Voscherau am 3. Oktober 1991: "Im Gegenteil, die Spuren nationalsozialistischer Gewaltherrschaft sind uns zu gemeinsamem Erinnern aufgetragen. Auch das heißt Einheit."[20]
Auch die Bedeutung des demokratischen Systems für das gemeinschaftliche Zusammenleben im vereinigten Deutschland wird anlässlich des 3. Oktobers hervorgehoben. Im Sinne des Verfassungspatriotismus lässt sich darüber hinaus auch der Anspruch bewerten, ein realistisches Bild der Situation zu zeichnen, das die "hartnäckige Vereinigungskrise"[21] nicht ausspare. Somit wurde der 3. Oktober zum Tag der Bestandsaufnahme der inneren Einheit. Am Nationalfeiertag sollte nichts beschönigt werden, denn "Schönfärben hieße ja, die Mündigkeit der Bürger missachten", wie Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1992 betonte.[22]
Insgesamt waren die Festakte in den Anfangsjahren eher nüchterne und zurückhaltende Zeremonien, die vor allem durch Reden und klassische Musikeinlagen geprägt waren. Die mehrmals gezeigten Darbietungen von Kindern standen darüber hinaus in einem starken Kontrast zu den in anderen europäischen Ländern zum Nationalfeiertag üblichen Militärparaden. In Saarbrücken sang beispielsweise 1993 ein Kinderchor die Hymne "Frei und schön wie Lieder und hell wie Sonnenschein soll für alle Brüder die Welt von morgen sein"[23] auf Deutsch und auf Französisch. 1999 in Wiesbaden traten der Kinderliedermacher Rolf Zuckowski und ein Kinderchor mit dem Lied "Deutschland, deine Kinder" auf. 2002 in Berlin setzten Kinder der Berliner Europa-Schulen aus Bausteinen eine Miniatur des Brandenburger Tores zusammen und wandten sich mit Wünschen, wie zum Beispiel "dass es so was wie die Mauer nie wieder geben wird" an die Teilnehmenden des Festakts.[24]
Die zurückhaltende Inszenierung des Nationalfeiertags knüpft somit an die Traditionen der alten Bundesrepublik an, die sich von den militärischen Zeremonien und Massenveranstaltungen der DDR abgegrenzt hatte.[25] In diesem Sinne lobte zum Beispiel Richard Schröder, SPD-Fraktionsvorsitzender der 1990 frei gewählten Volkskammer, die Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag der Einheit in Dresden: "Auch die Stimmung ist eins a. Wie ich es mir so vorstelle: zivil, locker und trotzdem festlich."[26]