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Kleine Geschichte Jugoslawiens

Marie-Janine Calic

/ 20 Minuten zu lesen

Die beiden Jugoslawien – das königliche und das sozialistische – standen vor ähnlichen Heraus-forderungen, wählten aber unterschiedliche Ansätze zur Herstellung nationaler Einheit. Beide scheiterten schließlich an einer wachsenden Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit.

Am 20. Juli 1917 wurde mit der Deklaration von Korfu die Gründungsurkunde Jugoslawiens unterschrieben. Vertreter der Südslawen aus der Habsburgermonarchie sowie Serbiens erklärten darin, "die vereinte Nation der Serben, Kroaten und Slowenen" werde einen gemeinsamen südslawischen Staat schaffen. Nach Ende des Ersten Weltkrieges rief der serbische Prinzregent Alexander Karađorđević am 1. Dezember 1918 feierlich den Staat der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS) aus. Die seit 1878 unabhängigen Königreiche Serbien und Montenegro vereinigten sich mit den von Slowenen, Kroaten, Serben und slawischen Muslimen besiedelten Ländern, die bis dahin zu Österreich-Ungarn gehört hatten. Im Mai 1919 wurde das südslawische Königreich auf der Pariser Friedenskonferenz völkerrechtlich anerkannt. 1929 wurde es in "Jugoslawien" (von südslawisch jug für "Süden") umbenannt.

Jugoslawien als Idee

Ein politisches Gebilde dieses Namens hatte es vor dem Ersten Weltkrieg nie gegeben. Seit Jahrhunderten lebten katholische, orthodoxe und muslimische Südslawen, die Slowenen, Kroaten, Serben, Bosniaken, Montenegriner und Mazedonier, in verschiedenen Großreichen unter fremder Herrschaft, also unter jeweils ganz unterschiedlichen Politik- und Kultureinflüssen. Jedoch existierten aufgrund sprachlicher und kultureller Gemeinsamkeiten Gefühle von Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit, die sich bis in die Renaissance zurückverfolgen lassen. Im 19. Jahrhundert, als auch Deutsche, Italiener, Polen und andere europäische Völker Einheit und Selbstbestimmung forderten, formierte sich ein südslawischer Nationalismus.

Die Vorkämpfer der südslawischen Nationalbewegung waren die kroatischen "Illyristen", die um 1830 in der Habsburgermonarchie aktiv wurden. Sie betrachteten Kroaten, Serben, Montenegriner, Slowenen und Bosnier als Nachfahren eines vermeintlich südslawischen Urvolkes, der antiken Illyrer, und mithin als Angehörige einer Abstammungs- und Kulturgemeinschaft, die es wiederzubeleben gelte. Kernforderungen waren unter anderem die Schaffung einer einheitlichen illyrischen, also kroatischen oder südslawischen Literatursprache sowie die politische Vereinigung von Kroatien, Slawonien, Dalmatien, Slowenien und Bosnien zu einem autonomen und fortschrittlichen "Großillyrien". Auch im benachbarten Fürstentum Serbien, das 1830 unter osmanischer Oberherrschaft autonom geworden war, kursierten Vereinigungsideen. Mit dem 1844 verfassten Entwurf "Načertanije" des Politikers Ilija Garašanin entstand das Programm, Serbien zum "Piemont" einer grenzübergreifenden südslawischen (oder auch nur "großserbischen") Staatsbildung zu machen.

Anfangs war die südslawische Idee in Kroatien und Serbien ein rein intellektuelles Unterfangen. Nationalbewegte Schriftsteller und Gelehrte forschten nach Sprichwörtern, Epen und Märchen, um die Wiedergeburt jenes urzeitlichen südslawischen Volkes voranzutreiben, das sie sich vorstellten. Als tragende Säule der nationalen Einheit galt die Entwicklung einer gemeinsamen Standardsprache, denn in den kroatischen Ländern, in Bosnien und der Herzegowina, Serbien und Montenegro sprach man ähnliche, zum Teil sogar die gleichen Dialekte. Im Wiener Abkommen legten der Serbe Vuk Karadžić und der Kroate Ljudevit Gaj 1850 die Grundlagen des Serbo-Kroatischen beziehungsweise Kroato-Serbischen. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg ging man von zwei Varianten eines gemeinsamen Sprachstandards aus. Heute wird – mehr aus politischen denn linguistischen Gründen – zwischen Kroatisch, Serbisch, Bosnisch und Montenegrinisch unterschieden.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging der habsburgische Illyrismus in den Jugoslawismus über. Der Patriotismus der Gelehrten verwandelte sich in eine politische Bewegung mit dem Ziel, einen vereinten südslawischen Staat zu gründen. Die führenden Köpfe der Bewegung, der Bischof von Đakovo, Josip Juraj Strossmayer, und der Historiker und Theologe Franjo Rački, behaupteten, dass katholische Kroaten (und eventuell auch Slowenen) sowie orthodoxe Serben trotz unterschiedlicher Konfessionen eine Nation bildeten. Als deren historisch verbürgte Nationalreligion betrachteten sie das vorschismatische Christentum. Die Südslawen waren im 9. Jahrhundert durch die byzantinischen Slawenapostel Kyrill und Method missioniert worden. Erst im 11. Jahrhundert hatten sich die westliche (lateinische) und die östliche (orthodoxe) Kirche offiziell gespalten und dadurch die Entwicklung unterschiedlicher Konfessionsnationen eingeleitet.

Die kroatischen Jugoslawisten forderten zunächst ein autonomes südslawisches Königreich als dritte Entität neben Österreich und Ungarn innerhalb der Habsburgermonarchie. Kaiser Franz Joseph und sein Thronfolger Franz Ferdinand waren allerdings strikt dagegen, einen solchen "Trialismus" ernsthaft in Erwägung zu ziehen oder den auf unterschiedliche Reichsteile zerstreuten Südslawen wenigstens mehr Rechte zuzugestehen. Immer mehr nationalbewegte Kroaten und Slowenen wandten sich deswegen von der Monarchie ab.

Nach 1900 begannen serbische und kroatische Politiker zusammenzuarbeiten, um einen unabhängigen jugoslawischen Staat zu gründen. Im Gegensatz dazu forderten Anhänger exklusiver großkroatischer und großserbischer Nationalstaatsideen, die mittelalterlichen Königreiche in ihren historischen Grenzen wiederherzustellen. Dadurch wurde die Frage virulent, wem Bosnien und die Herzegowina zustehe, das mal hier- und mal dorthin gehört hatte. Der integrative Jugoslawismus löste diese Konkurrenz auf, erklärte das multireligiöse Land später sogar zum "Herzen Jugoslawiens". Wissenschaftler, Literaten, Bildhauer und Maler gingen folglich daran, die vorgestellte südslawische Nation künstlerisch und literarisch auszugestalten, unter ihnen der bosnische Schriftsteller und spätere Nobelpreisträger Ivo Andrić, der kroatische Bildhauer Ivan Meštrović und der serbische Geograf Jovan Cvijić.

Aus der anfangs nur von wenigen Gelehrten getragenen südslawischen Idee entwickelte sich ab der Jahrhundertwende eine nationalistische Massenbewegung. Aber erst der Erste Weltkrieg, durch den die Habsburgermonarchie unwiderruflich unterging, schuf die Voraussetzungen für die Gründung des südslawischen Staates. Am 28. Juni 1914 ermordete Gavrilo Princip von der Geheimorganisation "Junges Bosnien" den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in Sarajevo. Als bekennende "jugoslawische Nationalisten" wollten deren Anhänger die österreichisch-ungarische Herrschaft zerstören, um die politische Vereinigung mit Serbien voranzutreiben. Die Waffen erhielten sie von der serbischen Untergrundorganisation "Schwarze Hand".

Wien nahm den Mord zum Anlass, Serbien ein kaum erfüllbares Ultimatum zu stellen und ihm einen Monat später den Krieg zu erklären. Die Regierung in Belgrad, der bis heute keine Urheberschaft an dem Attentat nachgewiesen werden kann, verkündete nun das Ziel, einen "starken südwestlichen slawischen Staat, in den alle Kroaten, und alle Serben und alle Slowenen eintreten", zu gründen. Allerdings konnte Serbien den Armeen der Mittelmächte nicht dauerhaft standhalten. Während die Angreifer das Land unter sich aufteilten, zogen sich König Peter, seine Regierung und das Oberkommando der Armee, gefolgt von mehr als 150000 Soldaten und Zivilisten, im Winter 1915/16 an die Adriaküste zurück. Nach dem verlustreichen Marsch durch die albanischen Berge wurden sie von den Alliierten auf die "Rettungsinsel" Korfu evakuiert.

Unterdessen hatten serbische, kroatische und slowenische Politiker aus der Habsburgermonarchie im November 1914 im Londoner Exil den "Jugoslawischen Ausschuss" gegründet. Sie erklärten Serben, Kroaten und Slowenen zu "ein- und demselben Volk (…) mit drei verschiedenen Namen" und forderten einen jugoslawischen Staat. Während Hunderttausende habsburgische Südslawen noch in der k.u.k. Armee kämpften, unterzeichneten der Vorsitzende des Ausschusses, der Kroate Ante Trumbić, und der Ministerpräsident und Außenminister Serbiens, Nikola Pašić, am 20. Juli 1917 die Deklaration von Korfu. Sie kündigte eine konstitutionelle, demokratische und parlamentarische Monarchie unter der in Serbien herrschenden Dynastie Karađorđević an. Während die unterschiedlichen Volksnamen, Religionen, Schriften und nationalen Symbole gleichberechtigt sein sollten, blieb vorerst offen, wie historische, kulturelle und religiöse Eigenheiten der verschiedenen südslawischen Gruppen innerhalb der vorgestellten Einheitsnation berücksichtigt werden würden.

Einheit in Vielfalt

Aufseiten der Siegermächte setzte sich gegen Ende des Krieges die Einsicht durch, dass ein demokratisches und liberales Jugoslawien besser in die Nachkriegsordnung passen würde als ein Flickenteppich kleinerer Nationalstaaten. Infolge der Pariser Friedensschlüsse 1919/20 sollten daher sieben historische Entitäten mit ganz unterschiedlichen Traditionen, Währungs-, Bildungs-, Infrastruktur- und Rechtssystemen zum "Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen" verschmelzen. Die Friedensmacher übernahmen die Deutung, die südslawische Einheitsnation bestehe aus drei "Stämmen" und trage drei Namen. Im Unterschied zu heute waren die Montenegriner, bosnischen Muslime (Bosniaken) und "Südserben" (Mazedonier) nicht als eigenständige Subjekte oder gar als Nationen anerkannt. Sie alle sollten zur "dreinamigen" Titularnation der Serbo-Kroato-Slowenen zählen, die rund 82 Prozent von 12 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern stellte. Magyaren, Deutsche, Albaner und weitere ethnische Gruppen wurden als Minderheiten mit verbrieften Rechten anerkannt.

Nach dem Vorbild Großbritanniens und Frankreichs erhielt der SHS-Staat 1921 eine zentralistische Verfassung. Sie wurde am Veitstag verabschiedet, dem Jahrestag der mythenumwobenen Schlacht gegen die Türken auf dem Amselfeld 1389 und gemeinsamen Symbol für Freiheit und Einheit aller Südslawen. Es galt der Unitarismus nach dem Motto "ein Volk, ein König, ein Staat". Das Staatswappen verschmolz die unterschiedlichen historischen Hoheitszeichen der drei "Stämme": das Kreuz mit den vier Feuerstählen (serbisch), das rot-weiße Schachbrett (kroatisch) sowie die Mondsichel mit den drei Sternen (slowenisch). Die Religionen sollten gleichberechtigt sein und ebenso die kyrillische und die lateinische Schrift.

Die vorgestellte Einheit der jugoslawischen Nation stand allerdings auf tönernen Füßen. Zum einen besaßen Slowenen, Kroaten, Bosniaken, Mazedonier, Montenegriner und Serben bereits ein gewisses nationales Eigen- und Abgrenzungsbewusstsein, das die Idee vom "dreinamigen Volk" überging. Zum anderen waren Serben in Regierung und Verwaltung, bei Militär und Polizei deutlich überrepräsentiert. Die Vertreter der habsburgischen Landesteile, die schon bei der Staatsgründung für eine föderale Ordnung votiert hatten, sahen ihren Argwohn gegenüber großserbischer Hegemonie nun durch die politische Praxis bestätigt.

Als der kroatische Oppositionsführer Stjepan Radić 1928 im Parlament ermordet wurde, installierte König Alexander im Januar 1929 ein diktatorisches Regime. Um dem spalterischen "Tribalismus" entgegenzuwirken und die nationale Einheit zu stärken, verbot er alle Parteien und Vereine, die ethnisch oder konfessionell ausgerichtet waren. Am 3. Oktober 1929 ließ er den Staat in "Königreich Jugoslawien" umbenennen und nach dem Vorbild der französischen Departements neu gliedern, um, wie er sich ausdrückte, die "nationale Synthese und Einheit" weiter zu festigen. 1931 oktroyierte er eine Verfassung, die es ihm erlaubte, durch Erziehung, Propaganda, Verordnungen und Repression den integralen Jugoslawismus nach dem Motto "ein Volk – ein Nationalgefühl" mit quasidiktatorischen Vollmachten durchzusetzen.

König Alexander und der französische Außenminister Louis Barthou fielen im Oktober 1934 einem Attentat kroatischer Faschisten in Marseille zum Opfer. Unter Prinzregent Paul, der anstelle des minderjährigen Thronfolgers Peter die Staatsführung antrat und eine Koalitionsregierung ernannte, kam die Königsdiktatur zum Ende. Um dem kroatischen Separatismus entgegenzuwirken, schuf die jugoslawische Regierung im August 1939 ein autonomes kroatisches Verwaltungsgebiet, die Banovina (Banschaft). Daraufhin forderten dann aber auch Serben, Slowenen und bosnische Muslime eigene Autonomien. Zu einer umfassenden Staatsreform kam es jedoch nicht mehr.

Sozialistische Revolution

Am Morgen des 6. April 1941 griff Hitler-Deutschland an, um Jugoslawien "zu zerschlagen". Anlass war ein Putsch serbischer Generäle, die aus Protest gegen den erzwungenen Beitritt Jugoslawiens zum Dreimächtepakt die jugoslawische Regierung gestürzt hatten. Die Armee musste infolge des deutschen Einmarsches nach wenigen Tagen kapitulieren, König und Regierung flohen ins Exil. Jugoslawien wurde in Besatzungsgebiete aufgeteilt und einer Terrorherrschaft unterworfen.

Auf dem Gebiet Kroatiens sowie in Teilen Bosniens und der Herzegowina entstand der nur dem Namen nach "Unabhängige Staat Kroatien". Hitler übergab die Regierung des von deutschen und italienischen Truppen besetzten Landes der faschistischen Ustascha-Bewegung. Sie baute einen Führer-Staat nach NS-Vorbild auf und ließ auf deutsches Geheiß Juden und Roma ermorden. Ihre eigene rassistische Agenda betraf hingegen vor allem die orthodoxen Serben: Hunderttausende wurden zwangsweise katholisiert, in Konzentrationslager gesperrt, vertrieben oder ermordet. Serbien kam unter deutsche Militärverwaltung, assistiert durch die ultranationalistische Kollaborationsregierung von General Milan Nedić. Den Rest Jugoslawiens teilten die Revisionsmächte Italien, Bulgarien, Ungarn und Deutschland unter sich auf. Überall wurde die Wirtschaft auf die deutschen Kriegsziele ausgerichtet. Zehntausende wurden als Zwangsarbeiter ins Reich deportiert. Die Bevölkerung Jugoslawiens wurde zudem Opfer der rassischen "Neuordnungspläne" Hitlers und seiner Verbündeten. Juden und Roma wurden stigmatisiert, entrechtet, in Lager gepfercht und systematisch ermordet oder bei "Sühneaktionen" zuerst erschossen. In Serbien setzte die SS dafür bereits im Frühjahr 1942 einen Gaswagen ein. Insgesamt fielen bis zu 60.000 von etwa 72.000 Juden der Vernichtung anheim, davon ein Drittel in deutschen Konzentrationslagern.

Bereits im Sommer 1941 traten zwei rivalisierende Widerstandsgruppen auf den Plan: die kommunistischen Partisanen und die nationalserbischen Tschetniks. Kämpften beide anfangs gemeinsam gegen die Besatzer, entwickelten sich bald bürgerkriegsähnliche Zustände zwischen den ideologischen Gegnern. Die Tschetniks unter Oberst Dragoljub-Draža Mihailović kämpften für ein monarchisches und ethnisch homogenes Großserbien, wofür sie massenhaft nichtserbische Bevölkerung aus ihren angestammten Siedlungsgebieten vertrieben. Im Gegensatz dazu propagierte Josip Broz Tito mit seinen multinationalen Partisanen das Prinzip von "Brüderlichkeit und Einheit", um einen sozialistischen Föderalstaat aufzubauen. Wehrmacht und SS-Einsatzgruppen gingen erbarmungslos gegen beide Gruppen und die Zivilbevölkerung vor. So befahl der Oberbefehlshaber der 2. Armee, Generaloberst Maximilian von Weichs, bereits am 28. April 1941, als Sühne für jeden deutschen Soldaten, der durch Überfall zu Schaden kam, 100 Zivilisten aller Bevölkerungsschichten "rücksichtslos" zu erschießen und die Leichen öffentlich aufzuhängen. Zehntausende fielen Straf- und Vergeltungsaktionen zum Opfer.

Nachdem Tschetnik-Führer Mihailović aus Angst vor Repressalien seine Aktionen eingestellt hatte und streckenweise sogar zur Kooperation mit den Besatzern übergegangen war, stieg Marschall Tito zum alleinigen politisch-militärischen Widerstandsführer auf. Der kroatische Maschinenschlosser und Gewerkschafter hatte als Kommunist Jahre in jugoslawischen Gefängnissen gesessen, als Funktionär der Kommunistischen Partei eine Schulung in der Sowjetunion durchlaufen und 1937 als Generalsekretär die Spitze der KPJ erklommen. Während die königliche Familie, die ehemalige Regierung und die wichtigsten Oppositionspolitiker im sicheren Exil saßen, brachte seine multinationale "Volksbefreiungsarmee" immer größere Gebiete unter Kontrolle.

Obwohl die Alliierten den Kommunisten Tito 1943 offiziell als Verbündeten anerkannten, leisteten weder Stalin noch die Westmächte nennenswerte Militärhilfe. Die Partisanen, die bis Mai 1945 auf 800.000 Männer und Frauen aller Nationalitäten angewachsen waren, konnten Jugoslawien trotz höchster Verluste dennoch befreien. Bei Kriegsende besaß keine politische Kraft mehr die Glaubwürdigkeit, die Autorität und die Macht, Tito die Führungsrolle im künftigen Jugoslawien streitig zu machen.

Tito betrachtete den "Volksbefreiungskampf" von Anfang an auch als Motor, um die sozialistische Revolution voranzutreiben. Im November 1943, als die Wehrmacht auch in Jugoslawien bereits unter erheblichem militärischen Druck stand, fasste der Antifaschistische Rat der Volksbefreiung Jugoslawiens, eine Art Partisanenparlament, im bosnischen Jajce den Beschluss, Jugoslawien nach Kriegsende als sozialistische Bundesrepublik gleichberechtigter Völker wieder aufzubauen. Auf dem Weg dahin rechneten die Partisanen in den letzten Kriegsmonaten mit den Truppen der Kollaborateure und antikommunistischen "Banden" systematisch ab. Zehntausende wurden durch Standgerichte als Kriegsverbrecher verurteilt und hingerichtet. Als im November 1945 die ersten, kaum als frei und fair zu bezeichnenden Wahlen stattfanden, erhielt Titos "Volksfront" eine überwältigende Mehrheit. Am 29. November 1945 rief das Parlament die Republik aus.

Titos Jugoslawien

Jugoslawien wurde nun zu einer Föderation aus sechs Republiken und zwei autonomen Regionen (später: Provinzen). Slowenen, Kroaten, Serben, Mazedonier und Montenegriner waren als staatsbildende Nationen anerkannt; in den 1960er Jahren traten noch die Bosniaken als sechste Nation hinzu. Mehr als 20 weitere Nationalitäten und religiöse Gruppen erhielten Minderheitenrechte. Die Republiken waren im Präsidium und allen Bundesorganen paritätisch vertreten; in allen wichtigen Funktionen galt ein "ethnischer Schlüssel". Tito wurde später Staatspräsident auf Lebenszeit.

Tito war die Personifizierung des neuen Jugoslawien. Sein außergewöhnliches politisches Talent und sein Charisma, das auch viele ausländische Beobachter rühmten, begründeten eine von breiten Teilen der Gesellschaft, der politischen Klasse und der internationalen Gemeinschaft anerkannte Legitimität. Zugleich war er als Übervater immens populär: Viele Menschen projizierten ihre ganz persönlichen Wünsche, Hoffnungen und Fantasien auf den Partisanenmarschall, den sie seit Kriegszeiten bewunderten, verehrten und liebten. Dieser ließ sich nach allen Regeln des modernen Personenkults als mutiger, kluger, gütiger, humorvoller, gerechter und unfehlbarer Staatsführer inszenieren. Systemkritiker, die Josip Broz verachteten, vermochten ihn insoweit zu respektieren, als er mal als gerechter Makler, mal als autoritärer Autokrat auftrat, um "Brüderlichkeit und Einheit" "wie seinen Augapfel zu hüten".

Im Gegensatz zum ersten musste das zweite Jugoslawien die Hypothek eines während der Okkupation ausgefochtenen Bruderkrieges bewältigen. Um das zerrissene Land zu befrieden, wurde der multinationale Partisanenkampf als Gründungsmythos eines neuen, friedlichen Jugoslawien inszeniert. Tatsächlich schien der Hass bald vergessen: Fast drei Viertel der befragten Jugoslawen erklärten 1964, ihr Verhältnis zu Angehörigen anderer Nationalitäten sei gut, weitere acht Prozent hielten es für befriedigend. Nur 5,3 Prozent äußerten sich negativ, der Rest war unentschieden. Immer mehr Menschen wollten sich schließlich auch gar nicht mehr ethnisch zuordnen, sondern allein als "Jugoslawe" im staatsbürgerlichen Sinn verstehen. In den 1980er Jahren waren das bis zu 1,2 Millionen, also über fünf Prozent der Bevölkerung. Andererseits blieben vor allem auf dem flachen Land die alten ethnischen Barrieren noch erhalten. So wurden selbst in den 1980er Jahren noch 87,5 Prozent aller Ehen zwischen Partnern ein- und derselben Nationalität geschlossen.

Titos Stellung galt auch deshalb als nahezu unangreifbar, weil er Jugoslawien dem sowjetisch dominierten Ostblock entwunden hatte. Genauer gesagt ließ Stalin Jugoslawien 1948 aus dem Kommunistischen Informationsbüro und Anfang 1949 auch von der Gründung des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe ausschließen. Denn Tito, der sich Moskaus Vorgaben nie ganz unterworfen hatte, hatte nun sogar begonnen, mit Bulgarien und Albanien einen Balkanbund zu schmieden. Stalin, der seinen Einfluss in Südosteuropa gefährdet sah, brandmarkte die jugoslawischen Kommunisten als "Abweichler". Tito reagierte seinerseits mit Säuberungen gegen moskautreue Kommunisten. Tausende angebliche Stalin-Anhänger wurden aus der Partei ausgeschlossen oder auf der berüchtigten Insel Goli otok zur Umerziehung interniert.

Der Rauswurf aus dem Ostblock öffnete dem jugoslawischen Regime neue Spielräume. So boten die USA militärische und wirtschaftliche Hilfen an, um Tito "über Wasser zu halten". Dieser knüpfte neue Handelsbeziehungen nach Westen, vermochte es nach Stalins Tod 1953 aber auch, sein Verhältnis zu Moskau wieder zu normalisieren. Er wollte keinem der beiden antagonistischen Bündnissysteme beitreten. Gemeinsam mit seinen ägyptischen und indischen Amtskollegen, Gamal Abdel Nasser und Jawaharlal Nehru, verschrieb Tito sich in den 1950er Jahren der "aktiven friedlichen Koexistenz". 1961 wurde in Belgrad die Organisation der Blockfreien formal gegründet, die fortan unter Jugoslawiens Führung für Dekolonisierung, Abrüstung sowie eine gerechte Weltwirtschafts- und Weltkommunikationsordnung warb. Sie wurde zu einer tragenden Säule der Identität und Stabilität im Vielvölkerstaat.

Im Inneren schufen die jugoslawischen Kommunisten mit der sozialistischen Arbeiterselbstverwaltung nach 1948 einen Sozialismus eigener Prägung. Nicht anonyme Staatsorgane wie im Ostblock, sondern demokratische Arbeiterräte sollten die Unternehmen und alle gesellschaftlichen Organisationen lenken. Im Zuge zahlreicher Reformen wurden marktwirtschaftliche Elemente und Privatbetriebe zugelassen. Viele westliche Linke priesen den jugoslawischen Sozialismus "mit menschlichem Antlitz" als ihr Vorbild.

Unterstützt durch eine sehr günstige globale Konjunktur erlebten die Jugoslawen nach 1945 ein "Wirtschaftswunder". Die Führung trieb die sozialistische Modernisierung voran, investierte massiv in die Industrialisierung, in den Tourismus und in die Bildung. Bis Mitte der 1960er Jahre verwandelte sich das ehemalige Agrarland in einen Industriestaat: mehr Menschen arbeiteten im sekundären und tertiären Sektor als in der Landwirtschaft, die Städte wuchsen, das Bildungsniveau und die Mobilität stiegen, die Frauen emanzipierten sich aus den patriarchalischen Geschlechterrollen. Pro Kopf wuchs das Bruttosozialprodukt zu konstanten Preisen zwischen 1950 und 1977 um 6,1 Prozent jährlich, die Realeinkommen stiegen in diesem Zeitraum um 150 Prozent.

Der zunehmende Wohlstand ermöglichte mehr Konsum und Freizeit, was die Lebensweisen und Werte von Grund auf veränderte. Im Gegensatz zum Ostblock tolerierte das jugoslawische System schließlich auch einen gewissen Pluralismus in Literatur, Wissenschaften und Künsten. Zwar herrschte das Regime mit Geheimpolizei, Pressezensur und Berufsverboten, jedoch duldete es in gewissen Nischen auch abweichende Meinungen, etwa in Universitäten, Akademien und Religionsgemeinschaften. Das am höchsten geschätzte Privileg der Jugoslawen aber war die Reisefreiheit. So waren die Bürgerinnen und Bürger Jugoslawiens durchaus stolz auf Fortschritte und Freiheiten, und nur wenigen dämmerte, dass das System möglicherweise auch für Misswirtschaft, Bürokratisierung und Korruption verantwortlich war.

Trotz diverser Mechanismen zur Umverteilung und Regionalförderung misslang das zentrale Vorhaben der Kommunisten, die Entwicklungs- und Einkommensunterschiede zwischen den Republiken Jugoslawiens zu verringern. Im Gegenteil: Die Disparitäten wurden immer größer. Waren die Slowenen pro Kopf bei Kriegsende etwa dreimal wohlhabender als die Kosovaren, waren sie Mitte der 1960er Jahre etwa sechsmal und Ende der 1980er Jahre sogar neunmal reicher. Ungewollt förderte das System damit Verteilungskonflikte, bestärkte Nationalismus und ethnische Intoleranz.

Als sich Ende der 1960er Jahre erste wirtschaftliche Krisenerscheinungen bemerkbar machten, meldeten sich in allen Landesteilen Politiker und Intellektuelle zu Wort, die in der gleichmacherischen Politik von "Brüderlichkeit und Einheit" einen Angriff auf nationale Identitäten und Interessen sahen. Kroatische Intellektuelle und Kulturorganisationen verlangten 1967 eine kroatische Literatursprache, während die Albaner im Kosovo 1968 bei gewaltsamen Demonstrationen eine eigene Teilrepublik und Anschluss an Albanien forderten. Während des "Kroatischen Frühlings" 1971 riefen die kroatische Parteispitze, die Kulturorganisation Matica hrvatska, Studentenvertreter und Medien nach mehr Eigenständigkeit für Kroatien, einer eigenen Armee sowie "großkroatischen" Republikgrenzen. Tito warf die kroatische Parteiführung daraufhin aus dem Amt; die Anführer kamen vor Gericht. Auch in Serbien und Bosnien-Herzegowina ging der Staat nun verstärkt gegen nationalistische Umtriebe und Regimekritik vor. In Bosnien-Herzegowina kamen die Verfasser einer "Islamischen Deklaration", darunter der spätere bosnische Präsident Alija Izetbegović, ins Visier, weil sie die "Vereinigung der islamischen Welt in einem riesigen Staat" gefordert und Kontakte zum iranischen Ajatollah-Regime aufgebaut hatten.

Vom Jugoslawismus zum Nationalismus

Nachdem Tito 1980 in hohem Alter gestorben war, fehlte dem Vielvölkerstaat seine wichtigste Integrationsfigur gerade in dem Moment, als das Land auf eine tiefe Wirtschaftskrise zusteuerte. Identitäts- und Sinnsuche, aber auch sozialökonomische Probleme und Zukunftsängste, brachten nationalistischen Politikern und religiösen Führern Zulauf.

Ausgelöst durch die Ölkrise war 1973 das internationale Währungssystem zusammengebrochen. Die Weltwirtschaft war in schwere Turbulenzen geraten, und auch Jugoslawien war in eine Krise geschlittert. Der Staat hatte damals zunächst versucht, die sinkende Wirtschaftsleistung durch ausländische Kredite auszugleichen, verfing sich aber in der Schuldenfalle. Zwischen 1973 und 1981 waren die Verbindlichkeiten von 4,6 auf 21 Milliarden US-Dollar gestiegen. Als die Geber in den 1980er Jahren ihre Gelder zurückforderten, drohte dem Staat die Zahlungsunfähigkeit. Viele Menschen wurden von wachsender Arbeitslosigkeit erfasst, und der Lebensstandard sank. Zwischen 1980 und 1986 stieg das Bruttoinlandsprodukt nur noch um 0,6 Prozent im Jahr; die Realeinkommen lagen 1985 um 27 Prozent niedriger als 1979.

In den 1980er Jahren änderten sich zudem die internationalen Rahmenbedingungen, die Jugoslawiens einzigartige Stellung zwischen Ost und West gewährleistet hatten. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus verschwand nach Tito auch die verbindende Ideologie von "Brüderlichkeit und Einheit" als maßgeblicher integrativer Faktor. Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde auch Jugoslawiens "dritter Weg" hinfällig. Die tragenden Säulen von Titos Modell – Völkerfreundschaft, Arbeiterselbstverwaltung und Blockfreiheit – ergaben keinen Sinn mehr.

Aus der Wirtschaftskrise entwickelte sich bald eine Legitimitäts-, System- und schließlich umfassende Staatskrise. Letzte Reformbemühungen scheiterten, darunter auch eine von den internationalen Finanzinstitutionen verordnete "Schocktherapie". Die Wachstums- und Produktionsraten stürzten weiter in den Keller, und die Inflation galoppierte mit 2700 Prozent davon. Im Konflikt über Reformen zerfiel Anfang 1990 die Einheitspartei, der Bund der Kommunisten Jugoslawiens. Die gesamtstaatlichen Institutionen, der gemeinsame Wirtschaftsraum, die Medien und der Sicherheitsapparat erodierten.

1990/91 fanden in den Republiken Jugoslawiens Mehrparteienwahlen statt, die im Ergebnis zu ethnischer Versäulung der politischen Landschaft und nationalistischen Polarisierungen führten. In Serbien behauptete sich der ehemalige Kommunist Slobodan Milošević, der seit 1989 an der Staatsspitze stand und auf Großveranstaltungen mit nationalistischen Parolen für ein starkes Serbien warb. In Slowenien trat Milan Kučan und in Kroatien Franjo Tuđman, einer der Protagonisten des "Kroatischen Frühlings", die Präsidentschaft an. Da die neuen, national ausgerichteten Republikführungen noch weniger kompromissbereit waren als ihre Vorgänger, das Prinzip der kollektiven Führung aber Einstimmigkeit voraussetzte, wurde die jugoslawische Bundespolitik handlungsunfähig.

Scheinbar unvereinbare Interessen trafen in den Institutionen aufeinander. Einerseits wollten Slowenien und Kroatien um jeden Preis mehr Handlungsfreiheit durchsetzen, um Demokratisierung, Marktwirtschaft und die Annäherung an die Europäische Gemeinschaft voranzubringen. Andererseits gefährdete dies aber die nationale Einheit der Serben, von denen mehr als ein Viertel in Kroatien und Bosnien-Herzegowina lebte. Belgrad wollte den Vielvölkerstaat, in dem alle Nationsangehörigen vereint waren, durch Zentralisierung zusammenhalten oder, wenn dies nicht möglich war, zumindest die von Serben bewohnten Gebiete. Als Slowenien und Kroatien die Unabhängigkeit vorbereiteten, gründeten die kroatischen und die bosnischen Serben 1991/92 ihre eigenen Staaten: die Serbische Republik Krajina in Kroatien und die Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina. Diese sprachen sich für den Verbleib in Jugoslawien aus.

Ermuntert durch den deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, erklärten Slowenien und Kroatien am 25. Juni 1991 ihre Unabhängigkeit. Daraufhin votierten auch die Parlamente Bosnien-Herzegowinas (allerdings ohne die Stimmen der Serben) und Mazedoniens für die Unabhängigkeit, während Montenegro und Serbien die "Bundesrepublik Jugoslawien" bildeten, später "Staatenunion Serbien und Montenegro". Diese zerfiel erst 2006.

Krieg ums Erbe

Die Auflösung Jugoslawiens in seine Teilrepubliken bildete den Auslöser für den Krieg um sein Erbe. Während in Slowenien, wo keine Serben beheimatet waren, der bewaffnete Konflikt nach wenigen Tagen zu Ende ging, begann die Jugoslawische Volksarmee im Herbst 1991 in Kroatien eine Großoffensive. Streitkräfte der kroatischen Serben brachten ein Drittel Kroatiens unter ihre Kontrolle und vertrieben etwa eine halbe Million Menschen. Nach etlichen gescheiterten internationalen Vermittlungsversuchen gelang erst im Januar 1992 ein Waffenstillstand.

In Bosnien-Herzegowina gab die Anerkennung im April 1992 den bosnisch-serbischen Streitkräften den Anlass, binnen Wochen rund 70 Prozent des Territoriums zu erobern. Hunderttausende wurden im Zuge "ethnischer Säuberungen" vertrieben. Währenddessen begannen Ende 1992 Kroaten und Bosniaken, die anfangs gemeinsam gegen die Serben gekämpft hatten, einen "Krieg im Krieg" gegeneinander. Infolge der eskalierenden Kämpfe zwischen den regulären Armeen von drei Kriegsparteien und zahlreichen paramilitärischen Gruppen begaben sich über zwei Millionen Menschen aller ethnischen Gruppen, die Hälfte der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas, auf die Flucht. Viele wurden planmäßig vertrieben. Im Juli 1995 ermordeten bosnisch-serbische Streitkräfte beim Sturm auf die UNO-Schutzzone Srebrenica mehr als 8.200 bosniakische Männer – das Ereignis gilt als der erste Genozid auf europäischem Boden seit 1945. Insgesamt wurden während des Krieges mehr als 100.000 Menschen unterschiedlicher Volkszugehörigkeit getötet, wobei die Bosniaken bei Weitem die höchsten Opferzahlen zu beklagen hatten.

Für die Staatengemeinschaft war mit Srebrenica eine rote Linie überschritten. Während die Nato begann, bosnisch-serbische Stellungen zu bombardieren, nutzte die kroatische Armee im August 1995 die Gunst der Stunde, um mit der Operation "Sturm" die Krajina zurückzuerobern und die dort ansässigen Serben in die Nachbarstaaten zu vertreiben. In Bosnien-Herzegowina bildete sich infolge der Intervention eine militärische Pattsituation, die es ermöglichte, den Krieg im November 1995 durch das Abkommen von Dayton zu beenden und das versehrte Land unter internationale Verwaltung zu stellen. Im Frühjahr 1999 unternahm die Nato erneut einen Luftkrieg, diesmal gegen Serbien, das im Kosovo gegen die nach Unabhängigkeit strebende albanische Guerilla gewaltsam vorging. Kosovo wurde zu einem UNO-Protektorat, ehe es sich 2008 unilateral für unabhängig erklärte.

Somit zerfiel Jugoslawien nacheinander in sieben Nachfolgestaaten, von denen heute bereits zwei – Slowenien und Kroatien – Mitglieder der Europäischen Union sind. Serbien, Montenegro und Mazedonien besitzen einen offiziellen, Bosnien-Herzegowina und Kosovo einen potenziellen Kandidatenstatus. Ob und wann sie je der EU beitreten werden, ist allerdings gänzlich offen.

Schluss

Seit dem 19. Jahrhundert strebten kroatische, serbische und slowenische Gelehrte, Politiker und einfache Bürger nach einem vereinigten südslawischen Staat. Für Jugoslawien sprachen aus ihrer Sicht viele Argumente: sprachlich-kulturelle Gemeinsamkeiten, das erprobte Zusammenleben in den multiethnischen Regionen, die einigende Erfahrung jahrhundertelanger Fremdherrschaft, der Wunsch nach Selbstbestimmung und Teilhabe sowie die Sicherheit in einem starken Gemeinwesen. Jedoch erforderte das Zusammenleben in der staatlichen Gemeinschaft angesichts der hochgradigen Diversität der von Südslawen bewohnten Länder von allen Seiten beträchtliche Zugeständnisse.

Trotz ganz unterschiedlicher auf nationale Einheit ausgerichteter Ideologien und Politikansätze – unitarischer Zentralismus im ersten und multinationaler Föderalismus im zweiten Jugoslawien – sind die Entwicklungs- und Interessenunterschiede und damit die Konflikte im Verlauf des 20. Jahrhunderts stetig gewachsen. Am Ende scheiterte der Vielvölkerstaat am Unvermögen, die wachsende Komplexität der Herausforderungen zu meistern, beziehungsweise an dem Unwillen der Eliten, die historischen Kompromisse von Korfu 1917 und Jajce 1943 fortzusetzen. Anstelle der integrativen südslawischen Idee trat der ethnisch homogene Nationalstaat als Ordnungsprinzip und mit ihm die Erfahrung von Krieg, Vertreibung und Massenmord. Ein Vierteljahrhundert nach dem Zerfall Jugoslawiens sind Identitäts-, Grenz- und Statusfragen, zumal die serbische, bosnische, mazedonische und albanische nationale Frage, noch immer ungelöst.

Jugoslawien 1981, Siedlungsgebiete der Volksgruppen. (mr-kartographie, Gotha 2017) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Nachfolgestaaten Jugoslawiens heute. (mr-kartographie, Gotha 2017) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Marie-Janine Calic, Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region, München 2016; dies., Geschichte Jugoslawiens, München 20142.

  2. Vgl. Dejan Djokić (Hrsg.), Yugoslavism, London 2003.

  3. Das Gegenteil behauptet Christopher Clark, Die Schlafwandler, München 2013.

  4. Vgl. Andrew B. Wachtel, Literature and Cultural Politics in Yugoslavia, Stanford 1998.

  5. Vgl. Vladimir Dedijer, Sarajewo 1914, Wien u.a. 1967, S. 335ff.

  6. Vgl. Andrej Mitrović, Serbia’s Great War, West Lafayette 2007.

  7. Vgl. Ivo Banac, The National Question in Yugoslavia, Ithaca 1984, S. 217.

  8. Vgl. Christian Axboe Nielsen, Identity in King Aleksandar’s Yugoslavia, Toronto u.a. 2014, S. 203.

  9. Vgl. Jozo Tomasevich, War and Revolution in Yugoslavia. Occupation and Collaboration, Stanford 2001, S. 366ff.

  10. Vgl. Calic 2016 (Anm. 1), S. 498.

  11. Vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Verbrechen der Wehrmacht, Hamburg 2002, S. 508ff., S. 550.

  12. Vgl. Jože Pirjevec, Tito. Die Biografie, München 2016.

  13. Siehe dazu auch den Beitrag von Marc Halder in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  14. Vjekoslav Perica, Balkan Idols: Religion and Nationalism in Yugoslav States, Oxford u.a. 2002, S. 101.

  15. Vgl. Calic 2014 (Anm. 1), S. 216.

  16. Vgl. Holm Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011, Wien u.a. 2012.

  17. Vgl. Derek Howard Aldcroft, The European Economy 1914–2000, London–New York 2001, S. 163ff.

  18. Vgl. Dijana Pleština, Regional Development in Communist Yugoslavia, Boulder 1992, S. 118ff.

  19. Vgl. Calic 2014 (Anm. 1), S. 265f.

  20. Vgl. Susan Woodward, Balkan Tragedy, Washington, D.C. 1995, S. 127f.

Lizenz

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ist Professorin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. E-Mail Link: mj.calic@lrz.uni-muenchen.de