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Herausforderungen für die Bundeswehr | Sicherheitspolitik | bpb.de

Sicherheitspolitik Editorial Herausforderungen für die Bundeswehr Interventions- und Eskalationsproblematik bei der militärischen Konfliktbewältigung Funktionen militärischer Konfliktregelung durch die NATO Wege und Möglichkeiten künftiger europäischer Sicherheitspolitik Die Fortsetzung der NATO-Osterweiterung: Politische Stabilitätsförderung zulasten militärischer Handlungsfähigkeit?

Herausforderungen für die Bundeswehr

Holger H. Mey

/ 5 Minuten zu lesen

Die Bundeswehr muss sich auf eine Vielfalt möglicher Konflikte einstellen. Humanitäre Einsätze sind zwar mit abzudecken, aber nicht strukturbildend; der Kämpfer bleibt der "Prototyp" des Soldaten.

I.

In einer Zeit des Umbruchs ist der permanente Wandel ein prägendes Kennzeichen auch für die Streitkräfte; aber der Wandel muss möglichst stetig verlaufen. Keine Armee verträgt grundsätzliche Brüche in Serie. Daher müssen Formen und Methoden flexibel, die Grundlinien hingegen langfristig angelegt sein. Sie müssen Antwort geben auf die strategischen Rahmenbedingungen, deren langfristige Gültigkeit erkennbar, wenngleich nicht bereits in jedem Detail beschreibbar ist.

Struktur, Ausrüstung und geistig-moralischer Zuschnitt der Bundeswehr werden bestimmt durch die allgemeinen strategischen Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts und die besonderen Bedingungen der deutschen Sicherheitspolitik. Das heißt, dass auch die immanenten Spannungen und partiellen Widersprüche dieser Determinanten sich unvermeidlich in der Streitkräfteplanung widerspiegeln. Die perfekte Lösung wird es kaum geben, und zwar nicht nur wegen der finanziellen Engen, sondern auch aus konzeptionellen Gründen. Kompromisse, Prioritätensetzungen und Abstriche sind die Regel.

Die große Vielfalt möglicher Formen bewaffneter Auseinandersetzungen ist ein Charakteristikum der Militärstrategie des 21. Jahrhunderts. Eine Ausrichtung der Streitkräfte auf einige wenige Konfliktformen liefe gegen diesen Trend. Dem polymorphen Bild der Herausforderungen muss die polyvalente Struktur der Antwort entsprechen. Die Bundeswehr wird sich also auf die ganze Bandbreite von verdeckten Aktionen bis zu voll entwickelten Großoperationen einzustellen haben. Priorisierungen sind unvermeidlich und der Spannungsbogen zwischen der Eintrittswahrscheinlichkeit eines geringeren und der Schadenshöhe eines existenziellen Risikos wird immer wieder erneut auszumessen sein. Wenn und soweit Risiken nicht abgedeckt werden können, sind sie zu definieren, politisch zu bewerten und zu verantworten.

Eine Konstante aller Varianten möglicher Kriegsformen ist die Anwendung von Gewalt und deren Abwehr durch Gegengewalt. Trotz aller ideologischer und anderer Einwände wird dies das Hauptfeld der Streitkräfte als Instrument der Politik bleiben, auch der Bundeswehr. Dies schließt den Einsatz für humanitäre und zivilisatorische Zwecke nicht aus, aber der militärische Zweck bestimmt die Generallinie der Entwicklung. Dies gilt auch und gerade angesichts der Tatsache, dass nur noch der kleinere Teil des Personals unmittelbar an Kampfhandlungen teilnimmt. Der Prototyp des Soldaten bleibt der Kämpfer, ungeachtet aller sonstigen Vielseitigkeit des Berufsbildes. Dies kann zu Widersprüchen mit gegenläufigen Tendenzen in der Gesellschaft führen, zu deren Lösung oder Abmilderung es einer pragmatischen Politik bedarf.

Neue Technologien werden im Verein mit sozialen und politischen Umschichtungen Strukturen und Einsatzformen der Streitkräfte schrittweise, aber tiefgreifend verändern. Hierzu treten mit Weltraum und Informationsraum zwei neue Operationsräume zu den bisherigen - also Land, See und Luft. Die Bundeswehr wird neue Verbandstypen und Führungsstrukturen entwickeln müssen. Das modulare Prinzip wird die Bildung der Einsatzgruppen weitgehend bestimmen und die klassischen Formationen der Teilstreitkräfte und Waffengattungen in die Rolle der ,,Kampfkraft- und Fähigkeitsbereitsteller abdrängen. Allerdings findet das ,Baukastensystem seine Grenze in der notwendigen Gruppenkohäsion, die nur eine eingespielte Gemeinschaft erzeugen kann. Die Wege zu diesem Kompromiss werden auzuloten sein.

II.

Die Ziele und Interessen deutscher Sicherheitspolitik, die wahrzunehmen Aufgabe der Bundeswehr ist, beinhalten zum einen die territoriale Integrität Deutschlands selbst, und bedingen zum anderen die Einsätze im europäischen und außereuropäischen Ausland. Dazu treten Einsätze, die im Zuge von Bündnisverpflichtungen oder im Dienste der Vereinten Nationen bzw. anderer internationaler Organisationen anfallen. Die Bundeswehr wird also sowohl für unmittelbar eigene deutsche Interessen als auch darüber hinaus eingesetzt. Obwohl die meisten Einsätze in multinationaler Kooperation und oft auch unter fremdem Kommando erfolgen, bleiben die Bundesrepublik Deutschland und ihre verfassungsmäßigen Organe die letztlich maßgebende, legitimierende Instanz und der oberste Bezugspunkt für die Loyalität der deutschen Streitkräfte.

Die Notwendigkeit zu multinationaler Kooperation erfordert zum einen Anwendung internationaler Normen und Verfahren, wie sie vor allem in der NATO entwickelt wurden, und zum anderen den Ausbau der nationalen Führungsfähigkeit. Die Integration in das westliche Bündnis hat Vorrang, doch bedarf es gerade angesichts jüngster Erfahrungen auch der Fähigkeit zu Operationen in Ad-hoc-Koalitionen.

Internationale Arbeitsteilung sowohl hinsichtlich Aufgaben als auch Struktur war für die Bundeswehr von Anfang an im Rahmen der NATO gängige Praxis - man denke hier an nukleare Abschreckung, Luftverteidigung, geographische Schwerpunkte etc. Weitere Ansätze werden im Rahmen der Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik verfolgt. Die Grenzen liegen da, wo weitergehendere Einschnitte die Handlungsfreiheit und den Bündniswert eines souveränen Staates beschädigen würden. Souveränität wird hier durchaus im modernen Sinne, d. h. als relative Handlungsfreiheit verstanden. Für Deutschland heißt dies, dass es nach wie vor bestimmte strategische Fähigkeiten anderen Partnern überlassen, mit eigenen Potenzialen in Gegenleistung treten und sich auf bestimmte Kernfähigkeiten konzentrieren kann. Eine denkbare Arbeits- und Aufgabenteilung könnte beispielsweise wie folgt aussehen:

- Deutschland verzichtet auf eine eigene nukleare Abschreckung, eine umfassende strategische Luftangriffskapazität, die Fähigkeit zur Weltraumkriegführung (außer begrenzte Führungs- und Aufklärungskapazitäten) sowie auf ein strategisches maritimes Offensivpotenzial im Sinne großangelegter Machtprojektion.

- Dafür bringt Deutschland folgende Kernfähigkeiten ein: hochmoderne, flexible Kräfte für Land-/Luft-Operationen über die ganze Bandbreite bis zur Korpsgröße, substanzielle Potenziale zur erweiterten Luftverteidigung, maritime Kapazitäten zur Küsten- und Randmeer-Kriegführung sowie zur Seeraumüberwachung bzw. Sicherung von Seewegen. Dazu kommen insbesondere auch die erforderlichen Aufklärungs-, Führungs-, Transport- und weitere logistische Kapazitäten.

- Deutschland bringt darüber hinaus sein politisches, ökonomisches und strategisches Gewicht als Stabilitätsbeitrag für Mittel- und Osteuropa ein.

III.

Den Sicherheitsinteressen entspricht ein moderner Begriff der Verteidigung, der sich an der Substanz und am Gewicht der Interessen und nicht mehr starr an territorialen Kategorien orientiert (Landes- und Bündnisverteidigung). Danach verteilen sich die Aufgaben der Bundeswehr neben der Basisorganisation auf die zwei Gebiete der Heimatverteidigung und der Gefahrenabwehr außerhalb der eigenen Grenzen, möglichst am Aufkommensort einer Bedrohung bzw. einer Krise. Dass letzteres nicht im globalen Maßstab im Stile einer Weltmacht geschehen kann, gebieten die knappen Ressourcen, aber auch politische Gründe. Es müssen Prioritäten gesetzt werden, wo bzw. in welcher Distanz, in welcher Größenordnung, mit welchen Kräften, zu welchen Zwecken die Bundeswehr zur Intervention fähig sein soll. Diese Prioritäten, die immer wieder dem Risikospektrum anzupassen sind, bestimmen wesentlich das Gesicht der Bundeswehr.

Bei der Bestimmung der maßgeblichen Sicherheitsinteressen haben das politische Gewicht Deutschlands und seine geostrategische Lage im Zentrum Europas besondere Bedeutung. Die Bundeswehr verkörpert in Umfang, Struktur und Qualität ihrer Streitkräfte Lagebeurteilung und militärpolitische Optionen gleichermaßen. Sie demonstriert die Einschätzung der militärischen Stabilität und den deutschen Beitrag zum militärischen Gleichgewicht in Europa. Sie bildet das Rückgrat des NATO-Potenzials zu Land-/Luftoperationen in Mittel- und Osteuropa. Ihre einsatzbereiten Kräfte bestimmen die Reaktionsfähigkeit der Bundesregierung; die Kapazitäten zum Aufwuchs entscheiden über die Fähigkeit zu Ausdauer und Nachhaltigkeit, gegebenenfalls zur Eskalation, also über die Intensität und Energie im Krisenmanagement.

Die Bundeswehr ist gegenwärtig mit ihren Strukturreformen prinzipiell auf dem richtigen Weg, hinsichtlich der Qualität der Ausrüstung und der finanziellen Ausstattung - auch in der Perspektive - liegt sie weit hinter dem Soll. Letzteres wird unvermeidlich negative Rückwirkungen auf den Handlungsspielraum und den Einfluss Deutschlands im internationalen Umfeld haben.

Dr. phil., geb. 1958; 1986 - 1990 wiss. Mitarbeiter an der Stiftung Wissenschaft und Politik; 1990 - 1992 Referent für Sicherheitspolitik im Planungsstab des Bundesministers der Verteidigung; seit 1992 Direktor des Instituts für Strategische Analysen e. V. (ISA), Bonn, und Lehrbeauftragter an der Universität Köln sowie seit 2000 an der Universität Bonn.

Anschrift: Zipperstr. 24 - 26, 53227 Bonn. Web: www.ISA-eV.de;
E-Mail: HM@HolgerMey.de

Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Robbin F. Laird) The Revolution in Military Affairs: Allied Perspectives, McNair Paper 60, Institute for National Strategic Studies, Washington, April 1999; Nuclear Norms and German Nuclear Interests, in: Comparative Strategy, Vol. 20, No. 3, (Juli - September 2001).