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Karl Marx: Bildnis und Ikone | "Das Kapital" | bpb.de

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Karl Marx: Bildnis und Ikone

Beatrix Bouvier

/ 17 Minuten zu lesen

Im Zusammenhang mit dem Start des Kinofilms "Der junge Karl Marx" ist der Hauptdarsteller August Diehl auch nach seiner Annäherung an diese bedeutende Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts gefragt worden: Wie kann man sich auf eine solche Rolle vorbereiten? Welches Bild hat man im Kopf, und welches wird evoziert? Dies umso mehr, wenn man von der Allgegenwärtigkeit des "Rauschebartes" ausgeht, der uns in fast jeder Form der Beschäftigung mit Karl Marx begegnet, Werbung und Karikatur eingeschlossen. Der junge Marx, darauf wies der Schauspieler hin, ist jedoch bildlich ein recht unbekanntes Wesen. Es sei zudem an der Zeit, den uns im Kopf spukenden Marx von all dem zu befreien, was vornehmlich seit dem 20. Jahrhundert auf ihm laste und was wir damit verbinden. Das ist dem Film gelungen, auch wenn es schwer sein dürfte, das allgemein bekannte Bild zu verdrängen. Zu sehr ist es Teil des kollektiven Gedächtnisses. Wie kam es dazu?

Politische Ikonografie

Abbildung 1: Letzte bekannte Marx-Fotografie, Algier, Februar 1882 (© picture-alliance/dpa)

In der Tat wissen wir wenig über das Aussehen des jungen Marx, vieles ist Beschreibungen, späteren Zuschreibungen und noch mehr der Fantasie geschuldet. Auch der alte Mann, der sich noch einmal fotografieren ließ, ehe er sich auf seiner letzten Reise in Algier den Bart abrasieren ließ, ist wenig bekannt (Abbildung 1). Es gehört auch nicht zum Allgemeinwissen, dass die Anzahl der überlieferten Fotografien von Karl Marx begrenzt ist. Auf ihnen basieren alle anderen bildlichen Darstellungen, die des 20. Jahrhunderts in den unterschiedlichsten Ausprägungen eingeschlossen. Die Fotografien machten Karl Marx bereits zu Lebzeiten auch visuell bekannt und wurden grundlegend für die "Ikone" – wenn man diese Bezeichnung auf ein Bild von Karl Marx und seine weltweite Verbreitung anwenden will. Sie stammen aus den Jahrzehnten, die Karl Marx und Friedrich Engels, die Familie Marx eingeschlossen, nach der Flucht vom europäischen Festland in England verbrachten, wo sie bis an ihr Lebensende blieben.

Deren Geschichte ist noch nicht endgültig geschrieben, auch ist es denkbar, dass noch weitere Bilder auftauchen. Die heute bekannten etwa 15 Fotografien zeigen Karl Marx allein, gelegentlich mit Friedrich Engels oder auch Marx mit seinen Töchtern. Eine Fotografie, die ihn zusammen mit seiner Frau Jenny oder beide mit den drei Töchtern zeigt, gibt es darunter nicht. Diese Thematik – das fehlende Familienporträt – wurde später, insbesondere im 20. Jahrhundert, möglicherweise als Mangel empfunden und als Narrativ über das Leben von Karl Marx Künstlern zur Gestaltung überantwortet. Wichtige Anlässe dafür waren beispielsweise die Ausgestaltung von Museen, die mit einer wiederbelebten Historienmalerei die Geschichte der eigenen Bewegung und ihrer Ahnherren oder "Helden" in anschaulicher Form präsentierten, auch um den Mangel an anderen Quellen auszugleichen. Hinzu kamen Jubiläen wie runde Geburts- oder Todestage, was seinen Niederschlag auch in zahlreichen Darstellungen, auf Münzen und Briefmarken fand. Vor allem der 100. Todestag 1983 wurde weltweit begangen.

Die Fotografien entstanden teils in London, teils an anderen Orten, beispielsweise in Hannover im Zusammenhang mit Reisen des staatenlosen Karl Marx auf den Kontinent, etwa zur Drucklegung seines Werks "Das Kapital". Über die Anzahl der jeweils angefertigten oder nachbestellten Abzüge liegen lediglich Vermutungen vor. Andeutungen in Briefen lassen allerdings darauf schließen, dass man von einer größeren Anzahl ausgehen kann. Fotos waren ein beliebtes Andenken, sogar eine Art moderne Reliquie; im Fall von Karl Marx dienten sie auch als Vorlagen für Zeichnungen und Stiche, die in Zeitungen Verwendung fanden. Damit sind es diese Fotos, die unser "Bild" von Karl Marx geprägt haben, denn, soweit bekannt, hat er kein Porträtgemälde von sich in Auftrag gegeben, wie dies im 19. Jahrhundert üblich war. Das mag mehr den äußeren Lebensumständen und dem Geldmangel geschuldet gewesen sein als der grundsätzlichen Ablehnung des Genres. Gleichwohl ist auch denkbar, dass zu seinen Lebzeiten die meisten Künstler ihrerseits sowohl seiner Lebenssphäre als auch seiner Weltanschauung fern waren.

Der ikonografische Blick auf Karl Marx führt zu der Frage, wie denn jenes "Bild" entstanden ist, das wir im Kopf haben und stets wiedererkennen und das sich bereits Zeitgenossen und dann Nachgeborene mehrerer Generationen gemacht haben. Auf welcher Basis formte sich durch Bildnisse und Bilder die bildliche Vorstellung, die so unverrückbar erscheint? Wie schon eingangs im Zusammenhang mit dem Spielfilm "Der junge Karl Marx" angedeutet, ist der junge Marx ein – optisch gesehen – wenig bekanntes Wesen. Schon die Kindheit und Jugend in Trier sind in Bildern nicht zu fassen. Erzählungen aus und über diese Zeit bleiben spärlich und anekdotisch. Früh schon erhielt er den Spitznamen "Mohr", was als Hinweis auf sein Aussehen, den dunklen Teint, seine schwarzen Haare und den schwarzen Bart, gedeutet wird. Nicht nur zahlreiche Briefe und Erinnerungen belegen diesen Spitznamen, berühmter wurde er im 20. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum durch das Kinderbuch "Mohr und die Raben von London", das zusammen mit der gleichnamigen Verfilmung von 1968, dem 150. Geburtstag demnach, das "Bild" von Marx mitprägte, weil es ihn auch bildlich fassbar machte. Ob der Film über den jungen Marx in ähnlicher Weise ein "Bild" prägen wird oder dies kann, bleibt abzuwarten.

Beginn des öffentlichen Wirkens

Abbildung 2: Karl Marx als Student, Zeichnung um 1836 (© picture-alliance/dpa)

Als erstes sozusagen "authentisches" Porträt gilt bislang eine Lithografie der "Trierer" von David Levy-Elkan von 1836, das die "Trierer Landsmannschaft" zeigt, eine Studentenverbindung, der Karl Marx während seines Bonner Studienjahres angehörte. Problematisch bleibt, dass eine Zuordnung der Personen auf diesem Gruppenbild durch einen ehemaligen Studenten erst über 50 Jahre später erfolgte. Neuerdings ist noch eine Bleistiftzeichnung eines Bonner Kommilitonen aus dieser Zeit aufgetaucht (Abbildung 2). Somit sind es neben einem romantischen Jünglingsbild spätere Erinnerungen und Imaginationen sowie schriftliche Zeugnisse, die Aufschluss über das Aussehen vor den überlieferten Fotografien geben. Passangaben oder Beschreibungen in Spitzelberichten datieren erst ab 1844, als Marx sich im Ausland aufhielt. Sie fallen damit in eine Zeit, als er bereits eine öffentliche Person geworden war.

Der Beginn des öffentlichen Wirkens von Karl Marx ist markiert durch seine aufsehenerregende und doch nur kurze Zeit als Chefredakteur der liberalen "Rheinischen Zeitung" in Köln. Deren Verbot wurde durch eine im 19. Jahrhundert weit verbreitete Lithografie des angeblich Marx symbolisierenden gefesselten Prometheus allegorisiert. Obwohl Marx nicht im Porträt erscheint, wird dies suggeriert, verstärkt möglicherweise durch eine innere Wahrnehmung und unbewusste Konnotation. Auch wenn wir nicht genau wissen, wie der Bartträger Marx genau ausgesehen hat, so ergibt eine Schnittmenge aller schriftlichen Beschreibungen für den jüngeren Marx (vor den bekannten Fotografien) das Erscheinungsbild eines Mannes von knapp über 1,70 Meter Größe und gedrungener Gestalt. Übereinstimmung herrscht auch darin, dass Marx einen der Mode der Zeit entsprechenden Vollbart trug, dass Haare und Bart zunächst tiefschwarz waren, sich die Haare doch bald schon nach der Revolution von 1848/49 grau zu färben begannen, nicht hingegen der Bart.

Kaum zu trennen davon waren Beschreibungen und Erinnerungen zur Wirkung der Persönlichkeit, die je nach Freund-Feind-Standpunkt mit positiven oder negativen Attributen versehen waren. Geschildert wird schon der junge Marx als ein selbstsicher auftretender Mann, der seine Argumente durch eine eindrucksvolle Gestik unterstrich und offensichtlich Energie, Willenskraft und eine unbeugsam wirkende Überzeugung ausstrahlte. All diesen Beschreibungen entspricht eine wenig bekannte Karikatur mit dem Titel "Freiheit der Meinung" in den "Fliegenden Blättern" aus dem Revolutionsjahr 1848, die Marx namentlich nicht nennt, ihn aber ohne Zweifel mit erhobener Faust zeigt. Die ihm zugeschriebenen Äußerungen zeigen vor allem die Ängste des Bürgertums vor dem virulenten sozialistischen Gedankengut, das in einer Person – unverkennbar Marx – gebündelt präsentiert wird.

Die Tatsache, dass wir den gezeichneten und karikierten Redner als Karl Marx identifizieren können, mag man mit unserer Kenntnis der Fotos und der später daraus entstandenen bildlichen Darstellungen, mit unserem "Bild im Kopf" erklären. Wenn aber zeitgenössisch, das heißt während der Revolution 1848/49, der Name unerwähnt bleibt, so liegt die Vermutung nahe, dass er zu dieser Zeit eine bekannte öffentliche Person war, so bekannt eben über die Grenzen seiner Wirkungsstätte Köln hinaus, dass es einer namentlichen Erwähnung nicht bedurfte. Jedenfalls nicht in diesem Revolutionsjahr. Die Frage, ob er in den Jahren danach – bildlich gesehen – in Vergessenheit geriet, jedenfalls im ihn 1848 so fürchtenden deutschen Bürgertum, muss offenbleiben. Die Obrigkeit jedoch behielt ihn auch weiterhin im Auge. Spitzelberichte zeugen davon.

Friedrich Engels und die PR-Arbeit

Es sind dann die Fotografien, die Karl Marx schon zu Lebzeiten – auch optisch – bekannt machten und grundlegend blieben für unser "Bild im Kopf". Sie wurden gezielt in Auftrag gegeben. Es war das damals neue Medium, und Karl Marx, seine Familie und Friedrich Engels nutzten es. Und der Freund Wilhelm Liebknecht nahm es in seinen Ende des 19. Jahrhunderts verfassten Erinnerungen an Karl Marx für eine Hommage in Anspruch, die bis zu einem gewissen Grad bereits in den Bereich der Apotheose gehört, wenn er meinte, bei Marx habe es weder Posen noch Schauspielerei gegeben. "Von Marx kenne ich keine schlechte Photographie. Alle geben ihn richtig, weil er selbst sich stets richtig gegeben hat." Wir wissen nicht, welche Fotografien, Zeichnungen oder sonstige Abbildungen Wilhelm Liebknecht vor Augen hatte, als er diese Erinnerungen wenige Jahre vor seinem Tod schrieb. Und wie diese Bilder sich mit den Erinnerungen an gemeinsame Londoner Jahre deckten oder vermischten. Zu viele Jahrzehnte lagen dazwischen. Karl Marx war seit vielen Jahren tot und in und mit seinem "Bild" längst ritueller Bestandteil der Arbeiterbewegung in Gestalt der deutschen Sozialdemokratie geworden. Er war eine ihrer Ikonen.

Von Anfang an ging die Verbreitung der Fotografien im Kontext der Kommunikation und Briefkultur über den reinen Privatcharakter hinaus. So fand eine Serie von Fotos weite Verbreitung, die in Hannover entstanden war, als Marx die Drucklegung von "Das Kapital" vorbereitete und ein Foto dann mit dem Werk zusammen verschickt wurde. Die Kommentare der Töchter zeigen – ungeachtet von emotionaler Überhöhung –, dass es nicht nur um Binnenwirkung in der Familie ging, sondern zugleich um Außenwirkung, nicht zuletzt bei tatsächlichen oder vermeintlichen Feinden. Mit und nach dem Erscheinen von "Das Kapital" wuchs Marx’ wissenschaftliche Reputation und mit ihr die Nachfrage nach Bildern. Das Werk selbst sollte rezensiert und rezipiert werden, biografische Notizen mit einem Bild schienen förderlich. Die französische Ausgabe mit einem Porträtstich auf der Basis eines Fotos folgte. Es war immer wieder Friedrich Engels, der auf den Nutzen der PR-Arbeit verwies. "Diese Art Reklame dringt dem Philister in seinen tiefsten Busen. Gib ihm also ja alles, was er dazu braucht." Und er glaubte in Marx’ Sinn zu handeln, wenn es ihm darauf ankam, dass das Buch und Marx – auch bildlich gesehen – nicht totgeschwiegen wurden, dass nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch in französischen Zeitungen berichtet wurde. Marx ließ es geschehen.

Die in Hannover entstandenen Fotografien waren auch in der Familie beliebt, und sie wurden mehrere Jahre lang verwendet und durch eine weitere Serie 1872 ergänzt. Als sich schließlich der Einsatz der weithin bekannten Fotos mehrte, weil sie zur Grundlage von Zeichnungen und Stichen wurden, markierte dies einen frühen Höhepunkt der Marx-Ikonografie. Wenn man dafür eine Jahreszahl nennen möchte, so müsste man das Jahr 1871 zugrunde legen. Das hängt mit der im Gefolge des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 proklamierten Pariser Kommune von 1871 zusammen; vor allem mit der Rolle, die Marx dabei zugewiesen wurde. Im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit im Generalrat der Internationalen Arbeiter-Assoziation hatte er nach der blutigen Niederschlagung des Kommune-Aufstandes eine flammende Verteidigungsschrift verfasst. Unter dem Namen "Bürgerkrieg in Frankreich" wurde sie bekannt und ihr Verfasser von den konservativen Regierungen Europas und der entsprechenden Presse zu einem der Hauptschuldigen und "Anführer" gemacht. Es war dann eine Falschmeldung über seinen Tod, die im Frühherbst 1871 für Aufregung und Nachrufe sorgte und die Nachfrage nach Bildern anschwellen ließ.

Karl Marx war nun bekannt und wollte – zusammen mit Friedrich Engels und seiner Familie – die weitere "Inszenierung" seiner Person wenigstens beeinflussen. Die Auswahl der Bilder war deswegen ebenso wichtig wie gesteuert, sodass dieser Prozess in eine Art Kanonisierung der Bilder mündete. Flankiert wurde dieser Prozess hin zur bildlichen Festlegung schon zu Marx’ Lebzeiten von schriftlichen "Lebensbildern" und "Würdigungen" in Nachschlagewerken und Lexika. Sofern sie von Friedrich Engels geschrieben worden waren, dürften sie nicht ohne Absprache und Billigung entstanden sein. Wenn sie zudem später die Grundlage von Nachrufen und postumen Würdigungen wurden, sollten sie Marx den Platz in der Geschichte und nicht zuletzt in der Wissenschaft sichern.

Kanonisierung nach Marx’ Tod

Dem "Bild", das auf diese Weise von Marx zu Lebzeiten und vor allem bei seinem Tod mit Worten gezeichnet wurde, entsprach – und sollte wohl auch entsprechen – das "Bildnis" in Form von Zeichnungen und Fotos, das diese Sicht nicht nur unterstreichen, sondern prägen sollte. Zentral dafür war die Fotoserie aus dem Jahr 1875, ein Bild mit Varianten, das um die Welt ging. Schon zu Lebzeiten hatte Marx auch dieses Foto mit Widmungen verschickt. Doch die Kanonisierung des Bildnisses mit gerade diesen Fotos erfolgte nach seinem Tod im März 1883. Friedrich Engels hatte Anfragen aus aller Welt erhalten und bestellte 1200 Abzüge, um sie Zeitungen und Sozialisten in aller Welt zur Verfügung zu stellen. Er begründete die Auswahl damit: "Es ist die letzte, beste Aufnahme, wo der Mohr ganz in seiner heitern, siegsgewissen olympischen Ruhe erscheint." Diese Bildauswahl durch Friedrich Engels hatte Auswirkungen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein, bis heute eigentlich. Es ist immer wieder diese Fotovorlage, die das Bildnis von Karl Marx – in sehr unterschiedlichen ästhetischen Formen – zu der Ikone macht, die wir vor Augen und zugleich im Kopf haben.

Das "Bild" von Karl Marx war also schon zu Lebzeiten festgelegt, endgültig dann mit seinem Tod und verbreitete sich danach in der Arbeiterbewegung, der deutschen und der internationalen. Freilich war Marx in der durch das Sozialistengesetz (von 1878 bis 1890) unterdrückten und sich danach zur Massenpartei entwickelnden deutschen Sozialdemokratie nicht die einzige Ikone. Das entsprach ihrer Entstehung und Entwicklung, dem Nebeneinander unterschiedlicher Traditionen, aber keineswegs dem Selbstverständnis von Marx und auch nicht dem "Bild", das Engels schon zu Lebzeiten gezeichnet und mit der Fotoserie von 1875 festgelegt hatte. Im frühen Marxismus wurde er in einer Art religiöser Semantik zum "Erlöser" und mit entsprechenden Sinnbildern auf der Basis des Fotos von 1875 dargestellt. Anders als in den frühen 1870er Jahren, in denen Marx nach dem Erscheinen von "Das Kapital" als Wissenschaftler hervorgetreten und selbst politisch Handelnder war und in Presse und Publizistik mit seinem Bildnis hervorgetreten war, wurde das Bildnis dann in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg Bestandteil der Alltagskultur der Arbeiter.

In dieser Welt – schon damals auch eine Bilderwelt – war Marx präsent und zugleich räumlich entrückt. Er war in seinen letzten Lebensjahren nicht mehr unmittelbar politisch handelnd und nicht Teil des praktischen Parteilebens, das sich in gewisser Weise in der Alltagskultur widerspiegelte. Er hatte im fernen London gelebt, war aber durch sein Porträt auf Stickbildern, Krügen, Schalen, Postkarten, Gedenkblättern ebenso allgegenwärtig wie frühzeitig durch Büsten. Sie schmückten und umrahmten die Veranstaltungen nicht nur, sondern enthielten dadurch auch eine politische Botschaft. Doch eines ist nicht zu vergessen: Marx’ Bild erscheint in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg meist zusammen mit dem Konterfei anderer Arbeiterführer, den Gründervätern der Sozialdemokratie, neben August Bebel vor allem dem von Ferdinand Lassalle. Schaut man zurück, so haben weder einstige "Ikonen" noch spätere oktroyierte "Partei-Ikonen" überdauert; Marx schon, wenn auch mit Schwankungen.

Marxismus-Leninismus als Staatsideologie

Mit dem Kommunismus an der Macht und der herrschenden Ideologie des Marxismus-Leninismus, den Stalinismus eingeschlossen, entstanden neue und andere Formen der Marx-Ikonografie, auch wenn in den kantigen und nicht selten starren Konturen das Porträt von 1875 erkennbar bleibt. Dennoch gab es mehr als die allgegenwärtige Dreier- beziehungsweise Vierer-Ikone. Ein neues Geschichtsbild wurde propagiert, das auf einer Lehre beruhte, die Marx in Anspruch nahm. Das reine Porträt reichte nicht, um Lebensgeschichte, Beziehung zu anderen Menschen, Umfeld und Ereignisse so darzustellen, dass sie einem breiteren Publikum verständlich wurden. Die Historienmalerei war ein Weg, den sowohl die Sowjetunion als auch die DDR später beschritten, um Karl Marx in den gewünschten Kontexten bildlich zu präsentieren. Einige dieser Bilder fanden Eingang in die Schulbücher der DDR, wo sie über die Jahrzehnte immer wieder abgebildet wurden und in vielen Köpfen die anschauliche Vorstellung von Marx prägten.

Es war in der jungen Sowjetunion, wo schon frühzeitig ein wahrer Bilderkult um Marx entstand, wo er, "der Idolatrie und Götzendienst in all seinen Verlaufsformen geißelte und lächerlich machte, selbst zum Objekt einer fast byzantinischen Bilderverehrung" wurde. Sichtbarer Ausdruck dessen und lange in Gebrauch war beispielsweise das weitverbreite Motiv der drei Köpfe (mit Stalin vier), was auch in Anlehnung an die christliche Dreifaltigkeit zu verstehen war und später in ironischen Verwandlungen des Motivs anklang. Dies gilt auch für die Monumentalisierung, die sich ebenfalls frühzeitig entwickelte. Ein erstes – nicht erhaltenes – Marx-Engels-Denkmal wurde von Lenin bereits 1918 zum Jahrestag der Oktoberrevolution enthüllt. Eine besondere Ausprägung erhielt der Monumentalismus nach dem Tode Lenins, als man diesen wie einen Pharao mumifizierte, sodass dieser spezifische Bilderkult um Marx ohne Lenin und Stalin heute nicht denkbar ist. Die Denkmalsetzungen waren dann sowohl in der Sowjetunion als auch später in der DDR ehrgeizige Vorhaben, verbunden auch mit dem Bestreben, eigene symbolische Orte zu schaffen. Sie wurden durchaus auch als Provokation empfunden und hatten später an manchen Orten einen Denkmalstreit zur Folge.

Wenn Friedrich Engels nach Marx’ Tod dessen Porträt "weltweit" verschickte, so war diese Welt die des späten 19. Jahrhunderts, bis zum Ersten Weltkrieg auch die der Zweiten Internationale, in der sich sozialistische Parteien auf Kongressen trafen. Und Karl Marx war eine ihrer Ikonen. Es war nur folgerichtig, dass er weltweit nicht nur bekannt wurde, sondern dann im 20. Jahrhundert sein Gedankengut in sehr unterschiedlicher Weise in Anspruch genommen wurde und noch wird. Dort, wo der Marxismus-Leninismus als Staatsideologie übernommen wurde, wurde auch die Ikone Marx staatsoffiziell und quasi unantastbar. In dem Maße, in dem Bildnis und Ikone nicht mehr nur Bestandteil der politischen Propaganda und Teil einer gelegentlich exotisch anmutenden Alltagskultur waren, verwandelten sie sich auch ins Repräsentative. Das Bildnis schmückte offizielle Gastgeschenke, wurde zur Auszeichnung in Form von Medaillen oder Orden, zierte Briefmarken und Münzen – auch in der alten Bundesrepublik gab es ein entsprechendes fünf-Mark-Stück. Gerade daran kann man die unterschiedlichen Anlässe besonders gut ablesen, die zu Konjunkturen der Bildverbreitung führten. Und eben auch zur weltweiten Verbreitung des immer wiederkehrenden Porträts, modifiziert durch wenige andere anlässlich von Jubiläen wie die Erinnerung an das Erscheinen zentraler Werke. Als bislang wichtigste Jubiläen gelten der 150. Geburtstag 1968 und der 100. Todestag 1983.

Beide Jahrestage fanden noch in einer bipolaren Welt statt, was Auswirkungen auf die Konnotationen hatte, die freilich auf der gleichen Bildauswahl basierten. Dass im Westen der 150. Geburtstag mit der Studentenbewegung zusammenfiel und somit in ihrem Gefolge die Beliebtheit der Ikone Marx wuchs, hatte freilich auch einen anderen – zumindest ästhetischen – Umgang mit dem Bildnis zur Folge. Unzählige Flugblätter, Plakate und Logos sind überliefert, nicht selten kombiniert mit den altbekannten Vierer- oder Dreier-Ikonen und ebenso häufig ironisch verfremdet. Dem stand die sicher unfreiwillige Komik einer fast inflationären auch bildlichen Marx-Verehrung beispielsweise in der DDR gegenüber. Beides führte im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1989/90 zu zahlreichen ironischen Bildkommentaren, die ihrerseits Kult wurden. Diese Form des vor allem ironischen Umgangs wurde vor und nach 1989 auch in der Werbung aufgegriffen. Auch im Netz begegnet uns das Porträt von Karl Marx auf vielfältige Weise, aber immer erkennbar. Zahlreiche Videos und Clips drehen sich um Marx und seine Philosophie, um die Bedeutung für die heutige Zeit oder aber es sind Parodien und Sketche nach Art von Monty Python. Doch das Marx-Bild oder die Bilder sind die, die längst im "öffentlichen Bildgedächtnis verankert sind".

Bild-Ikone bis heute?

Abbildung 3: Wandteppich mit Porträts von Marx, Engels und Lenin, Bangladesch, vermutlich 1974 (© Deutsches Historisches Museum, Berlin/S. Ahlers)

Die Ikone Karl Marx verschwand keineswegs aus dem öffentlichen Gedächtnis. Was verschwand, war der oktroyierte Marx, nicht aber die Ikone und noch viel weniger die "Ikone im Kopf". Karl Marx sei heute "in den Köpfen" zu finden, sagte der Politikwissenschaftler Iring Fetscher in den "Deutschen Erinnerungsorten". Das könnte man dahingehend erweitern, dass schon das Bild von Karl Marx, Porträts auf der Basis der Fotografie von 1875, Vorstellungen evoziert, die etwas mit den Ideen von Karl Marx zu tun haben. Eine zentrale Frage ist, in welcher Gesellschaft wir leben und in welcher wir leben wollen. Karl Marx oder allein sein Porträt erinnern uns daran, dass es Analysekategorien gibt, das zu begreifen und ändern zu wollen. Es ist sowohl das Porträt selbst als auch die damit verbundene Bildsprache, die weltweit bekannt sind und verstanden werden.

Wenn der eingangs angeführte Film über den jungen Marx einen unbekannten Marx in den Vordergrund stellt, so bleibt die Frage, ob er das im Bildgedächtnis verankerte Porträt wird verdrängen können. Sicher ist es immer wieder nötig, daran zu erinnern, dass Marx vielfältiger war, war er doch Universalgelehrter, Journalist, Politökonom und Revolutionär zugleich. Dennoch wird er immer wieder auf dieses eine Bild – eben auch als "Bild im Kopf" mit zumindest assoziativen Inhalten – reduziert werden. Es mag inflationär verwendet werden, Souvenirs aller Art schmücken, den Tourismus befördern und zur Entideologisierung beitragen, entpolitisieren kann dieses Bild Marx nicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Auch die große Landesausstellung, die für den 200. Geburtstag im Jahr 2018 unter dem Titel "Karl Marx. 1818–1883. Leben. Werk. Zeit." in Trier vorbereitet wird, bedient sich in ihrer Werbung und bei allen Logos des Wiedererkennungseffektes des allgegenwärtigen Bildes, auch wenn sie vom Inhalt her ein anderes, ein "neues" Marx-Bild vermitteln will: ein Bild, das ihn vornehmlich im 19. Jahrhundert verortet und verständlich machen will, ohne zu ignorieren, was im 20. Jahrhundert geschehen ist und wofür Zusammenhänge mit seinen Ideen hergestellt wurden.

  2. Der Beitrag basiert im Wesentlichen auf den Inhalten der Ausstellung "Ikone Karl Marx". Ausführlich dazu: Elisabeth Dühr (Hrsg.), Ikone Karl Marx. Kultbilder und Bilderkult, Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum Simeonstift Trier, 17.3.–18.10.2013, Regensburg 2013.

  3. Vgl. Boris Rudjak, Die Photographien von Karl Marx im Zentralen Parteiarchiv des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, in: Marx-Engels-Jahrbuch, Bd. 6, Berlin (Ost) 1983, S. 293–310.

  4. Als Überblick dazu Beatrix Bouvier, Karl Marx. Vom Bildnis zur frühen Ikone, in: Dühr (Anm. 2), S. 11–19.

  5. Vgl. Manfred Kliem, Karl Marx. Dokumente seines Lebens, Leipzig 1970, S. 17.

  6. Ilse Korn/Vilmos Korn, Mohr und die Raben von London, Berlin (Ost) 1962. Aufgrund der Popularität erschien 2000 eine Neuauflage.

  7. Vgl. Eberhard Gockel, Karl Marx in Bonn. Alte Adressen neu entdeckt, Bonn 1989, S. 26ff.; Magdalena George, Das authentische Marx-Bildnis, in: Dieter Gleisberg et al. (Hrsg.), Porträts hervorragender Arbeiterführer. Ausstellungskatalog, herausgegeben im Auftrag des Ministeriums für Kultur der DDR vom Museum der bildenden Künste, Leipzig 1983.

  8. Vgl. Kliem (Anm. 5), S. 15–19.

  9. Zu dieser Geste vgl. Lutz Heusinger, Faust, in: Handbuch der politischen Ikonographie, Bd. 1, München 20112, S. 293–300.

  10. Wilhelm Liebknecht, Karl Marx zum Gedächtnis. Ein Lebensabriß und Erinnerungen, Nürnberg 1896, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Mohr und General. Erinnerungen an Marx und Engels, Berlin (Ost) 1982, S. 77.

  11. Engels an Marx, 2.2.1868, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 32, Berlin (Ost) 1974, S. 27.

  12. Siehe Engels an Marx, 6.8.1868, in: MEW, Bd. 32, Berlin (Ost) 1974, S. 133.

  13. Siehe Marx an Jenny Marx, 23.9.1872, in: MEW, Bd. 33, Berlin (Ost) 1976, S. 286.

  14. Vgl. Bouvier (Anm. 4), S. 17.

  15. Engels an Eduard Bernstein, 28.4.1883, in: MEW, Bd. 36, S. 18.

  16. Vgl. Beatrix Bouvier, Eine Ikone der frühen Arbeiterbewegung, in: Dühr (Anm. 2), S. 75.

  17. Vgl. dies., Karl Marx im Historienbild, in: Dühr (Anm. 2), S. 111.

  18. Barbara Mikuda-Hüttel, Aufstieg und Fall einer Bild-Ikone in der Sowjetunion und in der DDR, in: Dühr (Anm. 2), S. 21–29.

  19. Vgl. Rudi Maier, Marx. Macht. Werbung. Was das Bild von Karl Marx uns erzählt, in: Dühr (Anm. 2), S. 31–37.

  20. Dorothée Henschel, World Wide Marx. Karl Marx und das Web 2.0, in: Ikone Marx, S. 39–45, hier S. 43.

  21. Iring Fetscher, Karl Marx, in: Étienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. Eine Auswahl, Bonn 2005, S. 158.

  22. Einen Überblick dazu bietet die opulente Sammlung von Bildern und Bildnissen, die weit mehr sind als die im Titel angeführten Karikaturen, bei Rolf Hecker/Hans Hübner/Shunichi Kubo (Hrsg.), Grüß Gott! Da bin ich wieder! Karl Marx in der Karikatur, Berlin 2008.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Beatrix Bouvier für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist habilitierte Historikerin und leitete von 2003 bis 2009 das Karl-Marx-Haus in Trier. Sie war Kuratorin der Ausstellung "Ikone Marx". E-Mail Link: beatrix.bouvier@t-online.de