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Was in Syrien geschieht - Essay | Syrien, Irak und Region | bpb.de

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Was in Syrien geschieht - Essay

Daniel Gerlach

/ 21 Minuten zu lesen

Was die Konfliktparteien vorgeben zu wollen, entspricht nicht immer dem, was sie tatsächlich im Schilde führen. Auch wegen dieser verborgenen Ziele scheiterten die bisherigen Versuche, diesem Krieg in Syrien ein Ende zu bereiten.

Zugegeben. Das Kriegsgeschehen in Syrien ist komplex und undurchsichtig, vielmehr noch die dem zugrunde liegenden Interessen. Oft hört man, es sei zu kompliziert, als dass man es von außen verstehen, geschweige denn zu seiner Beilegung beitragen könne. Diese Meinung wird oft vorgetragen von denjenigen, die sich für unvoreingenommen halten und sich nicht mit der einen oder anderen Sache gemein machen wollen. Eine solche Haltung ist ihrerseits allerdings folgenreich: Sie spielt nämlich nicht zuletzt solchen Mächten in die Hände, die am bewaffneten Kampf beteiligt sind, davon profitieren oder gar ein Interesse an seiner Verstetigung haben. Sie entlastet internationale Akteure vom Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung. Und sie verleitete die internationale Öffentlichkeit dazu, das Sterben in Syrien resigniert als eine "Tragödie" zu betrachten. Bis zum Jahr 2015, als die Bundesrepublik Deutschland sich mit einer nahezu beispiellosen Masseneinwanderung aus Syrien konfrontiert sah, schien diese Haltung weit verbreitet. Es mag erstaunen, dass bis 2015 das Thema Syrien zwar regelmäßig in den Medien auftauchte, aber ein eher nachrangiges Thema in Parlamentsdebatten war. Zu weit entfernt? Nicht wählerrelevant? Anders als Griechenland oder die Ukraine nicht im deutschen Einflussbereich zu verorten? Seit 2015 zählt Deutschland nun zu den Staaten, die ein akutes Interesse an einem Ende der Krise haben: Koste es, was es wolle, und sei es ohne Ansehen der Mächte und Personen.

Schon in der Definition der Natur dieses Konfliktes fanden die internationalen Mächte bisher kaum zueinander. Ein Bürgerkrieg verschiedener Volksgruppen, in dem es weder Gut noch Böse gibt? Oder schlägt hier ein ruchloses Regime den Aufstand eines Volkes nieder, das nach Freiheit strebt? Haben wir es am Ende gar mit einem Stellvertreterkrieg ausländischer Mächte zu tun?

Wer sich nicht für eine dieser drei Deutungen entscheiden möchte, kann sie, wie es bisher geschehen ist, ratlos nebeneinander stehen lassen. Wer aber ernsthaft versucht, den Kriegsverlauf und die Interessen der Konfliktparteien nachzuvollziehen und dabei bereit ist, auch eine historische Perspektive einzunehmen, wird bald erkennen, dass alle drei Aussagen einen Teil der Wirklichkeit abbilden, aber jede für sich genommen wird dann unzutreffend, wenn man versucht, sie zur allein gültigen, allein richtigen zu machen.

Natürlich wirken diese verschiedenen Ebenen aufeinander. Und nicht zuletzt ist der Konflikt in Syrien dynamisch: Vieles von dem, was vor vier Jahren zutraf, mag heute nicht mehr gelten. In mancher Hinsicht – und nicht zuletzt ist auch dies ein Ergebnis der Wechselwirkung zwischen der Eskalation einerseits und dem Scheitern internationaler Friedensversuche andererseits – hat sich die Lage in Syrien dem angenähert, wofür sie manche schon vor vier Jahren hielten: ein Wettstreit der Gewalttäter um Macht, Geld und Köpfe. Was wiederum diejenigen auf den Plan ruft, die schon vor fünf Jahren riefen: Besser eine brutale Diktatur in Damaskus als ein Chaos, das Terroristen produziert! Dass das eine durchaus mit dem anderen zusammenhängt, wird dabei oft übersehen.

Aktuelle Entwicklungen und Dynamiken

2015 war mit – Schätzungen zufolge – mehr als 55000 Toten zwar das bisher verlustreichste Jahr für Syrien. Aber keine Partei konnte ihr vordringliches Ziel erreichen, zumindest nicht, wenn man dieses mit einem militärischen Sieg gleichsetzt und nicht nur mit dem eigenen Fortbestehen oder gar einer machtpolitisch motivierten Fortsetzung des Krieges selbst.

Wie in einem solchen Krieg allerdings zu erwarten ist, haben sich diejenigen Akteure behauptet, die entweder über überragende finanzielle und militärische Unterstützung aus dem Ausland verfügen und bereit waren, diese mit maximaler Rücksichtslosigkeit auf dem Schlachtfeld einzusetzen, oder aber die in ihrem Machtbereich lokal ansässige Bevölkerung mobilisieren konnten. Die Tatsache, dass die Unterstützung der Bevölkerung von zentraler Bedeutung für den jeweiligen Erfolg dieser Akteure ist, hat diese unter anderem in ihrer Logik bestärkt, wonach Zivilisten nicht zu schonen, sondern – im Gegenteil – gezielt zu bekämpfen sind. Insbesondere für das syrische Regime, für den sogenannten Islamischen Staat ("IS"), aber auch für andere Gruppen gilt die Formel: Es gibt in diesem Krieg keine Zivilisten, sondern nur aktive oder potenzielle Unterstützer einer Konfliktpartei.

Sechs Machtblöcke

Der Krieg in Syrien ist mancherorts dynamisch, andernorts eine Art Stellungskrieg geworden, in dem sich bis Ende 2015 etwa sechs große Machtblöcke behaupten konnten: das syrische Regime, die salafistische Rebellenfront, angeführt von Jaish al-Islam (Armee des Islam) und den Ahrar al-Sham (Freie Männer Syriens), die zeitweilig im Bündnis mit einem weiteren mächtigen Player operierten: dem syrischen Al-Qaida-Ableger Jabhat al-Nusra li Ahl al-Sham (Front der Unterstützer für das Volk Groß-Syriens), der auch als "Nusra-Front" bezeichnet wird.

Politisch und militärisch bislang eher isoliert, aber offenbar durchaus in die Taktiken verschiedener Konfliktparteien eingebunden, ist Al-Dawla al-Islamiyya, der "IS", dessen arabisches Akronym "Daish" inzwischen auch Einzug in die westliche Mediensprache gefunden hat und aus Gründen, die wir noch später diskutieren werden, durchaus passender erscheint.

Hinzu kommt die Rebellenallianz der Freien Syrischen Armee (FSA), die, anders als zu Beginn des bewaffneten Aufstandes, im Jahr 2015 nicht mehr der mächtigste Gegner des Assad-Regimes war, sich aber trotz erheblicher Rückschläge militärisch behaupten konnte.

Und schließlich haben wir die sogenannten Volksverteidigungseinheiten der kurdischen Partiya Yekitiya Demokrat (Partei der Demokratischen Union, PYD), die in den ersten Monaten des Aufstandes eher den Eindruck vermittelten, sie seien Teil einer gesamtrevolutionären Bewegung und richteten sich, unter Wahrung lokaler und politisch-ethnisch ausgerichteter Interessen, auch gegen das Assad-Regime. Inzwischen kann die im mehrheitlich von Kurden bewohnten Nordosten Syriens aktive PYD jedoch als eine ambivalente Kraft betrachtet werden, die mit dem "Rojava" genannten Projekt ein quasi-autonomes Herrschaftsgebiet errichtet. Die PYD unterhält funktionale, auch hochrangige und persönliche Kontakte zum Regime und lässt, von einigen Ausnahmen abgesehen, kaum Feindseligkeiten gegenüber diesem erkennen.

Die hier genannten Akteure treten nicht allein, sondern in Allianz mit anderen Verbänden auf, die andere Namen als sie selbst tragen und sehr unterschiedlicher regionaler Ausprägung sein können (im Falle des Regimes etwa die libanesische Hisbollah oder andere schiitische Milizen). 2015 sind auch einige neue, kleinere Akteure wie die von den USA unterstützten "Syrischen Demokratischen Kräfte" hinzugekommen.

Die beiden großen salafistischen Verbände Ahrar al-Sham und Jaish al-Islam betrachten sich gegenseitig als Verbündete und verfolgen ähnliche Ziele, operieren aber in unterschiedlichen Gebieten: Ahrar al-Sham hauptsächlich im Norden, Nordwesten und in Zentralsyrien, während Jaish al-Islam vornehmlich im Umland der Hauptstadt Damaskus kämpft. Zwischen den meisten Akteuren hat es im Verlaufe dieses Krieges bereits Gefechte gegeben. Dennoch trifft die in manchen Medien und sozialen Netzwerken verbreitete Behauptung, in Syrien kämpfe permanent "jeder gegen jeden", nicht zu.

Internationale Bemühungen, um die kämpfenden Parteien an den Verhandlungstisch zu bringen, wie etwa die Initiativen der Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen, scheiterten in mehreren Anläufen auch an der Frage, welche Gruppen einen Platz am Tisch verdienen und welche nicht. Natürlich stand dabei stets die Terrorismusdefinition im Vordergrund: Aus Sicht etwa Russlands, Irans oder gar des syrischen Regimes waren nicht etwa nur die Nusra-Front und Daish eindeutig terroristischer Natur, sondern auch die anderen, bereits erwähnten salafistischen Gruppen, die wiederum tatkräftige Unterstützung aus Saudi-Arabien, Katar und der Türkei bezogen. Die Diskussion, welcher Akteur sich im Laufe des Konfliktes terroristischer Methoden bediente, soll an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, da sie nur bedingt zum Verständnis dessen beiträgt, was derzeit in Syrien geschieht.

Internationale Unterhändler interessiert darüber hinaus aber etwas anderes, nämlich, ob ein Akteur die Unterstützung einer einflussreichen Macht genießt und ob er seine Ziele ausschließlich mit Gewalt verwirklicht, oder willens und in der Lage ist, an einer "politischen Lösung" mitzuwirken. Die Fähigkeit, militärisches Gewicht in politisches umzumünzen, entscheidet mit darüber, ob ein Akteur seine Präsenz im syrischen Konflikt ausbauen kann, oder auf kurz oder lang verdrängt wird. Ein militärischer "Endsieg" verbunden mit der Fähigkeit, den Gegnern und der von diesen beherrschten Bevölkerung den eigenen Willen militärisch aufzuzwingen, scheint langfristig keiner Macht in Aussicht gestellt zu sein, und dies trotz der derzeitigen Offensive des syrischen Regimes und seiner Verbündeten im Norden.

Die Organisatoren der Genfer Friedensgespräche oder des im Dezember 2015 in der saudischen Hauptstadt Riad durchgeführten Oppositionsgipfels gingen davon aus, dass bis auf die Al-Qaida-nahe Nusra-Front und Daish, also den "IS", alle kämpfenden Akteure über eine solche politische Qualität verfügen. Dieses Kriterium einer Unterscheidung legitimer und nicht legitimer Oppositionsgruppen ist zunächst nachvollziehbar. Allerdings lässt sich nicht einmal ausschließen, dass sich selbst die Nusra-Front – und womöglich eines Tages sogar Daish – kurz- oder langfristig ein politisches Gewand zulegen und ihre jeweiligen Ziele in einer Weise ausrichten, die sich auf die folgende Formel herunterbrechen lässt: Ihr lasst uns auf syrischem Territorium unser Emirat oder Kalifat errichten und wir akzeptieren einen Waffenstillstand!

Was wollen die Kriegsparteien – und was geben sie vor zu wollen?

Fragen wir uns also, welcher der genannten Akteure derzeit welches Primärziel verfolgt, wobei zunächst dahingestellt sei, ob sie dies öffentlich kundtun oder – zum Beispiel aus taktischen Erwägungen – verschleiern. Eine solche Ermittlung der Kriegsziele ist natürlich nicht mehr als eine Interpretation: Sie gleicht Rhetorik und Propaganda der Akteure mit deren Verhaltensweisen und erkennbaren Interessen ab, preist also nicht nur das "Explizite", sondern auch das "Implizite" ein, und muss darüber hinaus berücksichtigen, dass sich Primär- und Sekundärziele im Verlauf eines derart langen, verlustreichen und dynamischen Konfliktes verändern können.

Das erklärte Ziel des syrischen Regimes, das sich für den rechtmäßigen Vertreter des Staates hält, ist die Wiedererrichtung eines Herrschaftsmonopols auf dem gesamten Territorium der Syrischen Arabischen Republik, also gewissermaßen in den Grenzen von 2011. De facto kann es dieses Ziel auf absehbare Zeit nicht erreichen – eine Einsicht, die sich seit 2013 auch im inneren Machtzirkel Assads durchgesetzt hat. Auch die derzeit von Russland und Iran gestützten massiven Militäroffensiven werden daran zunächst nichts ändern. Die politischen und militärischen Verhaltensweisen dieses Regimes ließen 2015 noch zwei andere Ziele erkennen: Konsolidierung der Kontrolle über die Hauptstadt Damaskus und das Umland, über Zentralsyrien und die Küste sowie über wichtige Verkehrsrouten, Rohstoffe und Industriezentren. Wichtiger noch: das Fortbestehen der Machtarchitektur ohne einschneidende Veränderung, die in einer Entmachtung des Präsidenten Assad oder in der Auflösung jenes Machtkomplexes der drei um den Präsidenten gruppierten Clans Assad, Makhlouf und Shalish bestehen könnte. Diesen Kriegszielen ordnete das Regime in den vergangenen fünf Jahren alle anderen Sekundärziele unter – und zu ihrer Verteidigung nahm es nicht nur zehntausende Tote unter der Zivilbevölkerung, sondern auch massive eigene Verluste in Kauf.

Die im Juli 2011 zunächst von übergelaufenen syrischen Militärs proklamierte Freie Syrische Armee will das Regime stürzen, präsentierte sich aber nicht mit einem eigenen politischen Programm: Ihre Führung betrachtete sich teilweise als militärischen Arm der im Ausland organisierten Oppositionskoalition Al-Itilaf. Dass die FSA kein eigenes politisches Ziel erklärt hat, hing auch damit zusammen, dass sie ein möglichst breites Sammelbecken für Regimegegner sein wollte: Nach einem Sturz Assads werde es sich schon zum Guten wenden.

Ihr Primärziel hat die FSA nicht aufgegeben, derzeit verfolgt sie aber noch zwei andere Projekte: die Sicherung des von ihr kontrollierten, nicht zusammenhängenden Gebietes und die militärische Selbstbehauptung gegenüber anderen Gruppen mit dem insbesondere vom Westen geschätzten Merkmal, als bedeutender mehrheitlich sunnitisch-arabischer Rebellenverband nicht explizit nach einem "Islamischen Staat" zu streben.

Die kurdische PYD ist ein besonderer Akteur, nicht zuletzt, weil sie als Ausnahme im asymmetrischen Syrienkonflikt die Regel bestätigt: Sie verfolgt verhältnismäßig explizit das Partikularinteresse eines eigenen politischen Projektes im Norden und Nordosten des Landes. Dies kann, was noch nicht letztgültig entschieden zu sein scheint, in einer autonomen, eigenstaatlichen oder auch pseudostaatlichen Struktur bestehen. Die PYD führte vor allem Krieg gegen arabisch-sunnitische und dschihadistische Gruppen, zuletzt vor allem gegen Daish, um ihre Bevölkerung und ihre Ressourcen zu verteidigen, und um umstrittenes, für ihr Projekt aber strategisch wichtiges Territorium zu besetzen. Die Zukunft Assads ordnet sie diesem Ziel unter – je nachdem, ob das Regime für ihr Projekt nützlich sein kann oder nicht.

Im Vergleich dazu sind die Primärziele der mitunter auch als "Islamische Front" bezeichneten salafistischen Rebellengruppen Ahrar al-Sham und Jaish al-Islam komplexer: Beide streben laut eigenen Angaben nach dem Sturz des Assad-Regimes und der Errichtung eines "Islamischen Staates" in Syrien, den sie aber mitnichten als die exzessive, in der sunnitisch-muslimischen Welt mehrheitlich geächtete Gewaltherrschaft jener Organisation verstanden sehen möchten, die bereits diesen Titel für sich beansprucht.

Die Existenz von Daish und die Proklamation eines Islamischen Kalifatstaates im Jahr 2014 stellen die salafistischen Gruppen vor Probleme, die nicht nur militärischer Natur sind. Sie streiten mit Daish um die Deutungshoheit über den Begriff "Islamischer Staat", der momentan ein eher negatives Image hat. Der Daish-Staat war zuerst da; das Machtprojekt der Dschihadisten wird bereits implementiert. Man kann dieses Problem wohl mit dem kommunistischer Gruppen vergleichen, die früher in Europa und der Dritten Welt ihr Gesellschaftsmodell propagierten, während der Sowjetkommunismus auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs jede Illusion von Freiheit und Gerechtigkeit zunichtemachte. Daish wirkt gewissermaßen wie der "real existierende Salafismus", analog zum "real existierenden Sozialismus" in den Ostblockstaaten.

Die islamistische Denkschule der Salafiyya, aus der sich die Gruppen Ahrar al-Sham und Jaish al-Islam speisen, unterscheidet sich zwar in vielem von der sektenhaften Gewaltherrschaft der Daish-Ideologie. Aber auch sie propagiert die Rückkehr zu einem – historisch äußerst zweifelhaften – Goldenen Zeitalter des Islam, das man erreichen könne, wenn man Denken und Lebensweise der Gründerzeit der islamischen Gemeinschaft imitiert. Und dieses unhistorische, aber an historischen Vorbildern orientierte Modell will Daish bereits erschaffen haben: zum Beispiel durch die Ausrufung eines Kalifats. Was außer dem Sturz des Assad-Regimes wollen also diese salafistischen Rebellen und wen vertreten sie?

Syrien ist bekanntlich ein multikonfessionelles Land, in dem rund ein Viertel der Bevölkerung nicht dem sunnitischen Islam angehört. Die salafistischen Gruppen geben zwar vor, dass sie die ethnisch-konfessionelle Textur Syriens anerkennen. Sie akzeptieren aber heterodoxe Minderheiten wie etwa Alawiten oder Ismailiten nicht als Muslime und betrachten sich selbst – ihrer Rhetorik und ihrem Verhalten zufolge – als Schützer der sunnitisch-arabischen Mehrheit. Ob diese Mehrheit ihnen ein Mandat zum Kämpfen erteilt hat, spielt dabei keine Rolle, denn die konfessionellen Mehrheitsverhältnisse genügen ihnen als Quell der Legitimation. Sie betrachten Syrien als ihr versprochenes Erbe. Denn im "Bilad al-Sham", wie das historische Syrien auch genannt wird, entstand einst das erste arabisch-islamische Imperium. Eine auf pseudosäkularen Ideologien basierende und von Minderheiten mitbeherrschten Republik wie die syrische scheint ihnen ein Irrtum der Geschichte, eine Entweihung des Erbes des Propheten.

Weniger in ihren offiziellen Verlautbarungen, dafür aber gegenüber ihren Anhängern bezeichneten sie die Armee des Regimes auch als "nusairisch", das Regime selbst als "nusairisches Regime", was ein meist geringschätzig gebrauchtes Synonym für die Alawiten ist: jene Minderheit, der auch der Assad-Clan entstammt. Jaish al-Islam und Ahrar al-Sham wollen offenbar nicht nur das Assad-Regime stürzen, sondern Minderheiten, womöglich auch säkulare Sunniten aus Schlüsselpositionen der Macht verdrängen. Mit der Errichtung eines "Islamischen Staates" in ihrem Sinne wäre dies ausreichend und auch legal verwirklicht, ohne dass man dafür eine Terrorherrschaft wie Daish errichten muss. Dem historischen Anspruch der Sunniten wäre Genüge getan.

Ihre militärische Stärke macht die Salafisten zu Alliierten jener Regionalmächte, die mit Nachdruck einen militärischen Sturz des Assad-Regimes verfolgen, insbesondere die Türkei, Saudi-Arabien und Katar. Allen dreien scheint ein sunnitisches Regime in Syrien nicht nur als "authentische" Lösung, sondern auch als regionalpolitisch nützliche Option.

Bei den Genfer Friedensgesprächen galten Ahrar al-Sham und Jaish al-Islam als umstrittene Kandidaten für den Verhandlungstisch. Kurz vor Beginn der Gespräche am 29. Januar 2016 bekannten sich beide Gruppen unabhängig voneinander zur Notwendigkeit einer "politischen Lösung" in Syrien.

Für die bereits mehrfach erwähnte Nusra-Front kam diese Option bisher nicht infrage, was die Arbeit der Verhandlungsführer wohl eher erleichterte als erschwerte. Eine Abgrenzung zwischen den salafistischen Rebellengruppen und designierten Terrorgruppen wäre dadurch nicht mehr möglich geworden und hätte sicher auch den Versuch, erstere in Verhandlungen einzubinden, delegitimiert. Die Nusra-Front nahm auch nicht an den Oppositionsgesprächen in Riad im Dezember 2015 teil – und ließ verlautbaren, man hätte einer etwaigen Einladung ohnehin nicht Folge leisten können. Die Ziele der Gruppe sind verhältnismäßig klar definiert und wohl auch deckungsgleich mit ihren Interessen: Sturz des Regimes, die Vertreibung oder Unterwerfung "Ungläubiger" aus Syrien, wozu nicht nur die Alawiten und andere Minderheiten zählen, sondern auch Muslime, die der von der Nusra-Front praktizierten Lesart der Scharia nicht folgen wollen. Die Nusra-Front hält dem international operierenden, in jüngster Zeit aber ins Hintertreffen geratenen Netzwerk Al-Qaida die Treue und folgt der Doktrin eines globalen Dschihad. Bevor Daish diese Rolle übernahm, galt sie inner- und außerhalb Syriens als radikalste und ob ihrer oft spektakulären Operationen (etwa koordinierte Selbstmordattentate) meist gefürchtete Miliz. Sie zog zahlreiche Dschihadisten aus dem Ausland an und setzte sich damit dem Vorwurf aus, sich nicht für syrische Belange zu interessieren, sondern das Chaos für ihre Interessen zu benutzen. Ihre Ursprünge – auch die ihres Namens – waren diffus und erregten, ähnlich wie bei Daish, den Verdacht, dass die Geheimdienste des Regimes solche dschihadistischen Terrorgruppen förderten, um den Aufstand zu spalten und zu unterwandern. Mit dem wachsenden Konkurrenzkampf gegen Daish wurde die Nusra-Front allmählich Teil des Establishments der salafistischen Rebellen. Einige syrischstämmige Al-Qaida-Veteranen wollten der Gruppe einen stärker nationalen Anstrich verleihen. Sie versuchten, die in Syrien schlecht beleumundeten Legionäre aus dem Maghreb oder Zentralasien, die noch nicht zu Daish übergelaufen waren, vom Terrorisieren der Bevölkerung abzuhalten und in ihre Kommandos einzubinden.

Über die staatliche oder halbstaatliche Unterstützung der Nusra-Front aus dem Ausland, etwa aus Saudi-Arabien, den Golfstaaten und der Türkei wurde viel spekuliert. Die Dschihadisten verfügten über teils beachtliche finanzielle Mittel. "Bärtige Kämpfer" passierten laut zahlreichen Augenzeugenberichten ungehindert die syrisch-türkische Grenze, was Ankara den Vorwurf einbrachte, Daish gezielt zu fördern. Recep Tayyip Erdoğan hätte das durch eine umfassende Erklärung womöglich glaubhaft in Abrede stellen können. Er hätte dann aber womöglich zugeben müssen, dass die Kämpfer für die Nusra-Front bestimmt gewesen seien, die sich äußerlich nur geringfügig von Daish unterscheidet.

Fest steht allerdings, dass die Nusra-Front zumindest indirekt Waffen und Finanzmittel von den Regierungen Saudi-Arabiens und der Türkei erhielt. 2015 kämpfte sie in einer Allianz mit Ahrar al-Sham, die sich Jaish al-Fath – "Armee der Eroberung" nannte und militärisch sehr erfolgreich war: Für einen möglichen Reputationsschaden wurden die Ahrar durch motivierte Kämpfer, darunter auch Selbstmordbomber, entschädigt. Der Nusra-Front wiederum gelang es, mit der neuen Marke Zugang zu einem gemeinsamen operation room zu bekommen, der von Saudi-Arabien und der Türkei unter anderem panzerbrechende Waffen erhielt.

Als es im Januar 2016 – angesichts einer von Russland unterstützen Regime-Offensive und wachsender Nervosität – zu Schießereien zwischen beiden Gruppen kam, rief ein saudischer Prediger, der als spiritueller Kopf der Nusra-Front gilt, über den Kurznachrichtendienst Twitter zur Einheit auf: Die "Brüder" sollten nicht vergessen, dass "ihr gemeinsamer Feind an der Mittelmeerküste" sei, und nicht im eigenen Lager. Diese Nachricht gibt Auskunft über das Primärziel der Nusra-Front und damit partiell auch über ein zentrales Problem von Gruppen wie Ahrar al-Sham, das nicht in ihrem Gegner, sondern in ihrem Verbündeten besteht: Nicht das Assad-Regime war mit dem "gemeinsamen Feind" gemeint, sondern die an der Küste siedelnden Alawiten.

Die mittelbaren und unmittelbaren Ziele von Daish sind vergleichsweise einfach darzustellen: Da wäre zunächst der Aufbau eines "Islamischen Staates", was die Organisation ja bekanntlich bereits verwirklicht haben will. Damit sollen die von westlichen Kolonialmächten gezogenen Grenzen und die aus einem unislamischen Import hervorgegangenen Staatsformen und -ideologien verschwinden. Von diesem Etappenziel ausgehend erfolgt dann die Eroberung der muslimischen und, irgendwann, der gesamten Welt. Zur Verwirklichung dessen bedarf es laut Daish der Islamisierung bekehrbarer Minderheiten, aber auch der Ausrottung der unbekehrbaren (etwa der Alawiten, von denen man laut einer von Daish, aber auch von anderen dschihadistischen Gruppen befolgten Rechtsauffassung keine glaubwürdige Umkehr erwarten kann).

Propaganda und Rhetorik von Daish greifen oftmals auf eschatologische Motive zurück: Sie stellen den Kampf um Syrien und den Irak als Beginn vom Ende der Welt dar – gewissermaßen als Prolog zur letzten Schlacht zwischen Gläubigen und Frevlern. Angesichts der hehren Ziele ist es aus Sicht der Dschihadisten konsequent, dass sie dabei zu rabiateren Methoden greifen und buchstäblich keine Gefangenen mehr machen. (Dass so gut wie alles erlaubt ist, um ein höheres Ziel zu erreichen, zählt ohnehin zu den Merkmalen des Dschihadismus.) Die nicht deklarierten Ziele der Daish-Führung, die man aufgrund ihrer strukturellen und methodischen Ähnlichkeit zu anderen despotischen Systemen in der Region auch als "Daish-Regime" bezeichnen mag, sind hingegen kurzfristiger:

  • Konsolidierung ihrer Macht durch Abschreckung und Kooptierung sunnitischer Stämme in Syrien und im Irak;

  • Erschließung von Ressourcen und Profiten, um damit die Ansprüche einer neuen dschihadistischen Feudalelite zu befriedigen;

  • Destabilisierung konkurrierender politischer Strukturen;

  • Vernichtung der historischen, nichtislamischen Identität Syriens und des Iraks durch das Zerstören kultureller Denkmäler aus der vorislamischen Antike, womit auch die Vertreibung nichtsunnitischer Minderheiten nachhaltig wirksam wird.

Beide, sowohl die erklärten, als auch die nicht erklärten Ziele lassen deutlich werden, weshalb Daish dem Kampf gegen das Assad-Regime keine Priorität einräumt. Man muss zunächst die "Fitna", die Zwietracht innerhalb der sunnitischen Muslime, als störendes Element im "eigenen Haus" vernichten. Das Assad-Regime steht dabei nicht im Wege, sondern kann dem Projekt zuträglich sein. Daish ist lediglich dann bereit, großen militärischen Aufwand gegen das Regime zu treiben, wenn sich dadurch entweder Ressourcen (etwa Öl, Gas, Waffen) erbeuten lassen, oder wenn es propagandistische Erträge bringt (etwa um den in der Bevölkerung weit verbreiteten, im Grunde zutreffenden Vorwurf zu zerstreuen, Daish kämpfe nicht gegen das Regime, sondern kooperiere stillschweigend mit ihm).

Dieser "Islamische Staat" ist zwar ein Gebäude, das in vielerlei Hinsicht auf Lug, Trug und Hochstapelei steht. Und seine nach dem Vorbild der Organisierten Kriminalität strukturierten Kader führen das dschihadistisch motivierte Fußvolk auch offenkundig in die Irre. Was Grausamkeit betrifft, so versucht Daish seine Verbrechen aber – im Gegensatz zu anderen Akteuren – nicht zu vertuschen, sondern rühmt sich ihrer und nutzt sie als Propagandawaffe.

Bei einem Abgleich der vorgeblichen und wirklichen Ziele fallen zwar zahlreiche Inkongruenzen ins Auge. Andererseits treten aber auch bemerkenswerte Übereinstimmungen hervor. Daish propagiert offen und kompromisslos die Ausrottung und Versklavung von Minderheiten wie Jesiden im Irak oder Alawiten in Syrien. Bei den Kämpfen um das den Jesiden heilige Sinjar-Gebirge konnten die Dschihadisten bereits unter Beweis stellen, dass dies keineswegs als leere Drohung zu verstehen ist. Daish zeigt – mitunter perfide filmisch inszenierte – Hinrichtungen von Gefangenen, die teils als Dissidenten, Agenten des Regimes oder Ungläubige präsentiert werden. Um den medialen Schockeffekt zu verstärken, denkt man sich allerlei grausame Methoden aus und rechtfertigt diese mit hanebüchenen Herleitungen aus der Frühzeit des Islam. Und was die Enthauptung von Gefangenen mit dem Messer betrifft: Zahlreiche Augenzeugenberichte und Videodokumente aus der Zeit vor dem Erstarken des "IS" belegen, dass diese Praxis auch bei anderen Gruppen angewendet wurde, wenngleich sie nicht jenes industrielle Ausmaß annahm, mit dem Daish heute seine Gegner schreckt.

Seine Rolle als Paria ist für Daish maßgeblich auf dieses Alleinstellungsmerkmal zurückzuführen. Andere Konfliktparteien – darunter ist an erster Stelle das syrische Regime zu nennen – neigen dazu, ihre Brutalität zu leugnen, Folter und Massaker zu dementieren. Dadurch erzielen sie, wenn ihre Taktik aufgeht, einen zweifach nützlichen Effekt: Ihre Gegner und die Zivilbevölkerung sind dadurch eingeschüchtert. Gleichzeitig halten sie sich Möglichkeiten offen, politische Unterstützung bei internationalen Partnern einzuwerben, die besonders dann gerne nach dem Grundsatz in dubio pro reo handeln, wenn es ihren Interessen nützt.

Flüchtlinge als strategisches Ziel

Zeitweilig beherrschte das Regime nicht mehr als ein Drittel des einstigen Staatsterritoriums. Seine Truppen und Milizen kontrollieren Anfang 2016 allerdings den Großteil der 14 Provinzhauptstädte außer Idlib und Rakka, während vier weitere – Deraa, Hasakeh, Aleppo und Deir ez-Zor – geteilt oder schwer umkämpft blieben. In deutschen Medien war mitunter zu lesen, der "IS" besitze in Syrien und im Irak schon ein Territorium so groß wie Großbritannien. Dieser Vergleich dürfte dem Daish-Regime gefallen haben, er hinkt aber insofern, als zwischen den von IS-Milizen regelmäßig patrouillierten Städten und Verkehrswegen im Osten Syriens oft hunderte Quadratkilometer Wüstengebiet liegen.

Ein Vergleich der Machtverhältnisse folgt in Syrien anderen Kriterien: Wer beherrscht Ressourcen, Landesgrenzen und Verkehrswege? Und wer kontrolliert die Bevölkerung? Rechnet man die inländischen Kriegsflüchtlinge ein, die sich temporär in den Küstengebieten und im Großraum Damaskus eingefunden haben, so kann man davon ausgehen, dass rund zwei Drittel der Bevölkerung derzeit in Gebieten leben, die das Regime vollständig oder teilweise beherrscht.

Vor dem Hintergrund dieser Realitäten wird vielleicht deutlich, welches Kalkül der Politik des Regimes zugrunde liegt und welche taktische Rolle dabei auch dschihadistischen Gruppen wie Daish zukommen kann. Und dieser Aspekt hat wiederum Folgen für die Bundesrepublik. Denn Flucht und Vertreibung von Millionen Menschen sind nicht nur ein Kollateralschaden, den Kriegsparteien skrupellos in Kauf nehmen: Sie zählen mitunter zu ihren Kriegszielen – ob öffentlich erklärt oder implizit beabsichtigt.

Spätestens seit 2012 beobachten wir, dass die Streitkräfte des Regimes systematisch schwere Waffen gegen Wohngebiete einsetzen, zum Teil auch geächtete Kampfstoffe. Die Bevölkerung gerät hier nicht nur in Mitleidenschaft, sondern wird zum Teil vorsätzlich angegriffen, und zwar offenbar nicht nur aus militärischen, sondern aus demografischen Gründen.

In den Streitkräften des Regimes kämpfen Angehörige verschiedener Konfessionen, auch der Sunniten, die vor 2011 etwa drei Viertel der Bevölkerung ausmachten. Auf Seiten der aufständischen Gruppen, zumal der dschihadistischen, gibt es aber entweder ausschließlich Sunniten, oder aber der Anteil anderer Konfessionen ist – von einigen Selbstverteidigungsmilizen abgesehen – statistisch kaum messbar. Einige der kämpfenden Gruppen betrachten den Konflikt daher auch als Stunde der Abrechnung zwischen Sunniten und Alawiten. Das Regime folgt der konfessionellen Logik oder macht sie sich zumindest dienstbar. Ihm gehören auch Sunniten an, und die sunnitische Bourgeoisie zählte zum Teil sogar zu den großen Profiteuren der Ära Assad. Dennoch ist die Ansicht verbreitet, dass eine Gesellschaft mit einem derart übermächtigen sunnitisch-muslimischen Bevölkerungsanteil nicht mit repräsentativen, geschweige denn demokratischen Methoden regiert werden könne. Angesichts der Zersplitterung des Staates, der Vielzahl von Toten und der unbeglichenen Rechnungen ist demnach auch kein Frieden möglich. Die Alternative scheint deshalb zu sein, mit Gewalt das Konfessionsverhältnis zu verändern. Es liegt auf der Hand, dass das Regime den Exodus vorwiegend sunnitischer Syrer in die Nachbarländer auch in diesem Kontext sieht. Wer als Flüchtling die Grenze passiert und sich vom Hilfswerk UNHCR registrieren lässt, verwirkt dadurch de facto sein Rückkehrrecht nach Syrien, unter Umständen sogar seine Staatsbürgerschaft. Dadurch kann das Regime den Konfessionsproporz verändern. Ein für das Überleben des Regimes günstiges Szenario setzt sich aus drei Aspekten dieser Massenflucht zusammen:

  • Aufständische Gebiete werden entvölkert, was die Legitimation der Rebellen insgesamt infrage stellt.

  • Gegenden mit heterogener ethnisch-konfessioneller Struktur werden "homogenisiert", indem man den Anteil sunnitischer, potenziell aufständischer Bevölkerung verringert.

  • Der Wiederaufbau, insbesondere der strategisch bedeutenden Großstädte, folgt einer politisch-konfessionell motivierten Vergabe von Bau- und Wohnzulassungen.

Dritter Weg

Das syrische Regime betreibt diese ethnisch-konfessionelle Vertreibungspolitik in besonders drastischer Weise, bestreitet dies aber natürlich. Aber auch andere Akteure, sogar die im Westen für ihren heroischen Kampf gegen Daish angesehenen kurdischen Gruppen, bedienen sich der Vertreibung von Bevölkerungsgruppen, um ihr beanspruchtes Gebiet zu sichern. Dazu kommen salafistische und dschihadistische Gruppen, die kein Hehl daraus machen, dass sie den konfessionellen Minderheiten, insbesondere den Alawiten, nichts anzubieten haben als die Unterwerfung. Solche Angst mag von der Propaganda des Regimes geschürt werden, aus der Luft gegriffen ist sie nicht. In Konkurrenz zu diesen Gruppen stehen nun andere, nationalistisch bis moderat islamistisch eingestellte sunnitische Kampfgruppen, denen ein Großteil der vom Assad-Regime beherrschten Bevölkerung aber ebenfalls nicht traut.

Im Vorfeld der am 29. Januar 2016 eröffneten UN-Syriengespräche von Genf III hatten verschiedene politische und bewaffnete Oppositionsgruppen unter der Patronage Saudi-Arabiens den Schulterschluss vollzogen. Aus Sicht vieler Menschen in Syrien, die zwischen Regime und Aufständischen stehen, ist dies ein Indiz dafür, dass die Grenzen zwischen Dschihadisten, Salafisten und "moderaten" Islamisten nicht einmal mehr auf dem Papier existieren: In der weit verbreiteten konfessionellen Logik sehen sich vor allem Alawiten nun einem sunnitischen Block gegenüber, dem sie sich nicht anschließen wollen, auch wenn sie des Assad-Regimes mehr als überdrüssig sind.

Einen Waffenstillstand und eine "politische Lösung" für die Zukunft dieses Landes wird es nur geben, wenn man eben jene Bevölkerung erreicht, die sich noch auf syrischem Territorium befindet und – aus Angst oder Mangel an Optionen – dem Assad-Regime aktiv oder passiv dient. Jeder Versuch, diese Bevölkerung für die Ziele der bewaffneten Opposition zu gewinnen, ist gescheitert, und zwar nicht nur, weil das Regime dies mit Gewalt zu unterbinden wusste. Aus der – zu Regime und Aufständischen gleichermaßen negativ eingestellten – Bevölkerung müssen eigene Kräfte hervorgehen, die eine Alternative zu den aktiven Kriegsparteien bilden und einen Waffenstillstand nach ihren eigenen Bedürfnissen aushandeln. Und dafür müssen sie mit politischen Garantien internationaler Mächte rechnen können. Denn die expliziten Kriegsziele der derzeit tonangebenden Kräfte scheinen auch durch zähe, langwierige Verhandlungen nicht ausgleichbar. Die impliziten sind es allerdings noch weniger, was allerdings notwendig wäre, um den Teufelskreis der Gewalt wirkungsvoll zu unterbrechen. Ein solcher Dritter Weg mag als besonders schwierig gelten und verlangt weit mehr Energie und Kreativität, als monatelange diplomatische Verhandlungen in einem Hotel in Genf. Aber er verdient wohl zumindest ebenso große Anstrengungen wie jene Wege, die bislang zu keinem Ziel führten, die aber noch immerfort beschritten werden.

Geb. 1977; Orientalist, Chefredakteur des Magazins "zenith" und Leiter der Nahost-Beratungsgruppe zenithCouncil. E-Mail Link: dge@zenithonline.de