Gezielte Tötungen. Auf dem Weg zu einer globalen Norm?
Wie globale Normen entstehen
Normen werden in den Internationalen Beziehungen definiert als "Standards angemessenen Verhaltens für Akteure mit einer gegebenen Identität".[4] Diese Definition führt die Dimensionen der Normativität und der Normalität von Normen zusammen: Als Ge- oder Verbote formulieren Normen Handlungsanweisungen, umgekehrt kann von damit verbundenen Verhaltensregelmäßigkeiten auf die jeweilige Norm geschlossen werden.[5]Die Bezeichnung "Norm" wird meist in Bezug auf ein Verhalten verwendet, das seiner Natur nach liberal ist, wie etwa der Schutz von Menschenrechten oder demokratische Verfahren. Auch die Normenforschung hat sich lange vornehmlich auf Menschenrechtsnormen beziehungsweise auf Normen bezogen, die staatliches Handeln einschränken.[6] Dabei bezieht sich die Definition von Normen aber in keiner Weise auf deren Inhalt. Immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fordern daher einen ausgewogenen Ansatz in der Normenforschung und eine Auseinandersetzung mit Praktiken, die weniger der "Wohlfühlsorte" angehören[7] – wie etwa gezielte Tötungen, die Menschenrechtsorganisationen und der juristischen Fachwelt Sorge bereiten.[8]
Dem Modell zur Herausbildung globaler Normen der Politikwissenschaftlerinnen Martha Finnemore und Kathryn Sikkink zufolge durchlaufen Normen einen "Lebenszyklus", der sich in drei Phasen gliedert:[9] Die Phase der Entstehung von Normen basiert auf einem kollektiven Problembewusstsein, das mitunter zunächst geschaffen werden muss. Hier kommt sogenannten norm entrepreneurs, die sich für eine Sache einsetzen und um die Unterstützung ihres Anliegens durch prominente Entscheidungsträger werben, eine zentrale Rolle zu. Mitunter greifen diese "Normunternehmer" dabei zu unkonventionellen Mitteln, um Aufmerksamkeit auf ihr Anliegen zu lenken und Druck aufzubauen. So begaben sich etwa nach dem Attentat auf einen LGBT-Club in Orlando im Juni 2016 Abgeordnete der Demokratischen Partei im US-Repräsentantenhaus im Zuge ihrer Bemühungen für eine Verschärfung der Waffengesetze in den Vereinigten Staaten in einen Sitzstreik;[10] ein weiteres Beispiel sind die heftigen Proteste in Indien nach der brutalen Gruppenvergewaltigung einer Medizinstudentin im Dezember 2012, um eine Veränderung bei den Geschlechternormen zu bewirken.[11] Haben sie die Aufmerksamkeit ihrer Zielgruppe geweckt, versuchen Normunternehmer, sie von der Legitimität ihres Anliegens zu überzeugen. Meist sind dabei diejenigen erfolgreicher, die nachvollziehbar aufzeigen können, dass die von ihnen verteidigte Praxis die bestehende Normenstruktur nicht wesentlich schädigen würde.[12]
Gewinnen die Normunternehmer einflussreiche Fürsprecher, die die neue Norm übernehmen und ihre Institutionalisierung auf internationaler Ebene vorantreiben, kommt es in der zweiten Phase, der Normkaskade, zur Verbreitung der neuen Norm. Immer mehr Staaten führen zur Steigerung ihres Ansehens und ihrer Legitimität die Norm auf nationaler Ebene ein, es werden bilaterale und möglicherweise auch internationale Abkommen geschlossen. Durch diese Institutionalisierung verfestigt sich der Status der Norm als solche. In der dritten Phase, der Internalisierung von Normen, ist die neue Norm schließlich breit akzeptiert bis hin zu einer Selbstverständlichkeit geworden.
Um auf Praktiken wie gezielte Tötungen anwendbar zu sein, die möglicherweise Menschenrechte verletzen könnten, muss dieses Modell modifiziert werden. Denn in einem solchen Fall werden Normunternehmer zunächst keine Aufmerksamkeit erregen wollen und sich vielmehr auf eine Rechtfertigung ihres Handelns konzentrieren, um etwaige Strafmaßnahmen zu kompensieren, anstatt sich proaktiv für die Schaffung einer neuen globalen Norm einzusetzen. Bei einem prominenten Akteur wie den Vereinigten Staaten werden andere Staaten und Akteure dennoch auf dieses Handeln und die entsprechenden Rechtfertigungen aufmerksam. Dadurch kann sich die Wahrnehmung der Angemessenheit einer Handlung verändern und ein Vorbild für den Einsatz und die wirksame Verteidigung einer Praxis entstehen. Dabei handelt es sich nicht um aktives, sondern um zurückhaltendes Normunternehmertum.
In der Tat: Mit Blick auf die Rechtfertigungen und Erklärungen für gezielte Tötungen auf der Grundlage von US-amerikanischem und internationalem Recht durch die US-Regierung unter US-Präsident Barack Obama bemerkt der Politikwissenschaftler Michael J. Boyle, sie hätten "den perversen Effekt gehabt, eine alternative Norm und ein alternatives Bündel rechtlicher Bedingungen zu begründen, auf die andere Staaten verweisen können, wenn sie gezielte Tötungen einsetzen".[13] Ob es sich nun um aktives oder zurückhaltendes Normunternehmertum handelt – hat es einmal begonnen, setzen die im Modell des Normenlebenszyklus beschriebenen Dynamiken ein. Gezielte Tötungen können also zur Norm werden, wenn die internationale Gemeinschaft die Praxis als zulässig erachtet.