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"Nafri" als Symbol für die Flüchtlingskrise? | Maghreb | bpb.de

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"Nafri" als Symbol für die Flüchtlingskrise? Marokkanische Perspektiven auf euro-mediterrane Migration

Martin Zillinger

/ 18 Minuten zu lesen

Am Beispiel der marokkanischen Migration werden unterschiedliche Migrationsstrategien diskutiert. Um die Bewegung von Menschen über das Mittelmeer zukunftsfähig zu gestalten, bedarf es differenzierter Antworten seitens der europäischen Gesellschaften.

"Auf einmal war es Deutschland." Mein Gesprächspartner, ein berühmter Schauspieler aus Casablanca, den ich im Januar 2016 auf einer marokkanischen Festveranstaltung in Paris traf, zuckte die Schultern: "Alle meine Freunde, alle jungen Männer aus der Altstadt – sie alle reden nur noch davon, nach Deutschland zu gehen." Rund 10.000 Marokkanerinnen und Marokkaner kamen 2015 nach Deutschland und haben sich beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) registrieren lassen. Gemessen an den Hunderttausenden, die im Zuge der Grenzöffnung ab dem Spätsommer 2015 in Deutschland Zuflucht oder einen Neuanfang gesucht haben, ist die Zahl der eingereisten Marokkanerinnen und Marokkaner relativ überschaubar. Seit den sexuellen Übergriffen und Diebstählen auf der Kölner Domplatte Silvester 2015 und der Eröffnung eines polizeilichen Analyseprojekts "Nordafrikanische Straftäter" fungiert das Kürzel "Nafri" jedoch als Symbol für die sogenannte Flüchtlingskrise und für schwer kontrollierbare Banden junger Männer, die in Deutschland durch Kleinkriminalität auf sich aufmerksam machen.

Die Ereignisse in Köln waren ein Wendepunkt in der öffentlichen Diskussion der sogenannten Flüchtlingskrise, mit vermutlich noch lang anhaltenden Auswirkungen auf die europäische Migrationspolitik. Nach dem doppelten Exzess, der Gewalt am Hauptbahnhof und den Vorwürfen und Schuldzuweisungen auf Parteitagen, in den Parlamenten und den Medien, versuchten Regierungsvertreter zunächst Handlungsfähigkeit zu beweisen, indem sie versuchten, Marokko zu einem sicheren Herkunftsstaat zu erklären. Dadurch sollte der als problematisch wahrgenommene Zuzug von marokkanischen, aber auch tunesischen und algerischen Migrantinnen und Migranten gestoppt werden. Tatsächlich verzeichnet das BAMF im dritten Quartal 2015 einen sprunghaften Anstieg in der Registrierung marokkanischer Flüchtlinge, an dem sich die Migrationsdebatte entzündete. Diese Debatte verkürzte Migration – die Bewegung durch den Raum – jedoch auf Asyl und Asylmissbrauch, wodurch die komplexen Migrationsdynamiken im euro-mediterranen Raum nur unzureichend erfasst wurden. Die Menschen in Nordafrika, dem Maghreb und Marokko bleiben auch in Zukunft in Bewegung. So hoch auch die Europäische Union die Mauern zieht und dadurch immer mehr ertrinkende Männer, Frauen und Kinder im Mittelmeer in Kauf nimmt, die Herausforderungen der Migration werden die Gesellschaften Europas weiter beschäftigen. Um die Bewegung der Menschen nach Deutschland und Europa angemessen einschätzen und gestalten zu können, ist es dringend angezeigt, die Heterogenität der Motive, Verläufe und Ziele von Migration und Mobilität in den Blick zu bekommen und dafür differenzierte Antworten und Zugangsformate zu entwickeln.

Asyl, Flucht, Migration: Ordnungsversuche nach Zahlen

Seit dem faktischen Aussetzen des Dublin-Abkommens und der Öffnung der deutschen Grenzen für Hunderttausende Flüchtlinge der Bürgerkriege in Irak und Syrien im September 2015 wurden in Deutschland mehr als 7.000 Marokkanerinnen und Marokkaner in Erstaufnahmeeinrichtungen registriert, allein im Monat November waren es fast 3.000 Personen. In der öffentlichen Diskussion wurde die sogenannte EASY-Registrierung (Erstverteilung der Asylbegehrenden), die anonym erfolgt und Fehl- und Doppelerfassungen nicht ausschließt, häufig mit dem eigentlichen Asylantrag verwechselt. Da sich die meisten der nach Deutschland kommenden Migrantinnen und Migranten registrierten, um ein Dach über dem Kopf und Verpflegung zu erhalten, sind in dieser Zahl auch alle Personen enthalten, die ohne Absicht auf einen Asylantrag eingereist sind. Tatsächlich gab es im gesamten Jahr 2015 rund 1700 und im ersten Quartal 2016 655 Asylanträge von marokkanischen Staatsbürgern und damit deutlich weniger als die 10.000 Registrierungen in Erstaufnahmeeinrichtungen des Jahres 2015. Die Differenz zwischen der Registrierung als Asylsuchende und den tatsächlich gestellten Asylanträgen zeigt nicht nur die instrumentelle Nutzung bürokratischer Prozeduren durch Migrierende. Sie lässt darüber hinaus ahnen, dass sich viele Menschen gänzlich einer Registrierung entziehen und es vorziehen, klandestin in Deutschland und Europa ihr Glück zu suchen: Sie tauchen ab.

Durch die Erklärung Marokkos zu einem sicheren Herkunftsstaat würde eine Abschiebung der marokkanischen Zuwanderer erleichtert und die Beweislast politischer Verfolgung auf die Schutzsuchenden übertragen werden. Marokko ist nach heutigem Wissensstand aber alles andere als ein sicheres Herkunftsland: Menschen verschwinden, werden gefoltert und aufgrund ihrer sexuellen Orientierung angefeindet und verfolgt – Opposition ist nur in klar umrissenen Grenzen möglich. So sind die studentischen Initiatoren des "Arabischen Frühlings" in Marokko und der "Bewegung 20. Februar" seit einigen Jahren in Haft oder auf andere Art durch den marokkanischen Geheimdienst mundtot gemacht worden. Marokko ist kein Rechtsstaat. Auch wenn regelmäßig stattfindende Parlamentswahlen, Gesetzesvorhaben wie die Reform des Familienrechts oder die Einrichtung einer Wahrheitskommission zur Aufklärung der Menschenrechtsverbrechen zwischen 1956 und 1999 den Eindruck einer fortschreitenden Demokratisierung machen, bleibt das Fundament Marokkos bestehen: Im Zentrum steht noch heute ein Machtapparat, der mit all seinen Verflechtungen in internationale Warenketten und Finanzströme an den Grenzen Europas im Stile eines "Medici-Fürsten" gelenkt und kontrolliert wird.

Die Migrationszahlen des statistischen Bundesamts verraten wenig über Fluchtursachen und -dynamiken aus dem Maghreb, und auch ein Zahlenvergleich über die vergangenen drei Jahrzehnte lässt viele Fragen offen. Auffällig ist, dass die Zahl der tatsächlich gestellten Asylanträge seit Januar 2015 noch immer nicht das Niveau der 1990er Jahre erreicht hat, als viele Marokkanerinnen und Marokkaner vor den "bleiernen Jahren" der brutalen Herrschaft von Hassan II. nach Europa flüchteten. Doch während die Zahl von 2565 Erstanträgen 1992 auf 161 Anträge 2008 sanken, schnellte ihre Zahl im Zuge des "Arabischen Frühlings", der Verhaftungswellen in Marokko, aber auch der ersten Auswirkungen des Syrienkriegs und der unübersichtlichen Bewegungen über das Mittelmeer auf 496 (2012), 1191 (2013) und dann auf 1537 (2014) Anträge hoch – also bereits vor der "Flüchtlingswelle", die im Zuge des erleichterten Grenzübertritts Deutschland erreichte. Nachdem sich das Gelegenheitsfenster für Migranten in Deutschland wieder geschlossen hatte, haben sich die Zahlen der ankommenden Menschen erheblich reduziert. Im März 2016 waren es noch etwas über 200 Menschen, die als marokkanische Asylsuchende durch das EASY-System registriert wurden.

Migration lässt sich nicht auf Flucht, Migranten nicht auf Asylsuchende reduzieren. Ein Problem für die Migrierenden ist nicht zuletzt, dass sie durch das Grenzregime Europas wortwörtlich in ein Boot gezwängt werden und die unterschiedlichen Migrationshintergründe und Dynamiken keine differenzierten Antworten auf Seiten der Aufnahmegesellschaften und ihrer Migrationspolitik finden. Gerade für Marokko ist sich die Forschung weitgehend einig, dass nicht nur der ökonomische Bedarf, sondern auch der Anreiz nach einem besseren Leben junge Menschen zur Migration motiviert – ein Leben, das sich, wie der Anthropologe Ernest Gellner bereits betonte, durch die Aussicht auf volle Staatsbürgerrechte auszeichnet, auf Zugang zu Ausbildung, Arbeit und Gesundheitsversorgung und zu alldem, was eine erfolgreiche Selbstentfaltung möglich macht. Nicht zuletzt ist der Weg in die Migration auch eine Bewährungsprobe auf dem Weg zum Erwachsenwerden.

Migrationsdynamiken

Migrantinnen und Migranten versuchen aus einer Vielzahl an Gründen sowie mit unterschiedlichen sozialen und ökonomischen Voraussetzungen und für unterschiedliche Zeitspannen an unterschiedlichen Orten in Europa Fuß zu fassen. Aus europäischer Sicht wurde die marokkanische Migration traditionell als Angelegenheit der ehemaligen französischen Protektoratsmacht angesehen. Tatsächlich war die Bewegung entlang der Küsten und über das Mittelmeer aber immer schon ein Charakteristikum der mediterranen Lebensweise: Die Bewegung von Menschen und Ressourcen durch den Raum und die Verknüpfung von unterschiedlichen Subsistenzstrategien kennzeichnen die Sozialgeschichte des ökologisch fragilen Mittelmeerraums.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Pendelmigration nach Algerien, wo sich viele Menschen aus Nordmarokko bei französischen Kolonialunternehmern anstellen ließen, durch die Migration nach Europa ersetzt. Die neu entstandene algerisch-marokkanische Grenze trennte ökonomische und familiäre Netzwerke: ausdrücklich die Gegenden um Algier und Oran, wo französische Agrarunternehmen marokkanische Wanderarbeiter beschäftigten, vom marokkanischen Norden. Insbesondere die Berber aus dem marokkanischen Rif-Gebirge, die spätestens seit den 1960er Jahren im Zuge von Anwerbeabkommen nach Belgien, Deutschland und Holland migrierten, waren besonders betroffen. Anders als ursprünglich vorgesehen, konnte sich ein Rotationsprinzip im Rahmen der Anwerbeabkommen nicht durchsetzen, nach dem "Gastarbeiter" nach einem Aufenthalt von etwa zwei Jahren als "gemachte Männer" in ihre Heimat zurückkehren und durch neue Arbeitskräfte ersetzt werden sollten. Zum einen begünstigten Haushaltsstrategien und marokkanische Patronagestrukturen Pendel- und Kettenmigration, zum anderen zogen es die europäischen Firmen vor, angelernte Arbeiter vorerst zu halten oder über die Empfehlung bewährter Migranten neue Arbeiter aus ihren Herkunftsorten einzustellen. Während sich in der ersten Phase der anonymen Rekrutierung Patronagenetzwerke zwischen staatlichen Stellen und sozialen Gruppen herausbildeten, waren es später eher personale Mittler, die Zwischenhändlerfunktionen bei der Rekrutierung von Arbeitern übernahmen und die Emigration über Touristenvisa und illegale Grenzübertritte organisierten. Auch Heiratsbeziehungen zwischen und in Familien sowie mariages blancs (Scheinehen) wurden von Maklern gestiftet und halfen Netzwerkbeziehungen zwischen Herkunfts- und Zielländern der Migration aufzubauen und zu erhalten.

Anders als in Frankreich stellen die Berber aus dem Rif bis heute die Mehrheit der marokkanischen Diaspora in Frankfurt, Düsseldorf, Dortmund und Köln. Während in den frühen 2000er Jahren Spanien und Italien als Zielländer der Migration immer wichtiger wurden, da hier leicht Geld im Agrar- und Dienstleistungssektor verdient werden konnte, lässt sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Finanzkrise 2008 zunehmend eine grenzüberschreitende, undokumentierte Mobilität von Migrantinnen und Migranten beobachten. In ihren Versuchen, Anschluss zu finden, reisen die Menschen aus Marokko und Nordafrika durch Europa, bis sich ihnen temporär ein Auskommen bietet.

Heute leben rund zehn Prozent der marokkanischen Bevölkerung im Ausland, die meisten von ihnen in Europa. Die Rücküberweisungen marokkanischer Migranten liegen seit Jahren bei über fünf Milliarden Euro im Jahr und machen mehr als sieben Prozent des marokkanischen Bruttosozialprodukts aus. Finanzielle Rückflüsse gestalten die transnational aufgespannten Familienstrukturen der allermeisten Migrantinnen und Migranten. Bei einem einfachen Handwerkergehalt von umgerechnet 150 bis 200 Euro im Monat sind bereits kleine Geldsummen eine unverzichtbare Einnahmequelle. Geschickt hat es das Königshaus verstanden, diese Rückflüsse institutionell zu kontrollieren und Investitionen im Heimatland durch den Aufbau eines transnationalen Bankenwesens zu befördern. Nach einer langen Phase repressiver Kontrollpolitik hat sich der Staat auf die politische Vereinnahmung der Diasporagemeinschaften konzentriert und nicht zuletzt durch das Wahlrecht für Auslandsmarokkaner und andere institutionelle Formen von Interessenvertretung eine Politik der Anbindung an das Heimatland betrieben.

Marokkanische Perspektiven auf Migration

Jedes Jahr verbringen Millionen Auslandsmarokkaner ihren Sommerurlaub in Marokko. Die Straßen von Nador, Meknès und Casablanca sind im Sommer voll von Menschen, die Stolz die Insignien einer gelungenen Migration präsentieren: hochwertige, europäische Kleidung, teure digitale Medien, große Autos. Viele Auslandsmarokkaner fühlen sich verpflichtet, über das ganze Jahr Geld für ihren Urlaub beiseite zu legen, um großzügig Geschenke für die Daheimgebliebenen mitzubringen und sich selbst und ihren Angehörigen unbeschwerte Ferienwochen zu ermöglichen. Diese Darstellung eines erfolgreichen Lebens in der Migration macht Europa zum Sehnsuchtsort vieler Marokkanerinnen und Marokkaner, die über wenige Ressourcen für ein selbstbestimmtes Leben verfügen. Über Erfolg und Misserfolg entscheidet in Marokko in vielen Fällen weiterhin nicht das Können, sondern die soziale Verortung in den hierarchischen Strukturen und Beziehungen, die in konzentrischen Kreisen um das Königshaus angeordnet sind. Der Weg nach Europa erscheint vor diesem Hintergrund vielen als Ausweg, sich ein besseres Leben zu erarbeiten.

Allerdings ist dieser Weg mit legalen Mitteln und einer regulären Ausreise nur für die Wenigsten gangbar – gerade für Berufsanfänger und Niedrigqualifizierte sind die Hürden für ein Arbeitsvisum schier unüberwindbar. Mit gegenwärtig rund 8.000 marokkanischen Studierenden, die insgesamt an deutschen Hochschulen studieren, ist auch die Bewerbung um einen Studienplatz in Deutschland nur wenig erfolgversprechend. Noch schwerer ist es, nach dem Abschluss des Studiums über die Aufnahme einer Arbeit dauerhaft in der Bundesrepublik bleiben zu können. Erreichbar ist dagegen für viele ein Visum für Besuchsaufenthalte, um etwa mit Folkloregruppen in Europa aufzutreten oder schlicht um als Tourist nach Deutschland und Frankreich zu reisen. Die Möglichkeiten, die Grenzen Europas zu überschreiten, werden selbst zu einer Gabe in sozialen Beziehungen. Verbunden damit ist nämlich die Möglichkeit zu bleiben – in der Sprache der europäischen Bürokraten werden diese Besucher zu over-stayers, die sich "illegal" in Europa aufhalten.

Heirat ist für viele die wichtigste Strategie, um nach Europa zu kommen oder in Europa bleiben zu können. Die Kategorie der Ehe wird auf diese Art transnational neu ausgehandelt. Unter Berberinnen und Berbern ist die Kusinenheirat die traditionell bevorzugte Form der Eheschließung, mit der materieller Erfolg, sozialer Schutz und familiäre Bindungen abgesichert werden. Doch über neue Medientechniken des Flirtens und Chattens im Internet oder in Begegnungen während der Sommerferien wird die Ehe zunehmend als Ressource eingesetzt, mit der junge Frauen und Männer Handlungsinitiative gewinnen und ihr eigenes Leben gestalten können, in Deutschland wie in Marokko: Indem sie über eine Eheanbahnung die entsprechenden Papiere für die Auswanderung erhalten, oder indem sich Auslandsmarokkanerinnen einen Heiratspartner in Marokko aussuchen und nach Europa holen, der sie aufgrund geringer Erfahrung vor Ort nicht auf traditionelle Geschlechterrollen festlegen kann. Die Ethnologin Christine Ostermann hat in ihren Forschungsorten Frankfurt am Main und Nador unterschiedliche Medien gesammelt, in denen diese Sozialtechnik in all ihrer Ambivalenz aufbereitet wird. So besingt der Sänger Brahim Wassim aus dem Rif-Gebirge in dem Lied "Yedjesse O’ Alimane" (Deutschlands Tochter) Auslandsmarokkanerinnen mit deutschen Papieren als Hoffnungsträger der Daheimgebliebenen:

Ich weiß, heiratete ich Deutschlands Tochter, würde ich mein Leben mit ihr verbringen. Sie würde mich verjüngen, mir all das geben, über das sie verfügt. Sie würde mir ein Visum geben, mit dem ich das Wasser überqueren kann. Frankfurts Tochter, mit Dir werden meine Träume wahr. Ich werde meine Sorgen verlieren.

Für Verantwortliche in der EU-Bürokratie sind die Preise für Scheinehen deshalb ein Indikator für Erfolg oder Misserfolg ihrer Grenzpolitik. 15.000 Euro für einen Heiratsvertrag zeigen nach dieser Logik an, dass die Grenzsicherung funktioniert. Allerdings treten die Betroffenen damit zum Teil in jahrelang währende Abhängigkeitsverhältnisse. Nicht selten kommt es vor, dass Vereinbarungen nicht eingehalten werden und die Menschen verschuldet in Europa abtauchen oder um ihre Ersparnisse gebracht in Marokko zurückbleiben. Billiger ist die Überfahrt der Harraga in kleinen Schmugglerbooten. Al-ḥarg meint wörtlich "das Verbrennen" und bezieht sich nicht nur auf das Verbrennen des Reisepasses, mit dem klandestine Migranten einer Abschiebung vorbeugen wollen, es meint auch das verbrannte, versehrte Leben derjenigen, die ohne Legitimität und mit fragilem Rechtsstatus in Europa abtauchen.

Migrationswege

Während einige junge Menschen klare Vorstellungen vom "neuen" Leben haben und gezielt versuchen, für eine bessere Ausbildung nach Europa zu kommen, ziehen viele andere einfach los. Sie besorgen sich Telefonnummern von Mittelsmännern, die für Geld die Passage nach Libyen und von dort nach Italien vorbereiten. Andere Maghrebiner gehen in die Golfstaaten. Beide Migrationswege sind teuer und werden angesichts der sich aktuell schließenden Grenzen in Europa noch kostspieliger. Die eingeschlagenen Wege werden von sozialen Beziehungen bestimmt: Über nachbarschaftliche Netzwerke werden Telefonnummern von Zwischenhändlern verteilt oder verkauft, bereits erprobte Wege nach Europa abgelaufen und erste Stationen angesteuert, an denen Hilfe von anderen Migranten erwartet werden kann. Zu lange dürfen die Neuankömmlinge aber nicht auf den Taschen der bereits verorteten Migranten liegen. Deshalb machen sich die Neuankömmlinge in der Regel rasch wieder auf den Weg in die nächste europäische Stadt. Häufig werden dafür Zentren der marokkanischen Migration angesteuert: So sind etwa Turin und Mailand, Montpellier und Paris, Brüssel und Antwerpen Städte mit großen marokkanischen Communitys. Entscheidend für den Aufbruch sind aber immer die Chancen, die sich die Menschen aufgrund sozialer Netzwerke auf ein temporäres Auskommen vor Ort ausrechnen. Nachbarschaftsnetzwerke spielen hier eine große Rolle, aber auch religiöse Bruderschaften, die in der sozialen und religiösen Praxis wichtig sind, um sich gegenseitig zu unterstützen.

Für den Erfolg der Migration ist es wichtig, sich an allen Orten der Migration als ein vertrauenswürdiges Mitglied der marokkanischen Netzwerke zu bewähren. Wer kriminell wird, gilt als non-capable, als unfähig, mit den Herausforderungen eines Lebens in der Diaspora umzugehen, und wird tendenziell gemieden: wenn es etwa darum geht, Hilfsarbeiten aller Art für den Neuankömmling zu besorgen – zum Beispiel in Putzkolonnen. Entscheidend für die gelungene Migrationsbiografie sind "Papiere", arabisch wuraq. Sie garantieren in Form von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen oder gar der Einbürgerung nicht nur Rechtssicherheit, sondern auch Arbeits- und Bewegungsfreiheit zwischen Europa und Marokko. Arbeitsverträge, durch die ein ausreichender Verdienst für eine Aufenthaltserlaubnis nachgewiesen werden kann, werden in den marokkanischen Netzwerken hoch gehandelt. Zugleich werden Ärzte und Staatsbürger der Zufluchtsgesellschaft gesucht, die bereit sind, langjährige Behandlungen oder Kontakte im Land zu dokumentieren, wodurch ein ausreichend langer Aufenthalt vor Ort vorgegeben wird und damit das Gesuch um eine Aufenthaltserlaubnis erleichtert werden soll. Häufig beendet jedoch erst die Heirat mit einem einheimischen oder zugereisten Staatsbürger die Wanderung durch Europa – erst jetzt kann das Leben in der Migration aufgebaut werden. Oftmals benötigen die klandestin Migrierenden bis zu zehn Jahre, um dieses Ziel zu erreichen. Bis zu diesem Zeitpunkt durchleben sie entbehrungsreiche Jahre, in denen Eltern oder Geschwister in der Heimat sterben und sie sich von ihren Familien entfremden.

Doch auch wenn staatliche Grenzziehungen die transnationalen, sozialen Räume der Migration durchschneiden und begrenzen, ist ein methodologischer Nationalismus in der Migrationsforschung fehl am Platz. Ein dyadisches Modell der Migration, nach der Menschen aufgrund von Push-Pull-Faktoren ein Land verlassen, um in einem anderen zu leben, wird den komplexen Verhältnissen der Migration nicht gerecht. Digitale Medien helfen den Menschen, ihre Reisewege und Aktivitäten an den unterschiedlichen Orten der Migration zu organisieren. Sie sind der "billige, soziale Klebstoff des Transnationalismus" – so hat es der Ethnologe Steven Vertovec auf den Punkt gebracht. Telefone, aber auch andere technische Medien wie Digitalkameras und das Internet, verknüpfen den Alltag von Menschen an unterschiedlichen Orten. Der transnationale Raum ihrer Aktivitäten ist auch nach einer dauerhaften Wohnsitznahme triadisch charakterisiert: aufgespannt zwischen weltweit zerstreut lebenden Individuen, den Kontexten der Herkunftsländer und den Kontexten der jeweiligen Aufenthaltsorte.

Unterschiedliche soziale Milieus im Aufbruch

Nach der geordneten Arbeitsmigration in den 1960er und 1970er Jahren und der daraus folgenden Kettenmigration haben sich die Wege der Migrantinnen und Migranten sowie die Motive und Kontexte der Migration fortlaufend verändert. Auch wenn sich zunehmend eine Mittelschicht herausbildet, die ihr Leben bewusst in Marokko gestaltet, ergreifen viele Menschen aus allen sozialen Milieus auch heute noch die Gelegenheit zur Migration, wenn sie sich bietet. Die Grenzöffnung im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 war so eine Gelegenheit, die insbesondere junge Männer nutzten, um in kleinen Gruppen nach Europa aufzubrechen. Schnell stiegen die Preise für Flugtickets in die Türkei, die durch die visafreie Einreise für marokkanische Staatsbürger als gutes Sprungbrett nach Europa taugte. Die jüngsten Reisen von jungen Männern mit Hoffnungen auf das schnelle Geld besingt etwa Soufian Bousaidi in seinem Lied "Arif ino wadaya traja":

Meine Heimat Rif, in dir kann nur der Reiche leben (…). Kommt! Lasst uns Hand in Hand, in die Türkei reisen, das Ticket kostet nur 700 (…). Hey, Guten Morgen Frankfurt! Ich bin der Sohn aus Sghenghen bei Nador, bin mit dem Boot über die Türkei hierhergekommen, um "Business" zu machen – aber sicher nicht, um Arbeitsschuhe zu tragen (…). Keine Freunde, keine Verwandten habe ich hier als Unterstützung. Ich bin nicht dumm, ich komme klar im Leben – wir Berber sind nicht wegen Arbeit gekommen, sondern wegen etwas Anderem.

Das "Andere", weswegen der Sohn aus Sghenghen bei Nador nach Deutschland gekommen ist, steht nicht für schlecht bezahlte Arbeit, sondern für den schnellen Erfolg – für "Business". Gleichzeitig schwingt hier auch die Möglichkeit mit, über kriminelle Netzwerke, die vom Rif aus operieren, den Schmuggel von Marihuana zu organisieren. Dies wird von den bestehenden Gemeinschaften in Deutschland jedoch mit Argwohn betrachtet.

Folgen wir den Recherchen des Reporters Mohamed Amjahid vom "Zeit-Magazin", waren es junge Männer aus kriminellen Milieus, die aus Zentralmarokko und insbesondere Casablanca den Weg über die Türkei gesucht haben und sich nun in Deutschland und Europa durch Kleinkriminalität über Wasser halten. Mit den vielen Kriegsflüchtlingen kamen in kleiner Zahl auch Gruppen, die nicht unbedingt ein Leben in der Migration aufbauen wollten, sondern hier geübt auf Strategien der systematischen Verunsicherung im öffentlichen Raum wie Schnorren und Stehlen zurückgriffen, um über die Runden zu kommen. Darüber hinaus reisten offensichtlich viele illegal durch Europa wandernde Migranten gezielt nach Deutschland ein, als sie von der "Willkommenskultur" hörten und sich durch eine Registrierung in den Notaufnahmeeinrichtungen ein Dach über dem Kopf, Verpflegung und vielleicht sogar Asyl versprachen. Gerade von Brüssel, dem Zentrum der marokkanischen Migration in Europa, ist es kein großer Weg nach Köln und Nordrhein-Westfalen, wo zudem auch staatlicherseits Menschen aus dem Maghreb zusammengezogen wurden, da die Behörden hier bereits Erfahrungen mit der Migration aus Nordafrika gesammelt haben. Alteingesessene Migrationsgemeinschaften aus dem Rif wurden so in Nordrhein-Westfalen und Hessen mit vagabundierenden jungen Männer aus allen Teilen Marokkos konfrontiert, mit denen sie wenig gemein haben und mit denen sie nicht auf gemeinsame soziale Netzwerke rekurrieren können, um ihre Beziehung zueinander zu regeln.

Europäische Gesellschaften am Scheideweg

Der Gründer der Organisation Cap Anamur Rupert Neudeck hat kurz vor seinem Tod daran erinnert, dass die Integration der vietnamesischen Bootsflüchtlinge in der Bundesrepublik so reibungslos geschehen ist, weil die Menschen unverzüglich Zugang zur Gesellschaft bekommen haben und die Möglichkeit erhielten, eine Arbeit aufnehmen und ihr Leben gestalten zu können. Migrantinnen und Migranten wollen nichts geschenkt haben – aber sie wollen eine Chance bekommen. Wenn die Kinder von Einwanderern wieder "auswandern" ist die Integrationspolitik der europäischen Gesellschaften gescheitert. Nicht nur der Dschihadist Denis Cuspert, besser bekannt unter seinem Rappernamen Deso Dogg, hat nach der Konversion zum fundamentalistischen Islam Tod und Zerstörung in den Gesellschaften an der Süd- und Ostküste des Mittelmeers verbreitet. Nach seinem Aufbruch in die Kriegsregionen Nordafrikas und des Nahen Ostens veröffentlichte Cuspert das dschihadistische Kampflied "Wir sind ausgewandert" und vermischte religiöse Preisungen des Dschihadismus mit dem Klang des Krieges, um als Teil der Propaganda-Strategie des sogenannten Islamischen Staates Nachwuchs aus Europa zu rekrutieren. Es ist auffällig, dass Cuspert den jugendlichen Männlichkeitskult der Straße, den er als Berliner Rapper inszeniert hat, gegen den Männlichkeitskult des dschihadistischen Islam eingetauscht hat. Werner Schiffauer gehört zu den wenigen Migrationsexperten, die kreative Wege aufzuzeigen wissen, um diesem Männlichkeitskult über "problemorientierte Kooperation ohne Konsens" etwas entgegenzusetzen und dafür verschiedene Akteursgruppen zu integrieren. Denis Cuspert und die jungen Männer und Frauen, die zu Hunderten in den Krieg nach Syrien gezogen sind oder in Europa zu Attentätern werden, sind Kinder unserer europäischen Gesellschaften und müssen als solche angesprochen und herausgefordert werden.

Das Problem besteht weniger in der Tatsache, dass Menschen aus den Gesellschaften Nordafrikas und des Mittleren Ostens nach Europa kommen wollen, um hier zu leben, zu arbeiten und Schutz zu suchen. Tödliche Probleme entstehen erst, wenn die zunehmende Verflechtung euro-mediterraner Lebenswelten geleugnet und die Bewegung der Menschen nicht gestaltet und dadurch kontrollierbar gemacht wird. Die Fluchtbewegungen der vergangenen Monate und ihre Verquickung mit unterschiedlichen Arten der Migration und Wanderung verlangen nach angemessenen Antworten seitens der Aufnahmegesellschaften, die der Vielschichtigkeit und Pluralität der Migrationsstrategien Rechnung tragen müssen. Versuche der Abschottung in einer "Ära der totalen Mobilität" – so der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen Filippo Grandi – sind dabei zum Scheitern verurteilt. Die jüngsten Gewaltexzesse und Terroranschläge im euro-mediterranen Raum machen vor allem eines deutlich: Ein weiteres Scheitern in der Migrationspolitik können sich die europäischen Gesellschaften nicht leisten.

ist Juniorprofessor für Ethnologie an der Universität zu Köln. E-Mail Link: martin.zillinger@uni-koeln.de