Armut und soziale Ausgrenzung im europäischen Kontext
Politische Ziele, Konzepte und vergleichende empirische Analysen
Worin liegen die konzeptionellen Unterschiede zwischen Armut und sozialer Ausgrenzung? Eine Diskussion über die voraussetzungsreichen Möglichkeiten der empirischen Messung.I. Einleitung
Die Existenz von Armut zählt bis in die Gegenwart hinein zu den größten ungelösten gesellschaftlichen Problemen. Obwohl der durchschnittliche Lebensstandard in Europa im Vergleich mit dem der Bevölkerung in anderen Teilen der Welt als relativ hoch und abgesichert gelten kann, besteht Konsens darüber, dass es auch in reichen europäischen Wohlfahrtsstaaten Arme gibt und ein Mindestmaß an sozialer Sicherung sowie gesellschaftlicher Teilhabe nicht für alle Menschen verwirklicht ist.Armut und soziale Ausgrenzung in Europa werden mit dem Zusammenrücken der europäischen Staaten verstärkt thematisiert. Neben der Wirtschafts- und Währungsunion ist es seit Maastricht erklärtes Ziel der Gemeinschaft, das Wohlstandsgefälle zu verringern und die heterogenen Arbeits- und Lebensbedingungen einander anzunähern. Trotz großer Unterschiede in den wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystemen ähnelt sich der Problemdruck: Verfestigte Arbeitslosigkeit, ökonomische Strukturkrisen und die Folgen sich wandelnder Erwerbs- und Familienbiographien machen nicht an den Ländergrenzen halt, sondern sind Umbruchsmerkmale vieler europäischer Gesellschaften. [1] Gegenwärtig werden zahlreiche Anstrengungen unternommen, die "soziale Qualität" Europas zu stärken. Damit verbundene Zielsetzungen sind alle von gutem Willen geleitet, bleiben jedoch zumeist Absichtserklärungen ohne verbindlichen Charakter und unterliegen dem Subsidiaritätsprinzip. Obwohl der europäische Integrationsprozess voranschreitet, ist er im Wesentlichen ein ökonomischer.
Information und vergleichende Dokumentation sind erste grundlegende Schritte für das Verständnis europäischer Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Ein Vergleich von Armut und Teilhabe über Ländergrenzen hinweg ist jedoch nicht unproblematisch. Zum einen ist es nur Gewinn bringend, soziale Benachteiligungen zu vergleichen, wenn man den unterschiedlichen nationalstaatlichen Modellen sozialer Sicherung Rechnung trägt, die den jeweiligen Risiken erst Gestalt geben. Zum anderen ist gerade das brisante Feld der Armutspolitik und -forschung von Kämpfen um Definitionen und methodische Vorgehensweisen bei der empirischen Messung beherrscht. Dies macht die vergleichende Darstellung von Armut und Ausgrenzungsrisiken noch voraussetzungsreicher.
Nicht zuletzt ist es jedoch eine unbefriedigende Datenlage, die europaweiten Analysen prekärer Lebenslagen im Wege steht. Nur länderübergreifende Studien ermöglichen eine vergleichende Sozialstatistik; mit der dafür erforderlichen Harmonisierung geht allerdings der Verlust einer Vielzahl nationaler Charakteristika einher, die Armutsrisiken erklären könnten. Eine der wenigen zur Verfügung stehenden europäischen Quellen ist das von dem Statistischen Amt der EU (Eurostat) koordinierte "European Community Household Panel on Income and Living Conditions" (ECHP), das als repräsentative Bevölkerungsumfrage in allen EU-Mitgliedsstaaten (Ausnahme Schweden) durchgeführt wurde. [2]
Einen anderen Ansatz verfolgt die Euromodul-Initiative, die europäische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus dem Feld der Sozialberichterstattung und Lebensqualitätsforschung versammelt. Dieser Zusammenschluss wird am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) mit dem Ziel koordiniert, ein Umfrageinstrument für europäische Wohlfahrtsvergleiche zu etablieren, das neben allgemeinen Lebensbedingungen auch subjektives Wohlbefinden und die Bewertung individueller Lebensumstände zum Inhalt hat und sich nicht nur auf EU-Mitgliedsstaaten beschränkt. Zu diesem Zweck ist ein Umfrageinstrument - das Euromodul - entwickelt worden, das bereits in neun Ländern als repräsentative Bevölkerungsumfrage Umsetzung gefunden hat. [3]