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Schuld und Schulden | Schulden | bpb.de

Schulden Editorial Geldpolitik und Staatsverschuldung. Monetäre oder fiskalische Dominanz? Einhegen oder pflegen? Internationale Regulierung von Staatsverschuldungskrisen im langen 20. Jahrhundert Austeritätspolitik als gesellschaftliches Projekt Staatsschulden, Haushaltskonsolidierung und staatlicher Gestaltungsspielraum in Schweden Geld und Schulden. Zwei Seiten einer Medaille Junge Menschen, Geld, Schulden Wie geht es "raus aus den Schulden"? Narrative Krisenbewältigung in der Privatverschuldung Schuld und Schulden. Wie moralisch ist die Ökonomie?

Schuld und Schulden Wie moralisch ist die Ökonomie? - Essay

Thomas Macho

/ 17 Minuten zu lesen

Ursache und Wirkung, Gut und Böse, Geben und Nehmen, Soll und Haben – sind diese Beziehungen nicht zu verschieden, um aufeinander abgebildet zu werden? Wie kam es zu der folgenreichen Verschränkung von Zeit, Geld und Moral?

Wenige Überlegungen Walter Benjamins sind so intensiv diskutiert worden wie das kleine, vermutlich 1921 entstandene Fragment zum "Kapitalismus als Religion": eine Sammlung von Einfällen und möglichen Schlussfolgerungen, inspirierend, gelegentlich auch widersprüchlich oder unklar. So würde heute kaum jemand mehr der These zustimmen, dass der Kapitalismus eine reine Kultreligion sei, ohne Dogma und Theologie; auch die Prognose einer zunehmenden Homogenisierung der Zeit, in deren Verlauf alle Unterbrechungen abgeschafft werden, lässt sich bestreiten. Plausibel und beunruhigend ist dagegen die zentrale These des Fragments geblieben: die Behauptung, der Kapitalismus sei eine Religion fortschreitender Verschuldung.

Ich zitiere die entscheidenden Sätze: "Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus. Hierin steht dieses Religionssystem im Sturz einer ungeheuren Bewegung. Ein ungeheures Schuldbewußtsein, das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen, dem Bewußtsein sie einzuhämmern und endlich und vor allem den Gott selbst in diese Schuld einzubegreifen, um endlich ihn selbst an der Entsühnung zu interessieren. Diese ist hier also nicht im Kultus selbst zu erwarten, noch auch in der Reformation dieser Religion, die an etwas Sicheres in ihr sich müßte halten können, noch in der Absage an sie. Es liegt im Wesen dieser religiösen Bewegung, welche der Kapitalismus ist, das Aushalten bis ans Ende, bis an die endliche völlige Verschuldung Gottes, den erreichten Weltzustand der Verzweiflung auf die gerade noch gehofft wird. Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, daß Religion nicht mehr Reform des Seins, sondern dessen Zertrümmerung ist. Die Ausweitung der Verzweiflung zum religiösen Weltzustand, aus dem die Heilung zu erwarten sei."

Unklar bleibt, welcher Gott durch den Prozess der Verschuldung zum Handeln gezwungen wird: ein erlösender Gott? Ein apokalyptischer Weltenrichter? Oder ein archaischer Gott des Krieges und der Zerstörung? Werden die Menschen verschuldet oder der Gott? Und welche "Heilung" erhofft das "Aushalten bis ans Ende"? Und welches Ende?

Gerade diese Frage ist besonders aktuell. Das mögliche Ende des Kapitalismus hat Ulrike Herrmann in APuZ kommentiert, in einer Mischung aus Skepsis und Ratlosigkeit: "Der Kapitalismus ist zum Untergang verdammt. Er benötigt Wachstum, aber in einer endlichen Welt kann es unendliches Wachstum nicht geben. (…) Der Kapitalismus wird chaotisch und brutal zusammenbrechen – nach allem, was man bisher weiß." Die Analyse schließt mit einer beunruhigenden Diagnose: "Es ist ein Dilemma: Ohne Wachstum geht es nicht, komplett grünes Wachstum gibt es nicht, und normales Wachstum führt unausweichlich in die ökologische Katastrophe. Es bleibt nur ein pragmatisches Trotzdem: trotzdem wenig fliegen, trotzdem Abfall vermeiden, trotzdem auf Wind und Sonne setzen, trotzdem biologische Landwirtschaft betreiben. Aber man sollte sich nicht einbilden, dass dies rundum ‚grünes‘ Wachstum sei. Wie man den Kapitalismus transformieren kann, ohne dass er chaotisch zusammenbricht – das muss erst noch erforscht werden."

Aber wie können wir diese Grundfrage erforschen? Bemerkenswert an Walter Benjamins Fragment erscheint die Selbstverständlichkeit, mit der moralische Schuld und ökonomische Schulden aufeinander bezogen werden; und Ulrike Herrmann postuliert ebenfalls eine moralische Haltung – den Verzicht, das "böse V-Wort" – zur Bewältigung ökonomischer Probleme. Die Analyse der Beziehungen zwischen Schuld und Schulden, die Frage nach der Moralität der Ökonomie, impliziert eine Vorstellung von Verbindlichkeit und sozialer Bindung, die als übergreifender Horizont der Frage aufgefasst werden kann, wem wir gehören und zugehören (und folglich etwas schuldig sein können).

Wem gehören wir?

Gewöhnlich würden auch energische Kritikerinnen und Kritiker des Liberalismus im Einklang mit John Locke antworten: "Every Man has a Property in his own Person" – jeder Mensch gehört sich selbst. Der Satz Lockes zielte allerdings auf eine andere Pointe, wie seine Fortsetzung verrät: "This no Body has any Right to but himself. The Labour of his Body, and the Work of his Hands, we may say, are properly his."

Darum formulierte Locke verschiedene Einschränkungen: Das Verbot der Tötung anderer Menschen wird beispielsweise nicht daraus abgeleitet, dass wir die self-ownership anderer Menschen respektieren müssen, sondern dass wir die Eigentumsrechte des göttlichen Schöpfers nicht verletzen dürfen. Aus dieser Bestimmung kann übrigens auch das Verbot der Selbsttötung abgeleitet werden. Eine andere Einschränkung betrifft die Kinder, die von ihren Eltern gezeugt wurden; Locke differenziert hier zwischen "born in" und "born to" und betont die "Bonds of Subjection" als die mentalen Windeln der Kinder, die noch nicht für sich selbst sorgen können. Offenbar kann self-ownership durch workmanship – in Theologie oder Pädagogik – zumindest temporär außer Kraft gesetzt werden.

Diese Rangordnung lässt sich freilich auch umkehren, wie Immanuel Kant demonstriert hat: In der Rechtslehre seiner Metaphysik der Sitten hielt er fest, dass self-ownership die workmanship-Prinzipien relativiert, sofern "das Erzeugte eine Person ist", und dass es "eine in praktischer Hinsicht ganz richtige und auch notwendige Idee" sei, "den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben; für welche Tat auf den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet, sie, so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen. – Sie können ihr Kind nicht gleichsam als ihr Gemächsel (denn ein solches kann kein mit Freiheit begabtes Wesen sein) und als ihr Eigentum zerstören oder es auch nur dem Zufall überlassen". Kant folgerte daher, dass "Kinder nie als Eigentum der Eltern angesehen werden können", auch und obwohl sie "zum Mein und Dein derselben gehören".

Wem gehören wir also? Den Eltern und Vorfahren, die unsere Existenz ermöglicht haben? Einem Gott, der uns geschaffen hat? Und einer Institution, die diesen Gott vertritt? Oder dem Staat, der unsere Identität beglaubigt und auf allen Geburts-, Heirats-, Reise- und Sterbedokumenten vermerkt, wann und wo wir auf diesem Planeten gelandet oder wieder aufgebrochen sind? Oder uns selbst, in merkwürdiger Aufspaltung zwischen Besitzenden und Besitz?

In solchem Sinne verfocht Max Stirner die These, er selbst sei "das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer Alles schaffe". Wollten wir Lockes Liberalismus oder Stirners Anarchismus ans Ende einer Entwicklungsreihe stellen, so müssten wir behaupten, die Vorstellung, der Mensch gehöre sich selbst, sei modern. Und wir könnten eine Art von Fortschritt postulieren, der sich in der skizzierten Entwicklungsreihe – von der Familie zur Religion, vom Staat zum Individuum – abbildet: ein Fortschritt, der durch signifikante Umstürze und Revolutionen erkämpft wurde.

Vielleicht bewirkte die "neolithische Revolution" nicht allein Sesshaftigkeit, Ackerbau und Viehzucht, sondern auch die Durchsetzung neuer Zugehörigkeitsregeln, die in Abstammungs- und Verwandtschaftssystemen etabliert wurden; vielleicht zielte die achsenzeitliche Gründung der Hochreligionen auf eine Kritik des Ahnenkults, auf eine Relativierung genealogischer Imperative, etwa im Sinne der Predigt im Buch Matthäus, Kapitel 10, Vers 34 und 35 der Bibel, die nicht nur Nächsten- und Feindesliebe fordert, sondern auch den Krieg gegen die Prinzipien der Verwandtschaft: "Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter." Vielleicht triumphierten Nationalstaaten erst über Religionen und Kirchen, sobald sie als "Vorsorgestaaten" – in Verwaltung und statistisch fundierter Bevölkerungspolitik – alternative Formen der Patenschaft und Zugehörigkeit organisieren konnten; und vielleicht verhalf erst die moderne Ökonomie den Individuen zu wachsender Unabhängigkeit von staatlicher Patronanz: als Selfmademen, die behaupten durften, nur sich selbst – in self-ownership und workmanship zugleich – zu gehören.

Schon die Kurzfassung einer solchen Fortschrittserzählung impliziert – ebenso wie ihre Umkehrung zur Verfallsgeschichte – eine Kritik, die sich auf eine erweiterte Theorie des Ungleichzeitigen (im Sinne Ernst Blochs) berufen könnte. Im Horizont solcher Kritik ist evident, dass der Selfmademan "nicht Herr sei in seinem eigenen Haus". Wie viele Opfer werden nach wie vor den Haus-, Ahnen- und Familiengeistern gebracht! Freud wusste, dass Ödipus und Antigone oder Romeo und Julia in unserer Mitte leben und nicht einmal davon träumen, sich selbst zu gehören. Ihre tragischen Geschichten werden vielmehr umringt von konkurrierenden Befehlen der Väter, Götter, Herrscher und Händler, erschüttert von der Lautstärke, mit der die polyglotte Forderung zitiert wird, im Krisenfall auf das eigene Leben zu verzichten. Das Axiom Lockes – "every Man has a Property in his own Person" – ist lachhaft hilflos gegenüber den Eigentumsvorbehalten – "Bonds of Subjection" – der Familien, Kirchen, Staaten, Armeen, Konzerne oder Syndikate. Gegenwärtig arbeiten weltweit mehr als 190 Millionen Kinder (im Alter von 5 bis 14 Jahren) in der Landwirtschaft, in Steinbrüchen und Bergwerken, in der Textilindustrie, als Dienstpersonal in Haushalten und im Tourismus, als Straßenhändler, Bettler, Prostituierte und Soldaten. Niemals zuvor gab es so viele Sklaven wie heute, behaupten die Journalisten Lydia Cacho oder Benjamin Skinner.

Die Frage, wem wir gehören – und daher Gehorsam schulden –, verdankt ihr Gewicht einer Vorstellung von Eigentum. Erst mithilfe dieser Vorstellung konnten Dinge und Stoffe, Lebewesen und Personen den Prozessen der Zirkulation, des Austauschs, der Kommunikation und des Stoffwechsels gleichsam entzogen werden. Jäger und Sammlerinnen kannten noch kein Eigentum. Als Menschengruppen vor mehr als zehntausend Jahren begannen, Städte zu gründen, Böden zu bewässern und Getreide anzubauen, stießen sie daher häufig auf Widerstand. Wieso sollte jemand Land und dessen Früchte exklusiv aneignen und besitzen dürfen? Nach prähistorischer Evidenz stehen Felder, Wiesen, Seen, Meere oder Wälder und deren Erträge allen Lebewesen zur Verfügung, übrigens nicht nur den Menschen, sondern auch den Tieren. Dass Boden in Besitz genommen und zum Eigentum erklärt werden kann, muss unseren fernen Vorfahren wie eine Art von Raub erschienen sein, beinahe im Sinne Proudhons, der behauptete, Eigentum sei Diebstahl.

Noch Kant hatte zwischen Sitz und Besitz differenziert: "Alle Menschen sind ursprünglich (d.i. vor allem rechtlichem Akt der Willkür) im rechtmäßigen Besitz des Bodens, d.i. sie haben ein Recht, da zu sein, wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat. Dieser Besitz (possessio), der vom Sitz (sedes), als einem willkürlichen, mithin erworbenen, dauernden Besitz unterschieden ist, ist ein gemeinsamer Besitz, wegen der Einheit aller Plätze auf der Erdfläche, als Kugelfläche". Die Utopie globaler Gemeinschaft – Kants Postulat eines ursprünglichen, durch Natur konstituierten Gesamtbesitzes, "communio possessionis originaria" – wirkt indes ebenso hilflos wie Lockes Axiom oder das Projekt des ewigen Friedens.

In Vergils "Aeneis" warnt der trojanische Priester Laokoon vor einem hölzernen Ross, einem Geschenk in Tiergestalt, mit den Worten: "Traut nicht dem Pferde, Trojaner! Was immer es ist, ich fürchte die Danaer, selbst wenn sie Geschenke bringen." Heute behaupten die Nachfahren der Danaer selbst, sie hätten gute Gründe, manchen Gaben zu misstrauen. Denn die meisten Gaben sind Anleihen; sie müssen erwidert werden, durch Gegengaben in der Zukunft. "Gabe schielt stets nach Entgelt", heißt es in einem Vers aus dem "Hávamál", einer Spruchdichtung der skandinavischen Edda, der Marcel Mauss das Motto für seinen "Essai sur le don" von 1950 entnommen hat.

Gaben verlangen Vertrauen; sie erzeugen Bindungen, und sie wirken als Verpflichtungen, die rasch in Drohungen verwandelt werden können. "I’ll make him an offer he can’t refuse", erläutert Don Vito Corleone seine Technik der Machtausübung. Er ist der "Godfather", der Pate, der Gönner, der zu Beginn des Romans dem Bittsteller Amerigo Bonasera das Entgelt für dessen Vergeltungswunsch diktiert: "You shall have your justice. Some day, and that day may never come, I’ll call upon you to do me a service in return. Until that day, consider this justice a gift from my wife, your daughter’s godmother."

Gaben werden ausgehandelt; sie fungieren als Zukunftsaussichten einer Freundschaft, die auf dem Hochzeitsfest der Tochter Don Vitos mit Verbeugung, Handkuss und der Anrede als Pate besiegelt werden müssen. Gaben werden gleichsam in Schulden übersetzt. Begleitet werden diese Übersetzungen von Anklagen, Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen, Rechthaberei und heftigen Streitigkeiten auf dem Markt der Vorwürfe und Verteidigungen. Wer ist schuld? Wer trägt Verantwortung und wird schuldig, beispielsweise durch Gier, Respektlosigkeit, Rachsucht, Dummheit oder Trägheit? Wer erzeugt die Schuld, die sich zu veritablen Schuldenkrisen steigern kann?

Verschränkung von Zeit, Geld und Moral

In deutschen Wörterbüchern – vom Grimm bis zum Duden – finden wir zumeist drei Schuldbegriffe. Der erste Schuldbegriff bezieht sich auf Kausalität, auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung: Ich bin schuld; ich habe etwas ausgelöst und verursacht. Ein zweiter Schuldbegriff bezieht sich auf die Moral: Ich bin schuldig; ich habe falsch oder schlecht gehandelt, meine Taten können nicht gerechtfertigt werden. Ein dritter Schuldbegriff bezieht sich auf Geld und Finanzen: Ich schulde, ich bin ein Schuldner; ich habe geliehen, was ich zurückgeben muss (und womöglich nicht zurückgeben kann). Ursache und Wirkung, Gut und Böse, Geben und Nehmen, Soll und Haben: Sind diese Beziehungen nicht zu verschieden, um aufeinander abgebildet werden zu können? Gelegentlich wird argumentiert, die deutsche Sprache könne nicht wie das Englische oder Französische zwischen guilt und debt, faute und dette, differenzieren; daher seien die Deutschen geneigt, ökonomische Krisen rasch zu moralisieren.

Freilich verfehlt dieser Einwand die simple Evidenz verbreiteter Transformationspraktiken, die auch in angelsächsischen oder romanischen Ländern ausgeübt werden: Manche Straftaten können durch Geldzahlungen gesühnt werden, also durch Verwandlung einer moralischen in eine finanzielle Schuld. Und umgekehrt: Versäumte Geldzahlungen – zum Beispiel Steuerhinterziehungen – können moralisch bewertet und durch Haftstrafen geahndet werden; die finanzielle Schuld wird dann in eine moralische Schuld verwandelt. Nicht umsonst behauptet Tomáš Sedláček: "Letztlich geht es bei der gesamten Ökonomie um das Gute und das Böse"; wirtschaftliche Entscheidungen sind viel öfter, als uns lieb ist, moralische Entscheidungen. Und diese moralischen Entscheidungen werden ebenfalls viel öfter, als uns lieb ist, auf Pflichten bezogen, die wir selbst von Anfang an einem anderen schulden oder schuldig zu sein glauben: den Eltern, Göttern oder Behörden, den Konventionen der Verwandtschaft, den Geboten einer Religion, den staatlichen Gesetzen oder den Regeln des Handels und der Ökonomie. Bevor wir noch einem Godfather die Hand küssen können, sind wir bereits verschuldet.

Wir hängen nicht von uns selbst ab. Wir haben uns nicht selbst erzeugt. Unsere causa entspringt nicht unserer eigenen Entscheidung. Im Sinne des ersten Schuldbegriffs schulden wir das eigene Leben einer Instanz, die uns gleichsam "verursacht" hat. In diesem Sinne betont Nathalie Sarthou-Lajus: "Die Idee der ursprünglichen Schuld geht davon aus, dass der Mensch nicht selbst Urheber seines Lebens ist und sich nicht zum Schöpfer seiner selbst erklären kann. Schon vor jeder konkreten Kreditaufnahme wird der Mensch als Erbe und Schuldner geboren." Wir gehören nicht uns selbst; Schuld verweist auf eine "Urszene".

Diese ursprüngliche Schuld, die primordial debts, hat David Graeber in seiner fünftausend Jahre umfassenden Geschichte der Schulden als Wurzel der Ökonomie und des Tauschs, aber auch der Sklaverei bezeichnet, als eine Wurzel, die älter ist als alle Edelmetalle und geprägten Münzen. Sie lässt sich als genealogische, soziale oder existentiale Schuld verstehen, als eine Schuld, die nach Kriterien der Zugehörigkeit zu einer Familie, einem Clan, einer sprachlich, religiös oder politisch definierten Gemeinschaft verhandelt werden kann. Graeber zitiert in seinem Buch aus den Veden: "Durch die Geburt wird jedes Wesen als eine Schuld gegenüber den Göttern, den Heiligen, den Vätern und den Menschen geboren. Wenn man ein Opfer bringt, dann weil man den Göttern von Geburt an etwas schuldet." Das Opfer ist die Gabe, die eine vorausliegende Gabe – die Gabe des eigenen Lebens: "dass es uns überhaupt gibt" – erwidert. Graeber hätte auch manchen Satz aus den prophetischen Büchern Israels, aus den griechischen Tragödien oder schlicht den berühmten Spruch Anaximanders anführen können: "Das Vergehen der seienden Dinge erfolge in die Elemente, aus denen sie entstanden seien, gemäß der Notwendigkeit: Denn sie zahlten einander Strafe und Buße für die Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit." Dieser Satz ist rund tausend Jahre älter als die Theologie der "Erbschuld", die Augustinus im Streit mit dem britischen Mönch Pelagius entwickelte.

Die heillose Dreifaltigkeit der Schuldbegriffe – der genealogischen, moralischen und ökonomischen Schuld – bildet in gewisser Hinsicht den Ausgangspunkt für die Frage nach den Bedeutungsverschiebungen und Transformationsprozessen der Schuld, die sich etwa aus der Analyse von sozialen Zugehörigkeitsordnungen, religiösen, rechtlichen oder ökonomischen Praktiken ableiten lassen. Gefragt werden müsste – unter Bezug auf Max Webers Studie über die Geschichte der protestantischen Ethik oder auf Benjamins Fragment –, wie es zur folgenreichen Verschränkung von Zeit, Geld und Moral gekommen ist; erfragt werden müsste der Zusammenhang zwischen genealogischer und ökonomischer Schuld, der schon in der Antike zum Verlust der Bürgerrechte und zu generationenübergreifender Sklaverei führen konnte. Wie können überhaupt historische Schuldtransformationsprozesse beschrieben werden: beispielsweise die Entfaltung des – abermals bereits von Max Weber vermuteten – Zusammenhangs zwischen Erfahrungen der Schuldsklaverei und nahöstlicher Erlösungsreligiosität, oder die Plausibilität der These Nietzsches aus der Abhandlung "Zur Genealogie der Moral" von 1887, das Gefühl der Schuld habe seine Wurzeln im "ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältnis", im Verhältnis nämlich "zwischen Gläubiger und Schuldner". Wer aber repräsentiert den ersten Gläubiger? Und mit welchen Mitteln können dessen Forderungen erhoben und entgolten werden?

Die Ersetzung der Kinderopfer durch Tieropfer, wie sie exemplarisch in den mythischen Erzählungen von Abraham und Isaak oder Agamemnon und Iphigenie thematisiert wird, lässt sich als Substitution genealogischer Schuld durch moralische Schuld deuten. An die Stelle der eigenen Nachkommen treten "Sündenböcke" oder Stiere; später werden die Tieropfer durch Geldspenden – als Transformation der Sünden in finanzielle Schulden – abgelöst. Andere Beispiele könnten der Rechts- und Verfassungsgeschichte entnommen werden, gewiss auch der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.

Allerdings darf eine sequenzielle Historisierung der Schuldbegriffe – von der genealogischen zur moralischen und zur ökonomischen Schuld – nicht bloß als Fortschrittsgeschichte gelesen werden; die genealogische Schuld verschwindet ebenso wenig wie die moralische Schuld, auch wenn sie durch ökonomische Verpflichtungen wie Alimente oder Reparationszahlungen kompensiert wird. Gefährlicher noch als die vorschnelle Hoffnung auf progressive Transformation und Befreiung von Schuld ist aber deren regressive Transformation: Die Möglichkeit einer regressiven Schuldtransformation lässt sich nicht nur am Erbrecht studieren, in dem genealogische und ökonomische Zwänge zumeist eng verschränkt werden, sondern auch an den aktuellen Debatten um die Schuldenkrise.

Die ökonomische Schuldenkrise wurde in den vergangenen Jahren häufig moralisch analysiert und kommentiert: Einerseits wurde gegen die Entscheidungsschwäche der Politik oder die Geldgier der Banken und Finanzmärkte polemisiert, andererseits gegen Korruption, Steuerflucht oder mangelnde Arbeitsmoral. Danach standen Fragen nach Zugehörigkeit und Identität auf der Tagesordnung: In welchen Traditionen wurzelt Europa? Wer soll künftig zu uns gehören, zur Währungsunion, zum gemeinsamen Markt? Mit wem sind wir verwandt, wer ist uns fremd? Wem darf vertraut werden, wem nicht? Mit wem müssen wir uns solidarisch zeigen, mit wem nicht? Kurzum, erst geht es um Geld und Kredit (um ökonomische Schuld), danach um Korruption, Gier und Betrug (um moralische Schuld), danach um Identität, Zugehörigkeit und – oft genug – um die schlichte Existenz (also um genealogische, existentiale Schuld).

Die Analyse progressiver und regressiver Schuldtransformationsprozesse impliziert im Zentrum auch die schwierige Frage nach deren möglicher Unterbrechung und Aufhebung. Worin könnte wirkliche Emanzipation bestehen, im Sinne des lateinischen Verbs emancipare, das die Entlassung eines Sklaven oder erwachsenen Sohns aus dem manicipium, dem ritualisierten Eigentumserwerb durch Handauflegung, bezeichnete? Worin Verzeihung? Oder die Erlassung ökonomischer Schulden? Schon nach Maßgabe der Etymologie hängen "verzeihen" und "verzichten" aufs engste zusammen: Ich zeihe dich keiner Schuldigkeit mehr, ich bezichtige dich nicht. Also verzeihe ich dir, ich verzichte auf Vorwurf und Anklageerhebung. Jede Verzeihung ist ursprünglich ein Verzicht: als Unterlassung der Vergeltung und jenes Schuldausgleichs, den die Rachsucht – die bösartige justice, die Bonasera erwirken will – anstrebt. Verzeihung heißt die Handlung, die einen Verzicht auf Handlungen zum Ausdruck bringt.

Simone Weil schrieb: "Wir glauben Schuldforderungen an alle Dinge zu haben. Und bei all diesen Schuldforderungen, die wir zu besitzen glauben, handelt es sich immer um eine imaginäre Schuldforderung der Vergangenheit an die Zukunft. Und auf diese sollen wir Verzicht leisten. Seinen Schuldigern erlassen haben, heißt auf die ganze Vergangenheit insgesamt verzichtet haben. Heißt hinnehmen, daß die Zukunft noch rein und unberührt sei, streng gebunden an die Vergangenheit durch Bande, die wir nicht kennen, aber gänzlich frei von den Banden, die unsere Einbildungskraft ihr aufzuerlegen glaubt."

Ich weiß nicht, ob und wie diese Hoffnung eines Verzichts auf die Vergangenheit zugunsten einer wirklich offenen und freien Zukunft erfüllt werden kann; aber ich weiß, dass wir unbeirrt fragen müssen: Wie können Bindungen so aufgehoben werden, dass sie zu Entbindungen führen, pathetisch gesagt: zu Wiedergeburten und Erneuerungen? Wie kann das Gewicht der Vergangenheit verringert werden, dieses Leiden an einer "Erbschuld", die nach wie vor soziale Mobilität drastisch einschränkt? Zunächst müssen wir uns selbst als geborene, sterbliche Individuen anerkennen, bemerkt Nathalie Sarthou-Lajus; wir müssen akzeptieren lernen, dass wir weder den Ahnen, Göttern oder Herrschern gehören noch allein uns selbst, sondern allen Lebewesen, die mit uns gemeinsam die Kommune der Sterblichen bilden, etwa in jenem Sinn, in dem Cornelius Castoriadis das geteilte Wissen der Sterblichkeit als Wurzel politischer Imagination in der griechischen Antike betrachtete: Erst dieses geteilte Wissen der Sterblichkeit ermöglicht Emanzipation; es macht eine "Befreiung von unseren Schulden nötig, um uns ablösen zu können, um manche Bindungen aufzugeben, neue Impulse in unser Leben zu bringen und uns nach unseren persönlichen Wünschen entfalten zu können", resümiert Sarthou-Lajus. "Wie viele Bande müssen wir während unseres Lebens lösen, lockern oder verändern, um neu geboren zu werden und unsere eigenen Möglichkeiten zu ergreifen! Wir sind aufgerufen, aus einem vorgezeichneten Schicksal auszubrechen, um zu einer einzigartigen, unbekannten Bestimmung aufzubrechen. Nur so können wir andere werden."

Dieser Beitrag basiert auf Thomas Macho, Bonds: Fesseln der Zeit. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Bonds. Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten, München 2014.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Walter Benjamin, Kapitalismus als Religion (Fragment 74), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt/M. 1985, S. 100–103, hier: S. 100f.

  2. Ulrike Herrmann, Vom Anfang und Ende des Kapitalismus, in: APuZ, (2015) 35–37, S. 3–9, hier: S. 8.

  3. Ebd., S. 9.

  4. John Locke, The Second Treatise of Government/Über die Regierung, Stuttgart 2012, S. 48 (§27).

  5. Immanuel Kant, Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. 8: Die Metaphysik der Sitten, Frankfurt/M. 1978, S. 393f. (§28).

  6. Ebd., S. 395 (§29).

  7. Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1972 (1945), S. 5.

  8. Vgl. Vere Gordon Childe, Der Mensch schafft sich selbst, Dresden 1959.

  9. Vgl. Jost Herbig, Nahrung für die Götter. Die kulturelle Neuerschaffung der Welt durch den Menschen, München–Wien 1988, S. 202–207.

  10. Vgl. Thomas Macho, So viele Menschen. Jenseits des genealogischen Prinzips, in: Peter Sloterdijk (Hrsg.), Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft, Frankfurt/M. 1990, S. 29–64.

  11. Vgl. ders., Künftige Generationen. Zur Futurisierung der Ethik in der Moderne, in: Sigrid Weigel et al. (Hrsg.), Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie, München 2005, S. 315–324.

  12. Vgl. Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt/M. 1962.

  13. Sigmund Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, 5 (1917) 1, S. 1–7, hier: S. 7.

  14. Vgl. Lydia Cacho, Sklaverei. Im Inneren des Milliardengeschäfts Menschenhandel, Frankfurt/M. 2011; E. Benjamin Skinner, Menschenhandel. Sklaverei im 21. Jahrhundert, Bergisch Gladbach 2010.

  15. Pierre Joseph Proudhon, Was ist das Eigentum? Erste Denkschrift. Untersuchungen über den Ursprung und die Grundlagen des Rechts und der Herrschaft, Berlin 1896, S. 1.

  16. I. Kant (Anm. 5), S. 373 (§13).

  17. Vergil, Aeneis, Stuttgart 2008, S. XXX (II, 48f.).

  18. Vgl. Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1984 (1950), S. 17.

  19. Mario Puzo, The Godfather, New York 2002, S. 37, S. 42.

  20. Vgl. Émile Benveniste, Darlehen, Anleihe und Schuld, in: ders., Indoeuropäische Institutionen: Wortschatz, Geschichte, Funktionen, Frankfurt/M.–New York–Paris 1993, S. 142–156.

  21. Tomáš Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse, München–Wien 2012, S. 17.

  22. Nathalie Sarthou-Lajus, Lob der Schulden, Berlin 2013, S. 41.

  23. David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Stuttgart 2012, S. 49.

  24. Laura M. Gemelli Marciano (Hrsg.), Die Vorsokratiker, Bd. 1, Düsseldorf 2007, S. 37.

  25. Vgl. Hans G. Kippenberg, Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen in ihrem Zusammenhang mit der antiken Stadtherrschaft. Heidelberger Max-Weber-Vorlesungen 1988, Frankfurt/M. 1991.

  26. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: ders., Sämtliche Werke/Kritische Studienausgabe, Bd. 5, München–Berlin–New York 1980, S. 245–412, hier: S. 305f.

  27. Simone Weil, Betrachtungen über das Vaterunser, in: dies., Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen, München 1990, S. 54–62, hier: S. 59.

  28. Vgl. Thomas Piketty, Le capital au XXIe siècle, Paris 2013.

  29. Vgl. Cornelius Castoriadis, Das griechische und das moderne politische Imaginäre, in: ders., Philosophie, Demokratie, Poiesis. Ausgewählte Schriften, Bd. 4, Lich 2011, S. 93–121, hier: S. 107.

  30. N. Sarthou-Lajus (Anm. 22), S. 86.

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Dr. phil., geb. 1952; Professor für Kulturgeschichte am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin. E-Mail Link: tmacho@culture.hu-berlin.de