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Die stolpernde Weltmacht | USA | bpb.de

USA Editorial Macht, Souveränität und Herrschaft des Rechts -neue Herausforderungen an die transatlantischen Beziehungen Die stolpernde Weltmacht Die Zukunft der deutsch-amerikanischen Sicherheitspartnerschaft Die Christliche Rechte und die amerikanische Politik von der ersten bis zur zweiten Bush-Administration Pax Americana und gewaltsame Demokratisierung Der neue Militärisch-Industrielle Komplex in den USA

Die stolpernde Weltmacht

Ernst-Otto Czempiel

/ 25 Minuten zu lesen

Die amerikanische Militärintervention konnte zwar den Diktator Saddam Hussein vertreiben, aber nicht das Land befrieden. Trotz erheblicher Schwierigkeiten ist nicht zu erwarten, dass die weit rechts angesiedelte Bush-Regierung von ihrem Ziel ablässt, die Region weiter zu dominieren.

Fehldeutung der Weltlage

Im Herbst 2003 hat sich erwiesen, dass der Krieg gegen den Irak auf unerwartete Schwierigkeiten gestoßen ist. Die Bush-Doktrin präventiver und präemptiver Kriegführung zeigte bei ihrer ersten praktischen Anwendung nicht nur, wie problematisch sie in rechtlicher und politischer Hinsicht ist; sie erwies sich auch als ungeeignet zur Lösung der real existierenden Probleme.

Präsident George W. Bush hat den Krieg gegen den Irak mit fließenden Argumenten begründet - erst mit den angeblichen Beziehungen Bagdads zu Al-Kaida und zum 11. September, dann mit dem Besitz von Massenvernichtungswaffen, dann mit der Gefahr, dass Saddam Hussein diese Waffen an Terroristen und Schurkenstaaten weitergeben könnte, und schließlich mit dem Einsatz von Giftgas gegen die irakische Bevölkerung 1988 in Halabja. Nur dieser Vorwurf war begründet, alle anderen, wie sich erwiesen hat, waren es nicht. So verabscheuungswürdig die Ermordung von Bürgern durch die eigene Regierung ist - sie gibt, sofern sie sich nicht zum Genozid auswächst, keinen Kriegsgrund ab. Die Bush-Regierung hat den Irak-Krieg mit reinen Verdächtigungen begründet, weil sie von Anfang an vorhatte, ihn zu führen. Die meisten ihrer Spitzenpolitiker hatten schon 1998 in einem offenen Brief an Präsident Bill Clinton den Sturz des irakischen Diktators gefordert. Am 20. März 2003, dem Tag des Kriegsbeginns gegen den Irak, trat damit auch der Kern der Bush-Doktrin zutage: mit dem proklamierten Anspruch auf den vorbeugenden Krieg die Durchsetzung der eigenen außenpolitischen Ziele zu rechtfertigen.

Der Sturz Saddam Husseins hatte, wie die Errichtung eines Raketenabwehrsystems, zu den beiden außenpolitischen Hauptzielen der Bush-Koalition gezählt. Das Raketenabwehrprogramm, das schon unter Präsident Clinton angegangen worden war, konnte die Regierung Bush selbst weiter vorantreiben. Die Intervention im Irak hingegen bedurfte einer Gelegenheit. Präsident Bush fand sie in der Attacke des 11. September 2001.

Aber die Gelegenheit entwickelte sich anders als erwartet. Zwar konnte das Regime Saddam Hussein militärisch relativ leicht beseitigt werden. Offizielle Zahlen über die Verluste des Irak gibt es nicht, doch werden sie von britisch-amerikanischer Seite auf 8 000 Zivilisten und rund 30 000 irakische Soldaten geschätzt. Der Krieg kann also wohl kaum als eine der "humansten Militäraktionen" bezeichnet werden, wie es Präsident Bush in seiner Rede am 8. September 2003 getan hat. Der erbitterte Widerstand des Regimes von Hussein indes, der vielerseits erwartet worden war, blieb aus.

Dann aber setzten Schwierigkeiten ein, mit denen Washington offenbar nicht gerechnet hatte. Die amerikanischen Truppen wurden weniger als Befreier begrüßt denn als Besatzer behandelt. Amerikanische Truppen und westliche Einrichtungen im Irak sahen sich zunehmend guerillakriegsähnlichen Attacken ausgesetzt, die auch die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Dienstleistungen erheblich störten. Die Unterstützung der Alliierten und anderer befreundeter Mächte blieb aus. Die 160 Milliarden US-Dollar, welche die Besetzung des Irak 2003 und 2004 kosten wird, müssen die USA hauptsächlich allein aufbringen, ebenso wie die für die Besetzung erforderlichen Soldaten. Ein namhafter Beitrag wurde lediglich von Großbritannien geleistet, dem Alliierten der ersten Stunde. Im Herbst 2003 ergibt sich demzufolge, dass sich der Irak in einer destabilen Lage befindet, deren Besserung nicht absehbar ist. Statt der erwarteten Befreiung des Landes befindet es sich in einen Zustand chaotischen Verfalls.

Dem Irak-Krieg lagen offensichtlich drei gravierende Fehleinschätzungen der Bush-Administration zugrunde. Sie überschätzte die relative Machtposition der USA im internationalen System. Sie überbewertete die Leistungsfähigkeit militärischer Gewaltpotentiale. Und sie hatte überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, dass sich seit dem Ende des Ost-West-Konflikts und vor allem nach dem Serbien-Krieg die Emanzipation der westeuropäischen Alliierten aus der amerikanischen Hegemonie beschleunigt hatte.

Überschätzung der amerikanischen Macht

Indem die Bush-Administration am 20. März aus der in der Charta der Vereinten Nationen institutionalisierten Weltordnung ausbrach, den Sicherheitsrat für ineffektiv erklärte und unilateral den Krieg gegen den Irak eröffnete, offenbarte sie eine beträchtliche Überschätzung der eigenen Machtposition. Sie gab sich ganz offensichtlich der Meinung hin, dass sie die von den Vereinten Nationen erbrachten ordnungsstiftenden wie konsensbildenden Leistungen selbst genauso, wenn nicht noch besser erbringen konnte. Stattdessen musste sie lernen, dass ihr der Auszug aus dem UN-Sicherheitsrat wie ein Makel anhaftete. Er erzeugte nicht nur den Bruch mit den beiden wichtigsten kontinentaleuropäischen Alliierten Frankreich und Deutschland; er hielt auch andere befreundete Staaten wie die Türkei und Indien von einer Unterstützung der USA ab. Vor allem demaskierte er den amerikanischen Angriff auf den Irak als einen völkerrechtswidrigen, durch keinerlei Verteidigungsnotwendigkeit zu rechtfertigenden, sondern bloßer Willkür der Washingtoner Entscheidung entstammenden Angriffskrieg. Er wurde dementsprechend im Irak sehr ambivalent und in der arabischen Welt mit energischer Ablehnung und Kritik eingeschätzt. Dass die Bush-Regierung sich ab November 2002 um eine Sicherheitsratsresolution bemüht hatte, war nur von ihrem gemäßigten Flügel unter Außenminister Colin Powell ernst genommen, von der entscheidenden radikalen Mehrheit der Regierung höchstens als zeitverzögernde Finte geduldet und alsbald beiseite gelegt worden. Die Bush-Administration hatte vielmehr von Anfang an, wie ihr ideologischer Vorläufer Ronald Reagan, der internationalen Organisation skeptisch bis ablehnend gegenübergestanden. Sie ging jedoch noch einen großen Schritt weiter, als sie versuchte, sich selbst an die Stelle der Vereinten Nationen zu setzen.

Überbewertung militärischer Macht

Die Bush-Administration überschätzte aber auch die militärische Kapazität der USA. Sie ist zweifellos bedeutend. Mit knapp 400 Milliarden US-Dollar ist der amerikanische Rüstungsetat größer als der der nachfolgenden neun Großmächte zusammen. Der Irak hingegen, dessen militärische Stärke im Zweiten Golfkrieg schon halbiert worden war, hatte ein Verteidigungsbudget von 1,5 Milliarden US-Dollar. Kein Wunder, dass er in wenigen Wochen überrannt wurde. Washington war aber nicht auf den Guerillakrieg gefasst, gegen den die militärische Überlegenheit der USA wenig ausrichten konnte. Diese Erfahrung hatten sie eigentlich schon in Vietnam gemacht, im Irak aber, wie schon vorher in Afghanistan, alle Warnungen in den Wind geschlagen. Die Bush-Regierung konservierte das veraltete Weltbild einer Staatenwelt, in der sich organisierte Streitkräfte gegenüber stehen und mit dem Ausgang der Schlacht auch über den politischen Sieg entscheiden. In der Gesellschaftswelt des 21. Jahrhunderts aber ist der Konsens der Bevölkerung die entscheidende Voraussetzung für den außenpolitischen Erfolg. Er will erzeugt, kann also nicht mit Waffen erzwungen werden. Vor allem muss auf Gewalt verzichten, wer einen Regimewechsel beabsichtigt. Der Vergleich mit Hitler-Deutschland und dem kaiserlichen Japan ist völlig irreführend. Beide wurden in einem von ihnen angezettelten Krieg besiegt und dann im Gefolge ihrer Niederlage auch demokratisiert. In Deutschland konnten die Alliierten sich auf eine demokratische Tradition stützen, die ins 19. Jahrhundert zurückreichte und in der Weimarer Republik schon politikbestimmend geworden war. Diese wichtige Voraussetzung fehlte im Irak völlig, ebenso wie in Afghanistan und in Vietnam. Auch hatte der Irak niemanden angegriffen. Die Washington einzig verbliebene Begründung war der Sturz der Diktatur Saddam Husseins. Aber sie rechtfertigt weder die militärische Intervention, noch lässt sie sie zum geeigneten Instrument werden. Auch das war eine Lehre Vietnams, verstärkt durch die Erfahrung der Russen in Afghanistan und die der Amerikaner in Somalia. All dies ist von der Regierung Bush offensichtlich nicht bedacht worden.

Unterschätzung der Europäer

Ebensowenig wurde das gewandelte Selbstbewusstsein der NATO-Verbündeten ins Kalkül mit einbezogen. Die Bush-Regierung war davon ausgegangen, dass ihr im Irak erneut gelingen würde, was ihr in Afghanistan und ihrer Vorgängerin im Serbien-Krieg gelungen war: die Verbündeten für die gewohnte Arbeitsteilung zu gewinnen. Die USA wollten, so hatte es Präsident Bush zu Beginn seiner Amtszeit verkündet, die militärische Intervention übernehmen und die sich daran anschließende Konsolidierungsarbeit den Verbündeten überlassen. So geschah es in Bosnien-Herzegowina, so gelang es im Kosovo. In Afghanistan haben zuerst die Verbündeten, im Sommer 2003 hat dann die NATO das Kommando übernommen. Berlin erklärte sich sogar bereit, das deutsche Engagement über Kabul hinaus in die Provinz Kundus zu erweitern.

Auf dieses Schema vertraute Washington offensichtlich auch im Irak. Die USA würden den Krieg beschließen, führen und die politische Neuordnung des Landes bestimmen. Die dafür erforderlichen Aufgaben der Besetzung, Stabilisierung und des Wiederaufbaus hingegen würden von den Alliierten ausgeführt und finanziert. Das war nicht einmal illusorisch. Denn die Allianz hatte sich mit ihren Beschlüssen von Prag im November 2002 faktisch dazu bereit erklärt, sich in ein Instrument globaler Intervention zu verwandeln.

Allerdings wollte sie gefragt und nicht zum "Werkzeugkasten" degradiert werden, aus dem sich Washington nach Belieben bedienen konnte. Dass Bush den Krieg gegen den Irak rechtswidrig und gegen den Wunsch zweier wichtiger Verbündeter führte, ihn allein beschloss und dann von seinen europäischen Verbündeten fraglose Gefolgschaft einforderte, traf auf entschlossenen Widerstand der Regierungen in Berlin und Paris sowie auf den fast aller europäischen Gesellschaften. Die Folge war nicht nur eine Verweigerung der Mitarbeit, sondern eine anhaltende, tief gehende Krise der atlantischen Gemeinschaft.

Die Reaktion auf den 11. September

Unter den Ursachen dieser drei Fehleinschätzungen ragt natürlich der 11. September 2001 hervor. Erstmals waren die USA direkt angegriffen worden, mit dem Welthandelszentrum und dem Verteidigungsministerium waren zwei Symbole ihrer Macht getroffen und fast 3 000 Menschen dabei ums Leben gebracht worden. Erstmals war dabei eine der "neuen Gefahren" manifest geworden, von denen nach 1990 viel gesprochen, über dieaber offenbar sehr wenig nachgedacht worden war.

Das Attentat vom 11. September war nicht von einem Staat, sondern von 19 einzelnen Akteuren, vornehmlich Arabern, verübt worden, nicht mit Massenvernichtungswaffen, sondern mit der Umfunktionierung von Verkehrsflugzeugen. Angesichts der grässlichen Katastrophe, die es heraufbeschworen hatte, bot das Attentat jeden Anlass, über diese neue Gefahr nachzudenken und neue Strategien zu ihrer Bekämpfung auszuarbeiten. Stattdessen hat die Bush-Regierung den Massenmord benutzt, um gesellschaftlichen Konsens für ihr außenpolitisches Programm zu erzeugen. Ließ sich der Krieg gegen Afghanistan und die Taliban als Nebeneffekt der Absicht erklären, mit Osama Bin Laden und Al-Kaida die vermutlichen Anstifter des Attentats zu bestrafen, so fehlte dem Krieg gegen den Irak jeglicher einschlägige Bezug. Ohne sich über das Novum dieses politischen Terrorismus Gedanken zu machen, benutzte Bush ihn zur Begründung eines ganz konventionellen Krieges gegen den Staat Irak. Die durch die Traumatisierung der amerikanischen Gesellschaft bewirkte hohe Konsensbereitschaft kompensierte in den Augen der Bush-Regierung die nicht zu erlangende Zustimmung des UN-Sicherheitsrats. Die militärische Überlegenheit schien einen raschen Sieg zu garantieren.

Die Fehleinschätzung der Regierung Bush wurde also zunächst von der ganz in der geopolitischen Konvention gehaltenen außenpolitischen Programmatik der Bush-Koalition beeinflusst. Ihr fiel die Einsicht zum Opfer, dass diese Art des politischen Terrorismus auch politisch bekämpft werden muss. Washington begriff den 11. September ausschließlich als Gelegenheit, das Regierungsprogramm voranbringen zu können, das in den ersten acht Monaten nur wenig Anklang und Unterstützung gefunden hatte.

Die Bush-Koalition

Dessen Kernpunkte waren im September 2002 von einer Aktionsgruppe veröffentlicht worden, die sich "Project for a New American Century" (PNAC) nannte. Sie war 1997 mit einem Manifest an die Öffentlichkeit gegangen, das eine Wiederbelebung der außenpolitischen Prinzipien der Administration Reagan forderte. Unterschrieben worden war das Manifest von 25 Persönlichkeiten auf der rechten Seite des politischen Spektrums der USA, die später die wichtigsten politischen Führungspositionen der Bush-Administration besetzen sollten.

Solche Aktionsgruppen sind in der amerikanischen Politik, deren Parteiwesen nur schwach ausgebildet ist, nicht selten; sie markieren meist einen Paradigmenwandel der Außen- und Innenpolitik. Besonders berühmt geworden ist das Mitte der siebziger Jahre gegründete "Committee on the Present Danger" (CPD), das die Wahl Ronald Reagans 1980 zum Nachfolger Präsident Carters vorbereitete. Es wurde gesteuert von den Neo-Konservativen um die Zeitschrift "Commentary", einer Gruppe von Intellektuellen und Meinungsbildnern, die eigentlich der Demokratischen Partei nahegestanden, sich dann aber von ihr abgewandt und einer Programmatik zugewandt hatten, die sozialpolitisch konservativ und außenpolitisch einem internationalistischen Unilateralismus verpflichtet war.

In der Nachfolge dieses CPD verstand sich auch das PNAC als Sammelpunkt aller rechten Gruppierungen, soweit sie nicht, wie die klassischen Konservativen, isolationistisch gesonnen waren. Wie in den siebziger Jahren gehörten zu dieser Sammelbewegung die Christliche Rechte und zahlreiche konservative Forschungsinstitute. Hinzu kam die Rüstungsindustrie, insbesondere die Raketen- und Energie-Industrie, für deren politische Integration das "Center for Security Policy" unter seinem Direktor Frank Gaffney sorgte.

Natürlich war auch der traditionelle amerikanische Konservativismus vertreten, dessen Exponent Barry Goldwater 1964 republikanischer Präsidentschaftskandidat gewesen war. Einen wirklichen Neuzugang bildete die Christliche Rechte, die in ihrer langen Existenz außenpolitisch abstinent gewesen war, sich in den neunziger Jahren aber für diese Thematik aktivieren und auf die Politisierung der christlich-jüdischen Tradition verpflichten ließ. Maßgeblich tätig dabei war das "Ethics and Public Policy Center", das moralische Werte in die Außenpolitik einführte und es damit den Evangelikalen erleichterte, ihren religiösen Überzeugungen auch politisch Ausdruck zu verleihen.

Unmittelbar kam das der Position des Likud-Blocks in Israel und der Politik seiner amerikanischen Lobby zugute: dem American Israel Political Affairs Committee (AIPAC); mittelbar erleichterte diese Fundamentalisierung der Evangelikalen dem einer solchen christlichen Religiosität zuneigenden Präsidenten George W. Bush, seine Weltpolitik nicht nur mit dem moralischen Anspruch der Guten gegenüber den Bösen zu bekleiden, sondern sie auch in den kulturell-religiösen Suprematieanspruch des Christentums gegenüber anderen Religionen einzureihen.

Die große Bedeutung des christlichen Glaubens für die politische Kultur in den Vereinigten Staaten wird in Europa gern übersehen. Sie liegt aber dem Menschenbild und der Konzeption von Politik zugrunde, auf denen im 18. Jahrhundert die amerikanische Republik gegründet wurde. Die Religion, schrieb Alexis de Tocqueville, nimmt zwar wenig Einfluss auf den täglichen Verlauf der Gesetzgebung und des öffentlichen Diskurses. Aber sie bestimmt "die Regeln der Gemeinschaft, und indem sie das tägliche Leben reguliert, reguliert sie den Staat". Gerade wegen der in den Vereinigten Staaten herrschenden Trennung von Staat und Kirche, wegen des durchweg säkularen Charakters der amerikanischen Politik wird gern übersehen, dass die Religion, wie Walter Lippmann geschrieben hat, die "vergessene Basis der Demokratie" darstellt. In jedem Fall bildet sie die Basis der politischen Kultur über die ganze Breite des Spektrums politischer Überzeugungen. Sie dienen zur Klassifikation auch der gegenwärtigen Politikergeneration.

Maßgebend für die politische Programmatik dieser vom PNAC betriebenen Sammlungspolitik aber waren die Neo-Konservativen. Paul Wolfowitz (heute Stellvertretender Verteidigungsminister) und I. Lewis Libby (heute Bürochef des Vizepräsidenten Dick Cheney) hatten schon 1992, als Beamte des Pentagon, eine neue "Verteidigungsrichtlinie" entworfen, die den amerikanischen Weltführungsanspruch exekutieren, die militärische Intervention der USA zur Regel machen und die Vereinten Nationen als Ordnungsfaktor eliminieren sollte. Dieses Konzept, das seinerzeit zu Recht als "radikaler Bruch mit 55 Jahren überparteilicher Tradition in der amerikanischen Außenpolitik" empfunden worden war, wurde acht Jahre später zum außenpolitischen Leitfaden der Bush-Administration. Sie hat in Gestalt des Außenministers Colin Powell und des Außenministeriums generell auch einen gemäßigten Flügel. Die politische Leitung des Pentagon unter Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sowie der einflussreiche Vizepräsident Dick Cheney steuern aber zusammen mit den anderen, die meisten außenpolitischen Führungspositionen der Bush-Administration besetzenden Mitgliedern des PNAC die Ausführung dieses Programms nach dem 11. September 2001.

In den ersten acht Monaten der Bush-Regierung war es nicht recht vorangekommen, weil innen- und außenpolitisch die erforderliche Konstellation gefehlt hatte. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit versuchte daher Präsident Bush, das internationale System für einen Wandel der amerikanischen Außenpolitik zu öffnen. Er zog die USA aus der internationalen Kooperation beim Umweltschutz und bei der Rüstungskontrolle, insbesondere der der biologischen Waffen, zurück. Er setzte die Politik seines Vorgängers Bill Clinton, der den Nahost-Konflikt, den Konflikt zwischen Taiwan und dem Festland China sowie die Nuklearrüstung Nordkoreas in Richtung Entspannung zu steuern versucht hatte, nicht fort, sondern verschärfte die Konfliktkonstellationen. Das galt insbesondere für den Nahost-Konflikt, aus dem Bush die vermittelnde Politik der USA sofort und total zurückzog.

Es war aber erst die Tragödie des 11. September, die der Bush-Administration im internationalen System freie Hand und innenpolitisch den notwendigen Rückhalt bei der amerikanischen Gesellschaft gab. Jetzt konnte Washington damit beginnen, das von Wolfowitz und Libby einst entworfene, im September 2000 vom PNAC veröffentlichte Programm selektiver Weltherrschaft direkt anzugehen.

Dass die globale Strategie der Bush-Administration so traditionell ausfiel, erklärt sich also auch daher, dass sie zwar erst nach dem 11. September praktiziert werden konnte, aber dabei Vorstellungen folgte, die sich nicht an dem Attentat, sondern an Weltbildern und Strategiekonzepten orientierten, die im Kern schon zehn Jahre zuvor formuliert worden waren. 1992 konnte die vertraute Staatenwelt noch als intakt angesehen werden. Der Ost-West-Konflikt war soeben als traditioneller zwischenstaatlicher Konflikt zwischen zwei konkurrierenden Lagern zu Ende gegangen. Macht wurde nach Gewaltpotentialen bemessen, militärische Überlegenheit galt als Rezept des Sieges. Den hatte der Westen eindeutig davongetragen, die USA hatten den Rüstungswettlauf gewonnen.

Es konnte also nahe liegen, eine Strategie, die sich in den 40 Jahren des Ost-West-Konflikts bewährt hatte, in der nunmehr entschieden verbesserten weltpolitischen Ausgangslage fortzusetzen. Der die Neue Rechte beherrschende konservative Grundzug verhinderte offensichtlich, dass diese traditionelle Strategie anlässlich der Attacke des 11. September einer gründlichen Revision unterzogen wurde. Der politische Terrorismus ist kein Äquivalent der Sowjetunion, die Bedrohung durch das Netzwerk Al-Kaida nicht identisch mit der durch die Rote Armee. Das Weltbild der die Bush-Regierung tragenden Koalition unter Führung der Neo-Konservativen erwies sich als so stabil, die darunter liegende Interessenkonstellation als so viril, dass die Bush-Regierung auf die "neue Gefahr" nicht mit einer neuen, sondern mit einer ganz alten Strategie reagierte.

1994 - ein Wendepunkt?

Der Hinweis auf die unter der Führung der Aktionsgruppe PNAC erweiterte Interessengruppierung der "Neuen Rechten" reicht aber zur Erklärung der Politik der Bush-Regierung und der ihr zugrunde liegenden Fehleinschätzungen noch immer nicht aus. Die Exekutive braucht die Zustimmung der Legislative, beide sind auf die Akzeptanz des Wählers angewiesen. Dass nur fünf Jahre nach dem Ende des Vietnam-Kriegs die dessen Trauma aufarbeitende Carter-Administration von der Ronald Reagans abgelöst wurde, zeigte, dass der konservative Flügel der amerikanischen Politik zwar geschwächt, aber keineswegs deaktiviert worden war. Vielmehr trat er, zusammen mit der Neuen Rechten, in der ersten Amtszeit Präsident Reagans eindrucksvoll wieder nach vorn.

In seiner zweiten Amtsperiode musste Ronald Reagan die von ihm betriebene Verhärtung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen in die Entspannungspolitik von Reykjavik überleiten. Die Renaissance des rechten Republikanismus konnte den gesellschaftlichen Anforderungen nach Frieden und seiner Dividende nicht standhalten, schließlich hatte dieser Trend des internationalen Systems sogar den Untergang der Sowjetunion und des Warschauer Pakts mitbewirkt. Die gemäßigte Administration von George H. W. Bush trug dieser Entwicklung Rechnung. Auf die Beendigung des Kalten Kriegs reagierte die amerikanische Politik 1992 mit der Wahl Bill Clintons, der in seinen beiden ersten Amtsjahren intern die Sozialpolitik und die Schaffung von Arbeitsplätzen betonte und außenpolitisch einen "assertive multilateralism" betrieb, also ein durchweg demonstrativ liberales Programm.

Zwei Jahre später aber, bei den Zwischenwahlen von 1994, kam der Konservativismus wieder zurück, eroberte in beiden Häusern die Mehrheit. In das Repräsentantenhaus zogen 73 Neulinge ein, die, ohne die mäßigenden Erfahrungen des Kalten Krieges, dem vom Präsidenten des Repräsentantenhauses Newt Gingrich als Programm entworfenen "Contract with America" blind folgten. Mit der Absage an den Multilateralismus und die Vereinten Nationen, mit der drastischen Erhöhung der Rüstungsausgaben kopierte der "Contract" die außenpolitischen Präferenzen der Reagan-Administration. An die Stelle der kollektiven Friedenssicherung im Verein mit anderen setzte der republikanisch beherrschte Kongress den Alleingang der amerikanischen Weltführung. Er nötigte Präsident Clinton wieder den "Primat der Außenpolitik" auf, verlangte im Atlantischen Raum die Wiederbelebung der NATO und deren Osterweiterung.

Dieser Kongress war es auch, der die Errichtung eines Raketenabwehrsystems zum sicherheitspolitischen Kernprogramm erhob. Gegen den Willen des Präsidenten verabschiedete das Parlament 1999 den National Missile Defense Act. Während die amerikanischen Nachrichtendienste eine strategische Gefährdung der USA auf absehbare Zeit ausschlossen, setzte der Kongress eine " Commission to Assess the Ballistic Missile Threat to the United States" ein, deren Leitung Donald Rumsfeld übertragen wurde, ehemals Verteidigungsminister unter Präsident Gerald Ford. Im Juli 1998 erschien der Kommissionsbericht, der den politischen Präferenzen im Kongress Rechnung trug. Fast zeitgleich schätzte die ebenfalls von Donald Rumsfeld geleitete "Commission to Assess the United States National Security Space Management and Organization" die Bedrohung der amerikanischen Weltraumrüstung als sehr hoch ein.

In der Legislative, die mit der Auflösung des Ost-West-Konflikts und nach dessen Ende die Forderung der amerikanischen Gesellschaft nach einer nunmehr prioritären Berücksichtigung ihrer auf die wirtschaftliche Wohlfahrt gerichteten Interessen sehr wohl rezipiert hatte, setzte unter rechtsrepublikanischer, durch Newt Gingrich personalisierter Führung eine Gegenbewegung ein. Sie führte die Reagan'sche Doppelstrategie weiter, mit dem Primat der Außen- und Sicherheitspolitik die weltpolitische Führungsrolle der USA zu verstärken und gleichzeitig die dafür notwendigen Ressourcen von der Sozialpolitik abzuziehen, also eine klassische Umverteilung der Einkommen von unten nach oben vorzunehmen.

Da die Herausforderung durch die Sowjetunion, die Reagan zur plausiblen Begründung seiner Doppelstrategie benutzen konnte, entfallen war, suchte und fand die republikanische Rechte den passenden Bedrohungsersatz in den so genannten "Schurkenstaaten". Sie halfen als Bedrohungskulisse aus, bis mit dem 11. September 2001 der politische Terrorismus an den Platz treten konnte, den die Sowjetunion geräumt hatte.

Hatte die amerikanische Gesellschaft den Bedrohungsersatz der "Schurkenstaaten" eher achselzuckend hingenommen, weil ihr die Außenpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts gleichgültig geworden war, so machte der 11. September 2001 auf äußerst grausame Weise klar, dass die Vereinigten Staaten in der Tat durch den politischen Terrorismus bedroht sind. Dass angesichts dessen die amerikanische Gesellschaft bereit war, jede machtvolle Verteidigung gegen solche Angriffe zu unterstützen, ist mehr als verständlich. Zu verstehen ist auch, dass sie dabei den strategischen Vorgaben des Präsidenten für seinen "Krieg gegen den Terror" folgte. Es wäre die Aufgabe der Regierung gewesen, auf diese neuartige Bedrohung mit einer neuartigen Politik zu reagieren, also dem Terrorismus wirksam mit einer Mischung aus Gewalt und Politik zu begegnen. Stattdessen hat sie die Traumatisierung der amerikanischen Gesellschaft für ihre außenpolitischen Vorhaben zu instrumentalisieren versucht.

Ob die Zwischenwahlen von 1994 mit ihrer Renaissance der "Neuen Rechten" die amerikanische Politik nur vorübergehend beeinflusst oder dauerhaft auf ein neues Paradigma umgestellt haben, lässt sich noch nicht absehen. Die Wahlen von 1996 bestätigten jedenfalls den konservativen Trend. Er hat es der Bush-Administration erleichtert, die Präsidentschaft Clintons mit einem ausgeprägten Alternativprogramm abzulösen, das sich auf die einzigartige Machtposition und die ebenso großen Gewaltpotentiale des amerikanischen Militärs stützen konnte. Beides hat die Bush-Administration vorgefunden, sie hat nur einen anderen Gebrauch davon gemacht als Vorgänger Clinton. Hatte er den Primat des Politischen bewahrt, so hat Präsident George W. Bush ihn dem Militär und dem Sicherheits-Establishment zugeschoben.

Der Beitrag des Pentagon

Die Streitkräfte hatten in den Jahren 1985 bis 1995 die Verringerung ihres Verteidigungsbudgets um 35 Prozent hinzunehmen, mussten aber weder ihre Struktur noch ihre Standard Operation Procedures ändern. Noch immer waren sie imstande, zwei begrenzte Kriege gleichzeitig zu führen. Seit 1996 begann ihr Budget kontinuierlich zu steigen; 1999 belief es sich schon wieder auf 267 Milliarden US-Dollar. Diese Höhe ließ sich nicht mit der Verteidigungsnotwendigkeit, sondern letztlich nur als Ausstattung einer weltpolitischen Führungspolitik rechtfertigen.

Auch die militärische Führung des Pentagon war damit einverstanden. Sie warnte zwar vor einer direkten Verwicklung in regionale Kriege, drängte aber auf die Globalisierung der militärischen Präsenz, um jederzeit an jedem Ort jeder Art von Gefahren begegnen zu können. Schon lange vor dem 11. September verlangte das Pentagon zusätzliche Stützpunkte und Basen außerhalb von Westeuropa und Nordostasien und eine Verbesserung der Mobilität. Darin drückte sich sowohl die Diagnose einer globalisierten Bedrohung aus wie auch das "Selbstbewusstsein überragender Militärmacht".

Der Sieg über die sowjetische Herausforderung hatte offensichtlich beim amerikanischen Militär ein Allmachtsbewusstsein erzeugt, das psychologisch verständlich, aber funktional nicht nützlich war. Wie von Joseph Schumpeter schon 1919 vorhergesehen, wurde der in seiner bisherigen Größe überflüssig gewordene Militärapparat dazu verleitet, seine weitere Existenz durch ständige Einsatzofferten zu rechtfertigen. Der Bush-Administration wurde es auf diese Weise erleichtert, das, was sie konzeptuell ohnehin für richtig hielt, operativ auch dann einzusetzen, wenn eine Erfolg versprechende Beziehung zwischen dem Ziel und dem verwendeten Mittel nicht gegeben war.

So kam vieles zusammen, was zu den drei Fehleinschätzungen der Bush-Administration geführt hat. In den vierzig Jahren des Kalten Krieges veranlasst, Macht anhand der Gewaltpotentiale zu kalkulieren und Bedrohungen so wahrzunehmen, dass zu deren Abwehr vor allem das Militär eingesetzt werden konnte, verkannte die Bush-Administration die spezifische, neue Art der Bedrohung durch den politischen Terrorismus. Sie unterbewertete gleichzeitig ihre politische Machtfülle, die in der generellen Akzeptanz als gesellschaftliches und wirtschaftliches Vorbild lag, so dass diese in der Gesellschaftwelt so wichtigen Vorzüge hinter dem Bild des einsatzbereiten Soldaten verschwanden. Unter diesem Blickwinkel erschienen ihr schließlich auch die europäischen Verbündeten kleiner und schwächer, als sie wirklich waren.

Selektive Weltherrschaft: eine Zwischenbilanz

Die im "Programm des Neuen Amerikanischen Jahrhunderts" angestrebte selektive Weltherrschaft konnte sich also nicht nur auf die politische Vorarbeit der Neuen Rechten im Kongress seit 1995 stützen, sie wurde auch erleichtert durch Fehlperzeptionen des operativen Umfelds, die in der unverändert beibehaltenen Struktur des sicherheits- und verteidigungspolitischen Apparates angelegt waren. Der Krieg gegen Afghanistan hat die Bedrohung durch Al-Kaida, der er eigentlich galt, keineswegs beseitigt. Er hat das Regime der Taliban gestürzt, aber nicht durch ein anderes, mit gleicher, aber besserer Ordnungskraft ausgestattetes Regiment ersetzt. Vielmehr fühlten sich die regionalen Warlords reaktiviert, deren Herrschaft sowohl der Herstellung von Ordnung wie einem wirtschaftlichen Aufschwung entgegensteht. Der Krieg gegen den Irak hat mit dem politischen Terrorismus nachgewiesenermaßen überhaupt nichts zu tun. Er war nicht die Folge einer Notwendigkeit, sondern einer politischen Absicht. Er gehörte, wie der Aufbau des Raketenabwehrsystems, zum Programm der Bush-Koalition, sollte den Rückzug der amerikanischen Truppen aus Saudi-Arabien kompensieren, die Palästina-Politik der Likud-Regierung in Jerusalem weiter absichern und den Vereinigten Staaten eine dauerhafte Präsenz am Persischen Golf verschaffen. Als Beiprodukt sollte ein demokratisches Herrschaftssystem im Irak eingeführt und von dort in die Ölscheichtümer der Region weiterverbreitet werden.

Hier leuchtete hell das Konzept der Neo-Konservativen auf, sowohl das Herrschaftssystem der Demokratie wie den damit verbundenen Wertekanon in die Welt zu tragen, notfalls eben auch mit Gewalt. Sie gaben der Hoffnung Ausdruck, dass der Sturz von Saddam Hussein es Israel erleichtern würde, die Gründung eines palästinensischen Staates hinzunehmen.

Die Ziele, welche die Bush-Administration für ihre Politik der selektiven Weltherrschaft angab, waren durchaus fortschrittlicher und emanzipatorischer Natur; erst im Licht der dafür eingesetzten Mittel der Gewalt wurde erkennbar, dass sie entweder zweideutig oder unerreichbar waren. Wer einen Regimewechsel von außen mit Gewalt erzwingen will, weiß entweder nichts über die Untauglichkeit dieser Strategie oder kaschiert mit dem angegebenen Ziel ganz andere Absichten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch in der europäischen der Irak-Krieg als Ausdruck einer imperialen Weltpolitik Washingtons verstanden und abgelehnt wurde.

Der Konflikt mit den Westeuropäern

Deswegen versagten Frankreich und Deutschland sowie alle europäischen Gesellschaften im Frühjahr 2003 der Bush-Regierung die Zustimmung. Mit deren Beschluss zum Alleingang vom 20. März gesellte sich zur Divergenz der Interessen ein Machtkonflikt. In dem ohne UN-Mandat begonnenen Irak-Krieg erhob die Bush-Administration den Anspruch, gegen die Vereinten Nationen und ohne die Verbündeten die Welt allein und mit Gewalt zu ordnen. Sie signalisierte mit dem Kriegsbeginn ihren Anspruch auf eine imperiale Weltordnung und auf den blinden Gehorsam der Alliierten. Hinzu kam in den ersten Wochen des Krieges ein fast byzantinisch zu nennendes Gehabe Washingtons gegenüber seinen treuesten Verbündeten Frankreich und Deutschland, denen das "Neue Europa" als leuchtendes Vorbild europäischer Folgsamkeit entgegengehalten wurde.

Nach sechs Wochen Krieg und sechs Monaten Besetzung ist es noch zu früh, den amerikanischen Alleingang im Irak abschließend zu bewerten. Aber in einer Epoche, die mit der Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens die Reste imperialer Politik verschwinden sah, muss jeder Versuch zu deren Restauration als wenig aussichtsreich gelten.

Mit seiner Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 23. September 2003, in der er die UN-Mitglieder zur Mithilfe im Irak aufrief, schien Bush eine Teilkorrektur einzuleiten. Im Grunde aber profilierte er noch den Alleinentscheidungsanspruch der Vereinigten Staaten. Die UN sollten helfen, aber schweigen. Bush behielt den unilateral erhobenen Anspruch auf den Einsatz von Gewalt aufrecht, verbrämte ihn lediglich durch die Rückkehr in den Kontext der Vereinten Nationen. Er hielt sich, wie vor dem 20. März, die Option des Alleingangs weiter offen und benutzte die UN-Prozeduren eher dazu, seine "Coalition of the Willing" zu vergrößern.

Dennoch ist unverkennbar, dass der amerikanische Unilateralismus im Irak ins Stolpern gekommen ist. Es fehlt ihm an Geld und an Soldaten, es fehlt ihm vor allem an der Legitimation. Statt von Washington marginalisiert worden zu sein, gingen die Vereinten Nationen aus der Kontroverse um den Irak-Krieg gestärkt hervor. Die Machtpotentiale der europäischen Alliierten waren größer, als die Bush-Regierung angenommen hatte. Berlin und Paris stimmten der diplomatischen Glättung ihrer Beziehungen zu Washington zu, blieben aber bei ihren Positionen, vor allem bei der Intensivierung ihrer Kooperation untereinander.

Die Machtkonkurrenz zwischen Westeuropa und den Vereinigten Staaten ist damit in eine neue Phase eingetreten. Begonnen 1962 mit dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, hatten die europäischen Bestrebungen, sich von der amerikanischen Hegemonie, zu emanzipieren, seit langem die atlantischen Beziehungen koloriert. Nach dem Ende des Kalten Krieges sprach Bundeskanzler Kohl von der Notwendigkeit einer "Neuen Transatlantischen Agenda", die den Europäern die Gleichberechtigung im Sachbereich der Sicherheit bringen sollte. Daraus wurde nichts. Erst die Demütigung im Serbien-Krieg führte auf dem EU-Gipfel 1999 zu dem Beschluss, eine eigene europäische Streitmacht aufzubauen.

Washingtons Behandlung der Westeuropäer anlässlich des Irak-Kriegs gab diesem Emanzipationsprozess einen neuen Schub. Im "Pralinen-Gipfel" von Tervuren am 29. April 2003 präsentierte sich ein kleiner europäischer Kern, der die von der Bush-Regierung so deutlich zur Schau getragene "Satellitisierung" alter europäischer Verbündeter zum Anlass weiterer Integrationsdemonstrationen nahm.

Über diesen Streit ist inzwischen wieder der Mantel der diplomatischen Höflichkeit gebreitet worden. Er verdeckt den Konflikt, löst ihn aber nicht. Die Bush-Administration hat inzwischen gemerkt, dass sie zu weit gegangen ist, und es ist denkbar, dass sie ihren Kurs gegenüber Westeuropa wieder am Modell der Hegemonie ausrichtet. Fast alle amerikanischen Präsidenten haben nach dem zweiten Amtsjahr ihre Weltpolitik gemäßigt. Bei Bush würde dieser Prozess dann drei Jahre gedauert haben, was dem 11. September geschuldet ist.

Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Bush-Administration an ihrer Politik festhält und mit der Marginalisierung Europas sowie dessen Spaltung fortfährt. Die Machtverteilung zwischen der Supermacht USA und den kleinen/mittelgroßen Staaten in Europa ist derart asymmetrisch, dass sie eine solche Politik Washington geradezu aufdrängt. Umso intensiver muss Westeuropa seine Emanzipation aus dieser Art amerikanischer Führung betreiben. Die aus der europäischen Integration im Sachbereich der Sicherheitspolitik erwachsende Äquivalenz sollte nicht einer Gegenmachtbildung, sondern einer Gleichberechtigung dienen, die im Sachbereich der wirtschaftlichen Wohlfahrt erfolgreich erreicht und in dem der Sicherheit längst überfällig ist. Den Freiraum dazu könnte die Union paradoxerweise gerade unter George W. Bush umso leichter bekommen, als sie von seiner Regierung militärisch als "quantité négligeable" und geopolitisch entbehrlich angesehen wird. Washington ist im Begriff, viele seiner europäischen Basen nach Osteuropa und in die Schwarzmeerregion zu verlagern.

Die von der Regierung George W. Bush vorgenommene Zuspitzung des Unilateralismus zur selektiven Weltherrschaft weist eine sehr gemischte Bilanz aus. Das "unipolar moment", das die Neo-Realisten nicht müde wurden den Neo-Konservativen als die Gunst der historischen Stunde anzupreisen, hat sich nicht eingestellt. Beide haben die Zeichen der Zeit nicht richtig gelesen. Sie deuten auf multilaterale Verfahren als einzig erfolgreiche Strategie der Weltführung hin.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Peter Rudolf, Präventivkrieg als Ausweg? Die USA und der Irak, SWP Berlin, Juni 2002, S. 9.

  2. Vgl. die Aufsätze vieler ihrer Meinungsführer in: Robert Kagan/William Kristol (Hrsg.), Present Dangers: Crises and Opportunities in American Foreign and Defense Policy, Washington, D. C. 2000.

  3. Vgl. Jürgen Todenhöfer, Dieser Finsterling ist unsere Kreatur. Mit den Augen des Südens: Die zehn Irrtümer des Irak-Kriegs, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 23. 9. 2003, S. 39.

  4. Vgl. www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,druck. 264763,00.html.

  5. Mangelnde Sachkenntnis führt hier gelegentlich zu grotesken Fehleinschätzungen, vgl. Hans-Peter Schwarz, Wer hat die Bouillabaisse versalzen?, in: FAZ vom 13. 1. 2003.

  6. Vgl. Karl-Heinz Kamp, Die NATO nach dem Prager Gipfel. Eine globale und "präventive" Allianz?, Konrad-Adenauer-Stiftung, Arbeitspapier Nr. 97/2003, St. Augustin. Anmerkung der Redaktion: Siehe dazu auch den Beitrag des Autors in diesem Heft.

  7. Zu diesem Problemkreis vgl. Klaus Wiesmann, Die vielleicht letzte Chance der NATO. Die Umsetzung der Prager Gipfelentscheidungen, Stiftung Wissenschaft und Politik, Studie 21, Mai 2003, Berlin.

  8. Vgl. Dieter Wellershoff, Mit Sicherheit. Neue Sicherheitspolitik zwischen Gestern und Morgen, Bonn 1999, S. 75ff.

  9. Vgl. dazu und zur Außenpolitik Ronald Reagans Ernst-Otto Czempiel, Machtprobe. Die USA und die Sowjetunion in den achtziger Jahren, München 1989.

  10. Vgl. dazu Amy E. Ansell (Hrsg.), Unraveling the Right: The New Conservatism in American Thought and Politics, Boulder/Col. 1998.

  11. Zit. in: Robert S. Alley, So Help Me God, Richmond, Va. 1972, S. 21.

  12. Vgl. Charles W. Dunn/J. David Woodard, The Conservative Tradition in America, Lanham, Md. 2003, S. 138.

  13. Tom Barry/Jim Lobe, The Men Who Stole the Show, in: Foreign Policy in Focus, Special Report, 18. Oktober 2002, S. 1 ff. Ich folge im Wesentlichen dieser Darstellung.

  14. Vgl. die Auflistung der Führungsmitglieder und ihrer gegenwärtigen Positionen in der Bush-Administration in: Tom Barry/Jim Lobe, U.S. Foreign Policy - Attention, Right Face, Forward March, in: Foreign Policy in Focus, April 2002, S. 3, 4, 5.

  15. Auszüge des Manifests "Rebuilding Americas Defenses" sind abgedruckt in: T. Barry/J. Lobe (Anm. 13), S. 2.

  16. Vgl. Contract with America. The Bold Plan by Rep. Newt Gingrich, Rep. Dick Armey and the House Republicans to Change the Nation, New York 1994, S. 91ff.

  17. Vgl. Bernd W. Kubbig/Harald Müller/Annette Schaper, Die strategische Rüstungskontrolle zwischen USA und Russland: Erfolge - Probleme - Perspektiven, HSFK-Report 11/1996, Frankfurt/M. 1996.

  18. Zu diesem Bericht und zu den ihm zugrunde liegenden, von Donald Rumsfeld damals schon repräsentierten Interessen der Rüstungsindustrie vgl. Alexandra Homolar-Riechmann, Balance oder Profit? Die Glaubwürdigkeit der entschiedenen Pro-NMD-Argumentation, Diplomarbeit im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt/M. 2002, S. 29ff.

  19. Vgl. dazu umfassend Jürgen Wilzewski, Triumph der Legislative. Zum Wandel der amerikanischen Sicherheitspolitik 1981 - 1991, Frankfurt/M. 1999.

  20. Vgl. dazu Peter Rudolf/Jürgen Wilzewski (Hrsg.), Weltmacht ohne Gegner. Amerikanische Außenpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Baden-Baden 2000.

  21. Siehe dazu detailliert A. Homolar-Riechmann (Anm. 18), S. 35ff.

  22. Vgl. Jürgen Wilzewski, Demokratie und Außenpolitik: Friktionen zwischen Präsident und Kongress, in: ders./P. Rudolf (Anm. 20), S. 61.

  23. Ausführlich habe ich mich dazu geäußert in: Ernst-Otto Czempiel, Weltpolitik im Umbruch. Die Pax Americana, der Terrorismus und die Zukunft der Internationalen Beziehungen, München 20034.

  24. Vgl. David Brady/John F. Cogan/Douglas Rivers, The 1996 House Elections: Reaffirming the Conservative Trend, Stanford, Cal. 1997.

  25. Vgl. dazu Ernst-Otto Czempiel, Rückkehr in die Führung: Amerikas Weltpolitik im Zeichen der konservativen Revolution, HSFK-Report 4/1996, Frankfurt/M. 1996, S. 30ff.

  26. Vgl. Department of Defense, Quadrennial Defense Review Report, Washington, D. C. 2001.

  27. Klaus-Dieter Schwarz, Militärstrategie und Streitkräfte, in: Peter Rudolf u.a., Zwei Jahre Präsident Bush, SWP-Studie, März 2003, S. 9, 11.

  28. Vgl. Madeleine K. Albright, Bridges, Bombs, Or Bluster?, in: Foreign Affairs, 82 (September/Oktober 2003) 5, S. 7.

  29. Vgl. dazu Minxin Pei/Sara Kasper, Lessons from the Past: The American Record on Nation Building, in: Carnegie Endowment, Policy Brief 24, Mai 2003.

  30. Vgl. The Pew Global Attitudes Project, What the World Thinks in 2002, Washington, D. C. 2002; ferner die von der International Herald Tribune (IHT) in Auftrag gegebene Umfrage des gleichen Zentrums, in: IHT vom 5. 12. 2002, S. 2 und 8. In den USA hingegen fanden der Krieg und das amerikanische Militär noch im Mai 2003 Zustimmung. Vgl. Robin Toner, Americans Put Trust in Nation's Military, in: IHT vom 28. 5. 2003, S. 3.

  31. Vgl. Charles Kupchan, Die europäische Herausforderung. Vom Ende der Vorherrschaft Amerikas, Berlin 2003.

  32. Zu diesem Themenbereich vgl. Stanley R. Sloan, NATO, the European Union, and the Atlantic Community. The Transatlantic Bargain Reconsidered, Lanham, Md. 2003. Sloan diskutiert auch weitere Szenarien möglicher Entwicklungen der europäisch-amerikanischen Beziehungen.

  33. Vgl. Kurt M. Campbell/Celeste Johnson Ward, New Battle Stations?, in: Foreign Affairs, 82 (September/Oktober 2003) 5, S. 95ff.

  34. Charles Krauthammer, The Unipolar Moment, in: Foreign Affairs, America and the World 1990/91.

geb. 1927; Prof. em. für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität Frankfurt; seit 1970 Mitglied der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt/M.
Anschrift: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Leimenrode 29, 60322 Frankfurt/M.
E-Mail: E-Mail Link: sanner@hsfk.de

Zahlreiche Veröffentlichungen zur amerikanischen Außenpolitik; zuletzt: Weltpolitik im Umbruch. Die Pax Americana, der Terrorismus und die Zukunft der internationalen Beziehungen, München 2002.