Einstellungen junger Menschen zur Demokratie. Politikverdrossenheit oder politische Kritik?
Das Verhältnis der Jugend zur repräsentativen Demokratie steht angesichts widersprüchlicher Signale wie Wahlabstinenz einerseits und neuen politischen Artikulationsformen wie Flashmobs und Online-Petitionen andererseits im öffentlichen Interesse: Wird die Jugend wieder politischer oder nimmt die Distanz zum parlamentarischen System zu? Wie steht die Jugend grundsätzlich zur Demokratie? Letzterer Frage ist dieser Beitrag gewidmet.Politikwissenschaftliche Analysen stellen oft das Verhältnis gerade der Jugend zur Politik in den Mittelpunkt, weil deren politische Orientierungen als zukünftige Träger der Demokratie wesentliche Determinanten für Stabilität und Funktionsfähigkeit sein können. Einen ersten empirischen Überblick vermittelt hier der Datenreport 2016:[1] Wie sind die Einstellungen der nachwachsenden Generation bezüglich zentraler Einstellungen zur Demokratie, und gibt es diesbezüglich Unterschiede zwischen den Menschen der "neuen" und der "alten" Bundesländer? Laut Datenreport halten jüngere Altersgruppen (18 bis 34 Jahre) etwas weniger stark als die älteren die Demokratie für die beste Staatsform. Dabei gibt es einen mäßigen West-Ost-Unterschied bei den Jüngeren (West: 79 Prozent, Ost: 74 Prozent), der viel schwächer ausgeprägt ist als bei den 35- bis 59-Jährigen (West: 87 Prozent, Ost: 65 Prozent). Bei den über 59-Jährigen liegt der Unterschied sogar bei 89 Prozent (West) zu 68 Prozent (Ost).
Ein etwas anderes Bild zeigt sich bei der Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie. Diese Einstellung bezieht sich weniger auf die Verfassungsnorm als vielmehr auf die wahrgenommene Wirklichkeit der Demokratie in Deutschland. In die Beurteilung dieser Verfassungsrealität können verschiedene Aspekte eingehen: das Funktionieren institutioneller Mechanismen (etwa der Austausch von Regierung und Opposition, die Gewährleistung der Gleichheit vor dem Gesetz), die Handlungen der Regierenden (etwa die Berücksichtigung von Interessen verschiedener Bevölkerungsgruppen, Amtsmissbrauch) und die Ergebnisse dieses Handelns (zum Beispiel wirtschaftliche und sozialpolitische Leistungen). Hier sind die Altersgruppenunterschiede geringer als die Ost-West-Unterschiede: 72 Prozent der Jüngeren und 78 Prozent der Älteren im Westen geben an, zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie zu sein. Dies geben im Osten lediglich 45 Prozent der Jüngeren und 49 Prozent der Älteren an.
Im Folgenden soll ein genauerer Blick auf die Einstellungen junger Menschen zur Politik und Demokratie geworfen werden. Empirische Basis ist eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) zum Thema "Jung – politisch – aktiv", in deren Rahmen zwischen Mai und Juli 2015 2075 junge Menschen an einer Online-Befragung teilgenommen haben.[2]
Einstellungen zur Demokratie
Politische Orientierungen sind wichtig für das Funktionieren eines politischen Systems. Die Orientierungen beziehen sich auf unterschiedliche politische Objekte (politische Gemeinschaft, Ordnung, Institutionen und Herrschaftsträger). Sie unterscheiden sich zu grundlegenden Werten der Demokratie, zur Demokratie als politisches Basisordnungsmodell der Gesellschaft, zum Funktionieren der Demokratie in der Praxis sowie zum Vertrauen in politische Institutionen und zu den Akteurinnen und Akteuren des politischen Systems. Empirisch ergibt sich dabei vom Allgemeinen hin zu konkreten Objekten des politischen Raums ein Bild, in dem die Zustimmungen der Bürger zumeist abnehmen: Die Demokratie als Herrschaftsmodell findet die breiteste Akzeptanz, geringer ist die Zufriedenheit mit der Praxis. Institutionen, die nicht unmittelbar mit dem politischen Prozess verbunden sind (etwa Gerichte und Polizei), genießen ein hohes Vertrauen; weniger Vertrauen haben die Bürger in die Institutionen der repräsentativen Demokratie (etwa Parlamente, Regierungen und Parteien). Am wenigsten Zustimmung erhalten schließlich Politikerinnen und Politiker als Akteure des politischen Systems.[3]Auch bei jungen Menschen nimmt die Zustimmung vom Allgemeinen hin zu konkreten Objekten ab (Tabelle 1). Die Zustimmung zur Idee der Demokratie ist eindeutig dominant, ablehnende Bewertungen sind selten.[4] Mit dem Funktionieren der Demokratie in der Praxis der Bundesrepublik sind weniger Menschen zufrieden, wenngleich immer noch die Mehrheit der Befragten. Das geringste Vertrauen wird den parteienstaatlichen Institutionen entgegengebracht – insbesondere Parteien. Wie Erwachsene vertrauen auch die jüngeren Menschen am wenigsten den Politikern, auch wenn der Abstand zu den parteienstaatlichen Institutionen nicht wesentlich ist. Hingegen ist das Vertrauen in die Institutionen des Rechtsstaats deutlich höher. Hierzu gehören insbesondere Gerichte und Polizei. Das Vertrauen in die EU ist vergleichsweise geringer.
Die Hierarchie der Bewertungen von politischen Objekten konnte bereits im Jugendsurvey 2003 des Deutschen Jugendinstituts (DJI) herausgestellt werden, sogar die Größenordnungen der Werte sind ähnlich.[5] Allerdings hatte sich in den früheren Studien (etwa 1992, 1997 und 2003) noch eine stärkere Differenz zwischen West- und Ostdeutschland – vor allem bei der Zufriedenheit mit der Demokratie, teilweise sogar bei der Zustimmung zur Idee der Demokratie – gezeigt. Dies wurde im Kontext der Wiedervereinigung und der ökonomisch und politisch schwierigen Angleichungsprozesse interpretiert. Solche Unterschiede bei zentralen politischen Einstellungen scheinen nach den Daten der FES-Jugendstudie 2015 nicht mehr vorhanden zu sein.[6]
Insgesamt kann festgehalten werden, dass bei jungen Menschen die Bewertung des Ideals der Demokratie fast gänzlich positiv ausfällt. Kritische Einstellungen gegenüber Institutionen und politischen Akteuren sind vorhanden, können aber nicht als grundlegende Politik-Ablehnung interpretiert werden. Eine Krise der Demokratie, in deren Hintergrund Präferenzen für autoritäre oder radikal-undemokratische Regierungssysteme lauern, ist bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland nicht zu erkennen.
Kritische Demokraten – eine Typologie
Die Politikwissenschaftlerin Pippa Norris wies auf den Tatbestand hin, dass eine Unzufriedenheit mit der Performanz demokratischer Institutionen durchaus mit einer gleichzeitigen Befürwortung des Demokratieprinzips einhergehen kann. Eine solche Haltung müsse folglich nicht als generelle Ablehnung von Demokratie und als eine Präferenz für autoritäre Strukturen zu verstehen sein. Bürger mit dieser Haltung bezeichnet sie als "critical citizens".[7] Diese Spannung lässt sich als zusätzlich bedeutsames Element politischer Einstellungen bestimmen. Der Politikwissenschaftler Hans-Dieter Klingemann interpretiert insbesondere die Kombination von Unzufriedenheit mit der Leistung oder der Form des politischen Systems und der Zustimmung zu demokratischen Werten als mögliche Antriebskraft für Reformen politischer Verhältnisse.Je nach Orientierung gegenüber dem Ideal der Demokratie (weniger dafür beziehungsweise dagegen) und nach der Bewertung der Realität der Demokratie im eigenen Land (weniger zufrieden beziehungsweise unzufrieden) lassen sich aus der Kombination drei relevante Typen bestimmen: die "zufriedenen Demokraten" (in beiden Dimensionen positive Einstellung), die "Distanzierten" (in beiden Dimensionen negative oder zumindest skeptische Einstellung) und die "kritischen Demokraten".[8]
Möchte man dem Konzept der "kritischen Demokraten" eine konstruktive Rolle zuschreiben, gilt es weiter zu differenzieren. Die Akzeptanz des Ideals der Demokratie, verbunden mit einer Unzufriedenheit mit den realen demokratischen Prozessen kann nämlich aus unterschiedlichen Motivlagen heraus erfolgen: eine, die mit einer eher kritischen Wachsamkeit gegenüber den wahrgenommenen Unzulänglichkeiten der erfahrenen Demokratie einhergeht, und eine mit eher passiven, resignativ-unzufriedenen Haltungen gegenüber der Politik "da oben". Die Politikwissenschaftlerin Brigitte Geißel hat die Typologie daher weiter verfeinert: Sie unterscheidet zwischen einer Realitätsbewertung (Zufriedenheit beziehungsweise Unzufriedenheit) und einer normativen Verhaltensdisposition (Kritikbereitschaft beziehungsweise Nichtkritikbereitschaft). Letztere umfasst eine normative Vorstellung im Hinblick auf kritisch-verbales oder auch aktives Handeln in Situationen, in denen Ungerechtigkeit oder Angriffe auf die Demokratie wahrgenommen werden. Während die unzufriedenen Demokraten ohne Kritikbereitschaft bei Merkmalen wie politisches Verständnis oder Partizipationsbereitschaft unterdurchschnittliche Werte hatten, waren die kritikbereiten unzufriedenen Demokraten stärker politisch kognitiv involviert und partizipationsbereit und haben deshalb Potenzial für demokratisches Engagement.[9]
Die Aufteilung in Kritisch-Aktivitätsorientierte und Passiv-Unzufriedene bietet sich für unsere Analysen ebenfalls an. Im Folgenden werden als "kritische Demokraten" diejenigen bezeichnet, die die Idee der Demokratie befürworten, mit der Realität unzufrieden sind, jedoch stark politisch interessiert sind und/oder ein ausgeprägtes Politikverständnis aufweisen. Von diesem Typus wird konstruktive Kritik und politische Motivation erwartet, weshalb ihm ein besonderes Interesse entgegengebracht wird. Bürger, die der Idee der Demokratie zustimmen und dabei gleichzeitig die genannten kognitiven Merkmale nicht erfüllen, werden als "unzufriedene Demokraten" bezeichnet.