Im Westen nichts Neues? Lateinamerikas internationale Beziehungen nach dem Ende des Rohstoffbooms
Die globalen Kontextbedingungen sowie die nationalen parteipolitischen Machtverhältnisse und Entwicklungen, die das Jahrzehnt der Regierungen der neuen Linken[1] in Lateinamerika ausmachten, sind derzeit im Wandel begriffen. Damit sind auch regionale Gewichtsverschiebungen und Veränderungen in den internationalen Beziehungen der lateinamerikanischen Staaten verbunden.Im Zuge des Rohstoffbooms und eines relativen Aufmerksamkeitsverlusts durch die historischen Partner USA[2] und EU zeigte Lateinamerika – insbesondere Südamerika – seit den 2000er Jahren ein zunehmendes Selbstbewusstsein in seinen Außenbeziehungen. Dieses schlug sich nicht nur im nationalistischen bis populistischen Diskurs vieler Regierungen nieder, sondern äußerte sich auch in der Verfolgung neuer eigener Konzepte, in wachsenden (sub-)regionalen Initiativen, in der Förderung von Süd-Süd-Kooperationen sowie allgemein in der Diversifizierung der Partnerstruktur und der Suche nach internationaler Autonomie. Während Argentinien und Mexiko regional wie global an Sichtbarkeit verloren, traten Brasilien und Venezuela durch ihren außenpolitischen Aktivismus besonders hervor.
Dennoch erfuhr das Muster der internationalen Einbindung Lateinamerikas in dieser Zeit keine grundlegende Veränderung. Beispielsweise konnte die Region weder ihre Wettbewerbsfähigkeit noch ihre Weltmarktintegration verbessern. Auch fand keine Vertiefung der kontinentalen Integrationsprozesse statt. Während sich der Gemeinsame Markt des Südens (Mercosur) erweiterte und politischer wurde, zeigten sich innerhalb der Andengemeinschaft (CAN) Auflösungstendenzen.[3] Zwar wurde eine Reihe neuer (sub-)regionaler Initiativen wie die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), die Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika (ALBA) und die Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC) ins Leben gerufen, substanzielle internationale Akteursqualitäten konnten sie jedoch nicht entfalten.[4] Sie fungieren vielmehr als lose Koordinierungsinstanzen mit relativ niedrigem Institutionalisierungsgrad.
Die tief greifenden politischen und ökomischen Krisen, in denen sich Brasilien und Venezuela zurzeit befinden, erzwingen deren Rückzug von der regionalen und internationalen Bühne. Vor diesem Hintergrund sowie angesichts des schrittweisen Machtverlusts der politischen Linken in den nationalen Exekutiven und Legislativen, der entsprechenden außenpolitischen Aktzentverschiebungen und des Abflauens des Rohstoffbooms drängt sich der Eindruck auf, dass ein spezieller Zyklus lateinamerikanischer Außenbeziehungen gerade zu Ende geht.
Rückenwind durch Rohstoffpreise
Die meisten Volkswirtschaften Lateinamerikas konnten vom Rohstoffboom, der ab 2000 einsetzte, stark profitieren.[5] Die erhöhte Nachfrage durch aufstrebende Märkte – allen voran China – nach Mineralien, Brennstoffen, Nahrungsmitteln und anderem mehr war begleitet von entsprechenden Preissteigerungen auf dem Weltmarkt. Da diese unverarbeiteten Produkte den Löwenanteil der Exporte vieler lateinamerikanischer Länder ausmachen, führte dieser Prozess wiederum zu einer bedeutenden Zunahme des Volumens und (noch stärker) des Gesamtwerts der Ausfuhren. Der Außenhandel wurde zum Motor des Wirtschaftswachstums (auch pro Kopf) und zur wichtigen Einnahmequelle lateinamerikanischer Staaten.[6]Diese Entwicklung zog zwei weitere Veränderungen nach sich: Während die Außenhandelsstruktur Lateinamerikas über die traditionellen Partner USA und EU hinaus um asiatische Länder ausgebaut und das Gewicht dahingehend verschoben wurde, nahm der Anteil der verarbeiteten Produkte unter den Ausfuhren ab. Mit der Diversifizierung der Handelspartner ging eine Konzentration der Exportgüter und zugleich eine Primarisierung der Exportpalette einher, das heißt, es wurden zunehmend unverarbeitete Rohstoffe ausgeführt. Dies wiederum bremste Industrialisierungsprozesse beziehungsweise kehrte sie teilweise sogar um. Dabei bewegte sich der lateinamerikanische Anteil am weltweiten Handel auf einem relativ stabilen Niveau (rund 6 Prozent), der jedoch eindeutig tiefer lag als der von Asien (rund 25 Prozent).[7]
In dieser Phase konnte Lateinamerika einen Überschuss in seinem Warenhandel mit dem Rest der Welt (auch den USA und der EU) verzeichnen. Die Handelsbilanz der lateinamerikanischen Länder gegenüber China, Japan und Südkorea wurde aber zunehmend negativ. Dies war eine Folge der generell steigenden asiatischen Marktdurchdringung in Lateinamerika, die in Südamerika zwar noch nicht sehr ausgeprägt, in Mexiko, Zentralamerika und der Karibik aber besonders stark ist.[8] Gerade dort wurde der nachteilige "China-Effekt" auf zwei weitere Weisen spürbar: Als Netto-Rohstoffimporteure sahen sich die zentralamerikanischen und karibischen Länder zum einen mit den durch die chinesische Nachfrage gestiegenen Rohstoffpreisen konfrontiert, zum anderen ist China ein direkter und mächtiger Konkurrent, wenn es um den Absatz der eigenen verarbeiteten Güter auf dem US-Markt geht. So wirkt sich das Engagement chinesischer Firmen insbesondere hinsichtlich der Handelsbeziehungen bis heute sehr unterschiedlich auf verschiedene Gegenden und Länder Lateinamerikas aus.
Entgegen großer Erwartungen, die durch Ankündigungen und umfangreiche Verträge geweckt wurden, haben sich die asiatischen Investitionen in der Region weniger dynamisch entwickelt. Auch diese konzentrieren sich im Rohstoffsektor, vor allem im Bergbau und der Soja-Branche. China investiert aber auch in die notwendige Infrastruktur (etwa Schienen, Straßen und Häfen), um sich Zugang zu den An- beziehungsweise Abbaugebieten zu verschaffen. Die ausländischen Direktinvestitionen (ADI) aus Asien erreichten 2014 rund 6 Prozent der gesamten ADI in Lateinamerika, ein Sechstel davon stammte aus China. Seine Rolle steht hier also im Schatten der traditionell wichtigeren Investoren für die Region: Niederlande (20 Prozent), USA (17 Prozent) und Spanien (10 Prozent).[9]
Insgesamt haben der Rohstoffboom und die Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Lateinamerika und China keine qualitativ höhere Eingliederung der Region in die Weltwirtschaft gebracht. Tatsächlich hemmte der einseitige Ausbau rohstoffbezogener Sektoren eine Steigerung der technologischen Fähigkeiten. Die Produktivitätskluft zwischen lateinamerikanischen und asiatischen Ländern ist nicht zuletzt dadurch größer geworden. In diesem Sinne reproduzieren die Wirtschaftsbeziehungen zwischen China und der Region das sogenannte Zentrum-Peripherie-Muster, bei dem Lateinamerika (Peripherie) auf die Rolle eines Rohstofflieferanten reduziert wird und vom Import von Industriegütern aus industriell höher entwickelten Ländern (Zentrum) abhängig bleibt.[10]