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Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Japans

Manfred Pohl

/ 22 Minuten zu lesen

Das "japanische Modell" ist im letzten Jahrzehnt gründlich entzaubert worden. Wie in Deutschland zeigen sich auch in Japan die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gruppen großenteils unfähig, den wirtschafts- und sozialpolitischen Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen.

Deutschland und Japan heute - ein Vergleich lohnt

Es ist von einem "verlorenen Jahrzehnt" zu berichten, in dem das "japanische Modell" gründlich entzaubert wurde - wenn es denn je eines gegeben hat. Das Fazit der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts ist ernüchternd: Der Bogen innenpolitischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung Japans spannt sich vom dynamischen Aufbruch 1993/94 (nach Überwindung schwerer Korruptionskrisen) bis hin zu einem lähmenden Reformstau am Beginn des 21. Jahrhunderts. Japan sieht sich in diesen Tagen mit denselben Problemen konfrontiert, an denen die zwei erfolgreichsten und scheinbar unschlagbaren "Nachkriegsmodelle" kranken. Länder, die nach 1945 den Frieden gewannen - Japan und Deutschland - zeigen sich heute in ihren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gruppen großenteils unfähig (und nicht zuletzt wohl auch unwillig), den wirtschafts- und sozialpolitischen Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen und zugleich ein eigenes sicherheitspolitisches Profil zu entwickeln. Gerade Japan und Deutschland müssen ihre Wirtschaftsstrukturen und Unternehmensverfassungen umbauen: Die USA definieren ihre globale Rolle ohne Rücksicht auf die nationalen Interessen ihrer wichtigsten Verbündeten völlig neu, und so sind Deutschland und Japan unerwartet vor die Aufgabe gestellt, eine Wahl zu treffen zwischen vorbehaltloser Unterstützung jedweder amerikanischer Position und einer eigenständigen Strategie, u.U. auch gegen die außenpolitischen und weltwirtschaftlichen Positionen der USA. Zu nennen sind hier die Nahost-Politik, der Krieg gegen den Irak und nicht zuletzt die globale Umweltpolitik. Japan und Deutschland mussten unvermittelt globale Verantwortung übernehmen, worauf sie aufgrund der Tradition ihrer politischen Kultur nur unzureichend vorbereitet waren. Das Schlüsseldatum für Japan war der 11. September 2001, für Deutschland setze die sicherheitspolitische Emanzipation mit den verschiedenen Krisen auf dem Balkan ein. Aus den "Riesenzwergen" Japan und Deutschland wurden so gezwungenermaßen weitgehend selbstständige und damit gleichberechtigt handelnde Akteure auf der globalen Bühne - an der Seite der USA und mit neuen, unerwarteten Verantwortungen. Deutschland hat diese Herausforderung einer eigenständigen Politik im Rahmen der EU mit allen Konsequenzen angenommen - Japan entschied sich unter Ministerpräsident Junichirô Koizumi für einen bedingungslosen Schulterschluss mit den USA. Dabei ist zu betonen, dass Japan sicherheitspolitisch letztlich nur eine Garantie hat: den bilateralen Bündnisvertrag mit den USA, während Deutschland in eine Reihe von (kollektiven) Bündnissystemen eingebunden ist.

Es zeigte sich (und zeigt sich auch heute im Irak), dass eine einzige verbliebene Supermacht eben nicht allein eine neue Weltordnung aufbauen und lenken kann, vielmehr sind mittelgroße und wirtschaftlich leistungsfähige Staaten auch für die USA als Bündnispartner unverzichtbar. Im ersten Golfkrieg waren Japan und Deutschland die Parias, die sich damals nicht an den Kriegshandlungen gegen Saddam Hussein beteiligen wollten, viel geschmäht von den "patriotischen Massenmedien" ihrer jeweiligen Bündnispartner. Es wird im Folgenden zu zeigen sein, dass Japan eben nicht nur "der Geldautomat ist, der einen Tritt braucht, um Geld auszuspucken": Die ohnehin brüchige politische Kultur Japans erhielt 2003 einen weiteren Knacks, als die Regierung Koizumi sich weit vorn in die Reihen der "Willigen" stellte und schließlich im Juli 2003 sogar bereit war, 1 000 Mann der so geannten "Selbstverteidigungsstreitkräfte" (SDF) in den Irak zu entsenden - gegen den ausdrücklichen Willen der Bevölkerungsmehrheit.

Viel zu oft und viel zu leicht tauchte früher in vergleichenden Wirtschaftsanalysen der Begriff vom "Modell Japan" auf. Gerade Beobachter asiatischer Entwicklungen wurden zur Verwendung dieses Terminus verführt, weil Politiker in der Region selbst immer wieder davon sprachen, dem "japanischen Modell" folgen zu wollen. Am bekanntesten ist vielleicht der malaysische Regierungschef Mohamad Mahathir, der mit seiner "Look East!"-Politik Japan zum Modell erhoben hatte. Aber schon vor ihm trieb der Staatsgründer Singapurs und harte Verfechter "asiatischer Werte", Lee Kuan Yew, die Bürger seines Stadtstaates mit dem Vorbild Japan in eine erfolgreiche Modernisierung. Wer immer von einem "japanischen Modell" sprach, hatte seine eigene Auffassung davon - und kaum eine dieser Auffassungen entsprach jemals wirklich der Realität. Aber ihnen war eines gemeinsam: Die Verfechter des "Modells Japan" instrumentalisierten diesen Begriff, um in ihren Staaten Entwicklungsstrategien umzusetzen, von denen sie sich vergleichbare Wirtschaftserfolge wie in Japan erhofften. Dabei übersahen sie häufig die gravierenden historischen, kulturellen und sozialen Unterschiede zu Japan bzw. spielten diese bei der Instrumentalisierung des "japanischen Modells" ganz bewusst herunter.

In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts hat das japanische Modell an Glanz verloren, es gehört zu offenkundig in eine andere, eindeutig vergangene Zeit wirtschaftspolitischer Entwicklungsstrategien. Es wäre jedoch ein schwerer Fehler, angesichts der strukturellen Krisen in Japan und Deutschland die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit beider Länder zu übersehen: Die "Japan AG" wie auch der "Rheinische Kapitalismus" haben Voraussetzungen geschaffen, die Japan und Deutschland in ihren Regionen nach wie vor zu den stärksten Wirtschaften machen; Japan steht dabei unverändert als Wirtschaftsnation weltweit hinter den USA auf Platz zwei. Ein wenig zynisch ließe sich sagen: Japan und Deutschland haben große Probleme, diese aber auf hohem Niveau.

Innenpolitische Tendenzen zu Beginn des 21. Jahrhunderts

In mehrfacher Hinsicht waren die letzten Jahre des 20. Jahrhunderts, wie auch die ersten Jahre des folgenden "Aufbruchjahrhunderts" vielversprechend für Japan. Nach den stecken gebliebenen Reformen von 1993/94 schien es, als könnte ein einzelner Politiker Japan eigenhändig aus der Krise führen. Im Jahr 2001 war die Liberal-Demokratische Regierungspartei (LDP) im Sog eines charismatischen Politikers aus dem freien Fall hinsichtlich ihrer Popularität wieder steil in der Gunst der japanischen Bürger gestiegen: Der unorthodoxe Regierungschef Junichirô Koizumi schien offenbar in der Lage zu sein, der japanischen Öffentlichkeit neue Hoffnung auf politische Reformen, wirtschaftliche Erholung und eine generelle Belebung der japanischen politischen Kultur zu geben. Aus der Perspektive der zweiten Jahreshälfte 2003 sind die an Koizumi gerichteten großen Erwartungen allerdings enttäuscht worden, der große Aufbruch ist nicht zu erkennen - zahlreiche Anzeichen deuten darauf hin, dass auch dieser scheinbar ungewöhnliche Politiker in seinem politischen Stil und in seiner Taktik im Kern dem gewohnten LDP-Politikertypus entspricht und an den fest gefügten Traditionen scheitern wird.

Auf einer Woge überschwänglicher Zustimmmung wurde er ins Amt getragen: Japans Regierungschef Junichirô Koizumi überraschte 2001 seine innerparteilichen Gegner und Konkurrenten durch einen glänzenden Wahlsieg an der Basis; das Parteivolk in der größten japanischen Regierungspartei LDP sah in ihm offenbar die Verkörperung eines neuen Politikstils und eines Generationenwechsels, obwohl er damals mit 59 Jahren durchaus kein Jungpolitiker mehr war. Die Delegierten der Parteibasis stimmten mit überwältigender Mehrheit für ihn und gegen die abgefeimten LDP-Granden, die machterfahrenen Politbosse, die sich gegen ihn schon einen leichten Sieg ausgerechnet hatten.

Koizumi war Kult. Die erste Ausgabe seines E-Mail Newsletters begann mit großem Gestus: "Ich bin Löwenherz Junichirô Koizumi." In den ersten drei Tagen 2001 bestellten 230 000 Interessenten den Newsletter. Puppen, die ihn im Löwenfell zeigen, waren ein Hit, Hausfrauen standen Schlange, um seine Poster zu erwerben, kreischende Schulmädchen trugen T-Shirts mit Porträts von "Jun-chan" und die Wirtschaftsführer merkten auf, wenn Koizumi seine Thesen zur wirtschaftlichen Erholung vortrug. Er spielte die Rolle eines radikalen Reformers, der entschlossen neue Wege geht. In seinen eleganten Anzügen und mit wallendem Haar hob er sich wohltuend von den grauen, einförmigen Erscheinungen der japanischen Profipolitiker ab, er schien "den" neuen Typus eines Politikers der Zukunft zu verkörpern.

Koizumi ist jedoch de facto nicht der Reformer, als den ihn seine japanischen Mitbürger sehen wollten und als der er sich noch heute geriert. Er ist zwar äußerlich eine unorthodoxe Persönlichkeit, ein Politiker, der so gar nicht in das übliche Erscheinungsbild der politischen Klasse Japans passen will. Aber im Kern ist er doch eher der traditionelle LDP-Politiker, der sich mit den Machtgruppen des Landes arrangiert, in erster Linie den Bauern und ihren Verbänden. Sie sind immer noch die treuesten Wähler der LDP, und Koizumi musste sich hüten, gegen ihre Interessen zu handeln, etwa durch weitere Liberalisierungen des japanischen Agrarmarktes. Wie alle seine Vorgänger ist auch Koizumi auf das Wohlwollen der Parteibosse in der LDP angewiesen, auch ihnen verdankt er seine politische Karriere - ohne Parteimentoren kann kein LDP-Politiker an die Führungsspitze der Partei vorstoßen: So sehr sich Koizumi von der politischen Klasse abzuheben scheint - er ist einer von ihnen. Wie so viele LDP-Politiker stammt auch er aus einer Politikerfamilie und hat das "politische Handwerk" vom Großvater und Vater gelernt - in der LDP.

In dem steilen Auf und Ab der öffentlichen Zustimmung oder Ablehnung Koizumis 2001 bis 2003 spielten drei große Ereignisse eine Schlüsselrolle: die Terroranschläge von New York und Washington am 11. September 2001, die Fußball-Weltmeisterschaft gemeinsam mit Südkorea 2002 und der sensationelle Besuch Junichirô Koizumis bei dem nordkoreanischen Machthaber Kim Jong-il im selben Jahr. Innenpolitisch spielte Koizumi durch unangekündigte Besuche am Symbol des japanischen Nationalismus, dem Yasukuni-Schrein, - abgesehen von dem unvermeidlichen Aufschrei in Seoul und Beijing - den Reaktionären in seiner Partei in die Hände; vielleicht war es ja auch ein wenig durchdachter und letztlich riskanter Versuch, die Nation in Krisenzeiten emotional zusammenzubringen. Andererseits vermied Koizumi mit dem Zeitpunkt seines Besuches im April 2001 das Datum des Tages der Kapitulation am 15. August im Jahre 1945, zu dem ihn viele Konservative gern am Yasukuni-Schrein gesehen hätten. Acht Monate nach Amtsantritt sah es Ende 2001 gut für Koizumi aus: Die LDP-Barone konnten ihn nicht demontieren, wie sie es gehofft hatten. Er hatte durch den "Koizumi-Bonus" die Oberhauswahlen zu einem eindrucksvollen Erfolg für die LDP gemacht, und trotz andauernder Wirtschaftsrezession, struktureller Arbeitslosigkeit und sich mehrender Firmenzusammenbrüche blieb er in der Öffentlichkeit populär, auch als er weitere harte Reformeingriffe ankündigte und vor "no pain, no gain" warnte. Der Absturz in Koizumis Popularitätsrate begann im Januar/Februar 2002, nachdem er die beliebte Außenministerin Tanaka entlassen hatte. Die Zustimmungsrate für den Regierungschef fiel von 80 Prozent (Dezember 2001) auf 72 Prozent (Januar 2002) und dann auf 42 Prozent (Februar 2002). Seit 1990 wurden neun LDP-Parlamentarier wegen Korruption verhaftet und abgeurteilt - eine Schande für Japans Parlament und die politische Kultur des Landes, wie die Tageszeitung Asahi shinbun kommentierte.

Die Opposition war auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht stark genug, um Koizumi und die LDP parlamentarisch zu stürzen; das zeigte sich zuletzt bei einem Misstrauensvotum am 30. Juli 2002, als 280 Abgeordnete der Regierungskoalition geschlossen die 185 Befürworter des Antrags niederstimmten. Anlass für den Misstrauensantrag war der Vorwurf, Koizumi bewältige die Wirtschaftskrise nicht. Eine Kabinettsumbildung im Dezember 2002 führte nicht zu wesentlichen Veränderungen. Auch 2003 gibt es keine Alternative zu Koizumi und der LDP.

Lektionen nicht gelernt: "Modell"-Skandale zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Auch unter Junichirô Koizumi, der doch den Neuanfang wagen wollte, ist wieder von Korruptionsskandalen zu berichten, die Japans Politik erschütterten. Das nach wie vor hoch komplexe System der Finanzierung japanischer Politik mit seinen zahlreichen Schlupflöchern verführt immer wieder dazu, besonders umfangreiche Spenden von Interessengruppen an einzelne Politiker über deren Unterstützerorganisationen zu verschleiern. Im Januar 2001 wurde bekannt, dass die offizielle Unterstützergruppe von Shizuka Kamei, dem Chef der politischen Grundsatzabteilung der LDP, drei Jahre lang Spenden von einer Unterorganisation der Japan Medical Association erhalten hatte, die nicht gemeldet wurden. Die Kamei Shizuoka Kôenkai hatte insgesamt 24 Millionen Yen erhalten, davon fünf Millionen Yen im Jahr 1996 und je zehn Millionen Yen in den Jahren 1997 und 1998, meldete aber nur eine Million Yen an. Die Unterstützergruppe bezeichnete die fehlende Meldung an das Innenministerium als "Versehen" und meldete die Beträge rückwirkend.

Der vielleicht schmerzlichste Skandal der letzten Jahre betraf ausgerechnet Beamte des elitären Außenministeriums und führte nach dem Amtsantritt Koizumis zu einer heftigen Kontroverse zwischen der damaligen Außenministerin Tanaka und ihren Spitzenbeamten. Der Leiter der Abteilung, die im Außenministerium zuständig ist für die Finanzierung offizieller Reisen von Regierungsmitgliedern und wichtigen Politikern, hatte aus dem Reisefonds, der direkt dem Kabinett zur Verfügung steht, erhebliche Summen veruntreut; auch andere Spitzenbeamte sollen sich aus dem Fonds bedient haben, um kostspielige Essen zu finanzieren. Der Abteilungsleiter hatte zwischen 1993 und 1999 einige hundert Millionen Yen aus dem Fonds auf seine Privatkonten überwiesen; eine interne Untersuchung bezifferte die Summen der veruntreuten Gelder auf rund 540 Millionen Yen. Ein Teil davon war zwar später tatsächlich für Auslandsreisen japanischer VIPs verwendet worden, aber mindestens 54 Millionen Yen gab der Karrierediplomat privat für Rennpferde, eine teure Wohnung und Golfclub-Mitgliedschaften aus. Der Außenminister selbst übernahm formal die Verantwortung für den Skandal und verzichtete als Buße auf sechs Monatsvergütungen (was ihm nicht schwer gefallen sein dürfte, denn er war damals einer der reichsten Politiker Japans); auch andere in die Affäre verwickelte Diplomaten erhielten als Bestrafung Gehaltskürzungen. Eine vollständige Aufklärung des Skandals gelang nicht, denn die Verwicklungen reichten tiefer: Gelder waren als "Aufwandentschädigungen" üblicherweise auch an die japanischen Botschaften geflossen, die japanische VIPs betreut hatten.

Das so genannte "eiserne Dreieck" der Interessenverflechtung zwischen Ministerialbürokratie, politischer Klasse und Wirtschaftskreisen ist noch längst nicht zerbrochen, d.h., die "Japan, Inc." besteht fort: Am 19. Juni 2002 wurde einer der mächtigsten LDP-Politiker, Muneo Suzuki, verhaftet - überraschend an diesem Schritt war nur, dass er nicht schon viel früher erfolgte. Suzuki sollte vor vier Jahren fünf Millionen Yen (41 000 EUR) als Bestechungsgeld von einer Baufirma erhalten haben. Die Baufirma (Bauholz) liegt in seinem Wahlkreis auf Hokkaido, Suzuki soll als Gegenleistung dafür gesorgt haben, dass die Firma den Zuschlag für Bauvorhaben auf einer der russisch besetzten Inseln vor Hokkaido (Kurilen-Insel) erhielt. Während der internen Untersuchung im Ministerium räumte der Abteilungsleiter für Europa, der auch für Hilfsprojekte auf den Kurilen zuständig war, eine ungebührliche Rolle Suzukis in der Außenpolitik ein: So habe sich Suzuki gegen eine Verurteilung Russlands bei der Tschetschenien-Politik ausgesprochen, das sei eine interne Angelegenheit Russlands; das Außenministerium habe sich der Sichtweise Suzukis gefügt. Suzuki hatte durchaus auch Verdienste vorzuweisen: So setzte er sich massiv für Entwicklungshilfe in Afrika ein - vergaß aber natürlich dabei nicht, Firmen seines Wahlkreises an entsprechenden Hilfsprojekten lukrativ zu beteiligen. Letztlich wurde seine aktive Entwicklungshilfepolitik ihm aber auch zum Verhängnis: Im Januar 2002 hatte er auf das Außenministerium Druck ausgeübt, zwei Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) von der Afghanistan-Hilfskonferenz auszuschließen; die damalige Außenministerin Tanaka widerrief diese Entscheidung, und die parlamentarische Anhörung zu dem Fall brachte zutage, wie stark (und unkontrolliert) der Einfluss des mächtigen Suzuki auf das Außenministerium und seine Spitzenbeamten war. Im Machtkampf mit Suzuki unterlag die Ministerin Tanaka zwar und musste ihren Hut nehmen, aber der Skandal schwelte weiter. Im März musste das Außenministerium zugeben, dass Suzuki seinen Einfluss rücksichtslos genutzt hatte, um Bauunternehmen aus seinem Wahlkreis Aufträge in mehrfacher Millionenhöhe (US-$) aus der Entwicklungshilfe zuzuschanzen; ein interner Untersuchungsausschuss hatte dieses zweifelsfreie Ergebnis erbracht. Zwei angeklagte Beamte des Außenministeriums machten vor Gericht widersprüchliche Angaben: Einer gab die Einflussnahme zu, ein anderer (enger Vertrauter Suzukis) bestritt die illegale Weitergabe von Informationen an das Handelshaus Mitsui & Co., das auf Kunashiri (Kurilen-Insel) ein Dieselkraftwerk bauen sollte - Mitsui-Mitarbeiter hatten solche Informationen eingeräumt.

Suzukis Einfluss auf das Außenministerium gründete auf seiner Funktion als Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses im Unterhaus; auf diesem Posten übte er nicht nur direkten Einfluss auf die japanische Außenpolitik, sondern auch auf die Personalpolitik im Hause aus. Er galt als Spendensammler der Sonderklasse: Seine Kontakte im Außenministerium nutzte er für Baufirmen aus seinem Wahlkreis, im Gegenzug flossen die Spenden. Nach einer Untersuchung der Yomiuri shinbun sammelte Suzuki im Jahre 2000 insgesamt 443,5 Millionen Yen an Spenden (ca. 3,5 Millionen EUR) und lag damit auf Rang fünf der LDP-Spendensammler; an der Spitze stand der damalige LDP-Generalsekretär Kato mit 628,1 Millionen Yen.

Jugendphänomene als Symptome gesellschaftlicher Umbrüche

Die neunziger Jahre waren gekennzeichnet durch Versuche der politischen Klasse, die traditionellen Defizite der politischen Kultur Japans zu beseitigen. Die einzelnen Defizite lassen sich in der folgenden Liste zusammenfassen, wobei ein Teil der Mängel auf bewusst ausgeblendete bzw. geduldete Degenerationserscheinungen eines jahrzehntelangen Herrschaftsmonopols nur einer Partei (LDP) zurückzuführen ist:

- Erstarrung in der politischen Klasse;

- Politikverdrossenheit in weiten Teilen der Bevölkerung, besonders unter Jugendlichen;

- Reformunfähigkeit der großen Unternehmen und Verbände;

- Überalterung der Gesellschaft;

- Orientierungslosigkeit der Jugend;

- Strukturelle Arbeitslosigkeit.

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, auch nur näherungsweise diese Probleme und damit zusammenhängend die gesellschaftlichen Veränderungen Japans - Umbrüche gar - im Einzelnen auszuleuchten. Hier sollen nur drei Phänomene der modernen japanischen Gesellschaft Erwähnung finden, die in den letzten Jahren als Symptome gesellschaftlicher Umbrüche ausgemacht werden konnten: Neben der (hier nur genannten) zunehmenden Überalterung sind es die "frei driftenden Arbeitskräfte" (freetâ) ohne feste Zukunftsperspektive, die ohne feste Bindung zusammenlebenden Doppelverdiener ohne Kinder (dinks: "Double income, no kids") und die "parasitären Singles" (parasaito shinguru), die den japanischen Behörden wachsende Kopfschmerzen bereiten.

Der Begriff freetâ ist ein Kunstwort aus "free" (englisch) und baitâ (deutsch: von arubaitâ = Arbeiter). Damit werden meist junge Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen bezeichnet, die kurz nach dem Schulabschluss nicht so recht wissen, welchen Lebensweg sie einschlagen sollen, die aber sicher sind, nicht auf eine Universität zu wollen. Sie schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch und "driften" in der Disco-Szene und/oder im japanischen "underground". Das japanische Erziehungsministerium ist so besorgt über diese Entwicklung, dass es eine eigene Abteilung gegründet hat, die in den Oberschulen des Landes Karriereinformation betreibt, um den Schülerinnen und Schülern Orientierungshilfen zu geben.

Ein weiteres Phänomen erkennbarer gesellschaftlicher Veränderung (gemessen an "traditionellen" Werten) ist das Aufkommen von so genannten dinks, jungen Paaren, die ohne feste (d.h. administrative) Bindung zusammenleben, wie dies schon länger aus den USA und Europa bekannt ist. Besonders in den Großstädten Japans ist diese Lebensform verbreitet und trägt auch dazu bei, die Kluft zwischen bäuerlichen, traditionellen Lebensweisen und großstädtischen Lebensformen zu vertiefen: Der Bruch verläuft jetzt nicht mehr nurzwischen unterschiedlichen wirtschaftlichen Existenzbedingungen, sondern auch zwischen Wertvorstellungen und Generationsunterschieden - zunehmend vergreisende dörfliche Gesellschaften gegen jüngere städtische Generationen.

Die "parasitären Singles" sind "junge Männer und Frauen im Alter zwischen 20 und 34 Jahren, die auch als Erwachsene noch bei ihren Eltern leben und ein sorgenfreies Leben als Singles genießen". Entgegen der Auffassung des japanischen Wortschöpfers gibt es dieses Phänomen auch z.B. in Deutschland und in Italien ("Hotel Mamma"), aber in Japan ist es rein quantitativ stärker ausgeprägt und die jungen Leute sind hier materiell weit besser gestellt als ihre europäischen Altersgenossen. Es wird geschätzt, dass 1995 bereits mindestens zehn Millionen junge Frauen und Männer dieser Gruppe zuzurechnen waren, 2000 überstieg die Zahl bereits zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Die "parasitären Singles" verfügen in der Regel über ein hohes persönliches verfügbares Einkommen, können sich kostspielige Reisen und den Kauf von Konsumgütern aus dem höchsten Segment leisten. Die Eltern haben den wirtschaftlichen Erfolg Japans nach dem Krieg begründet bzw. fortgeführt, ihre Kindergeneration vermeidet die exorbitant hohen Wohnungs- und Grundstückskosten, verfügt dadurch über hohe Einkünfte (die für eine Wohnung o. ä. nicht ausreichen würden) und genießt zu einem hohen Prozentsatz den täglichen Luxus, den die japanische Gesellschaft bietet. Die Gründung einer Familie würde sie jener Vorteile berauben, die ein Leben bei den Eltern bietet - mit der Folge, dass die japanische Geburtenrate stetig sinkt.

Es gibt aber auch eine andere, weit schwerer wiegende Begründung dafür, dass junge Menschen nach der Ausbildung auch weiter bei ihren Eltern wohnen: die wachsende Jugendarbeitslosigkeit. Seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ist diese Rate steil angestiegen und liegt seit 1999 bei unverändert zehn Prozent für junge Menschen unter 25 Jahren und übersteigt damit deutlich die Rate z.B. in den USA.

Wirtschaftsprobleme ungelöst

Im Jahr 2002 und noch 2003 blieben wesentliche Reformvorhaben ungelöst, die Banken schreiben immer noch rote Zahlen. Die Finanzaufsicht (Financial Services Agency: FSA) widersetzt sich den Plänen der Regierung, die Banken durch öffentliche Gelder zu entlasten, etwa durch den Ankauf von Wertpapieren aus den Portfolios der Banken, um deren Bilanzen zu bereinigen. Dieser Vorschlag kam überraschend aus der Zentralbank (BoJ). Die belasteten Banken halten Wertpapiere in Höhe von insgesamt umgerechnet 200 Milliarden US-$, die sie als Sicherheiten akzeptiert hatten, eine gezielte Aufkaufaktion hätte ihren Wert nach oben stabilisieren können. Kritiker sahen jedoch in dem Vorstoß der BoJ nur einen Versuch, die Bilanzen der Banken zu schönen. FSA-Chef Yanagisawa hat sich stets gegen den Einsatz öffentlicher Gelder für die Bankensanierung ausgesprochen, aber auch seine Ablösung brachte keine wesentliche Wende. Ungelöst blieb auch die Frage einer weitgehenden Privatisierung der Postdienste, allen voran der Postbank und -versicherung. Die öffentlichen Unternehmen, vor allem die Autobahnverwaltung, sind noch immer nicht reformiert; als Auftraggeber für staatliche Bauvorhaben verteilen sie immer noch gewaltige Summen für Projekte, die sinnlos erscheinen und nur der Baulobby Profite bringen. Dennoch gab es im Juli 2002 erste Anzeichen für eine vorsichtige wirtschaftliche Trendwende: Für das Haushaltsjahr 2002 (bis 31. März 2003) wurde zwar mit einem Minuswachstum von 0,6 Prozent gerechnet, aber ab März 2003 konnten Zuwächse um 1,2 Prozent erwartet werden. In der Tankan-Umfrage (Bank of Japan) vom Juli 2002 zeigten die Unternehmen wieder einen gewissen Optimismus, vor allem in der verarbeitenden Industrie. Wesentliche wirtschaftspolitische Ziele konnte Koizumi aber nicht durchsetzen. Seine innerparteilichen Gegner, die "Kräfte des Widerstandes", wie Koizumi sie nennt, verhinderten eine weitere Haushaltskonsolidierung, indem die Koalition sich auf Steuersenkungen für 2003 einigte - entgegen dem Rat einer von Koizumi eingesetzten Expertengruppe. Diese hatte das genaue Gegenteil, nämlich Steuererhöhungen und eine Verbreiterung der Steuerbasis empfohlen. Herausragends Beispiel für das Scheitern wichtiger Reformvorhaben ist das Gesetz zur "Privatisierung" der Postdienste: Zwar wurden die Zustellerdienste für private Anbieter geöffnet, aber die gigantischen Einlagen in Postbank und Postversicherung bleiben weiter unter staatlicher Kontrolle. Die Postbank-Einlagen belaufen sich auf umgerechnet 3 130 Milliarden EUR, die höchste Einlage an verfügbaren Mitteln weltweit - die LDP und ihre Regierung hat damit Zugriff auf die Guthaben in der größten Bank der Welt. Mit 25 000 Postämtern und ihren 150 000 Postbediensteten ist die Post die vielleicht wichtigste Machtbasis der LDP, die Post-Angestellten organisieren Wahlunterstützung für die größte Regierungspartei, sorgen für kräftiges Spendenaufkommen und stellen eine schlagkräftige Basisorganisation.

Beobachter unterstellen sogar, dass sich die Betonköpfe unter den Ministerialen inzwischen der Reformvorstellungen Koizumis bedienen, um Ziele zu unterlaufen. So fordert das Finanzministerium als Ausgleich für mögliche Steuersenkungen in 2003, spätere Anhebungen an anderer Stelle. Immerhin konnte Junichirô Koizumi im März 2002 einen Haushalt durchsetzen, der bei öffentlichen Ausgaben Kürzungen in Höhe von zehn Prozent vorsah. Auch setzte er sich von seinen Vorgängern ab, indem er sein erstes Kabinett vollständig nach eigenen Maßstäben zusammenstellte, d.h. sich nicht dem Drängen der Parteibosse bei der Personalauswahl fügte. Der " Council on Economic and Fiscal Policy" entwickelte sich unter ihm zu einem recht eigenständigen Think Tank des Regierungschefs, konnte aber den übermächtigen Wissensvorsprung der Elitebürokratien und der Seilschaften in der LDP nicht aufwiegen.

Außenpolitische Überraschungseffekte und eine sicherheitspolitische Umorientierung

Am 17. September 2002 landete Junichirô Koizumi einen außenpolitischen Coup: Nach überaus diskreter Vorbereitung traf der japanische Regierungschef mit Nordkoreas Machthaber Kim Jong-il in Pyöngyang zusammen. Bei dem eintägigen Treffen gab Kim zu, dass in der Vergangenheit durch nordkoreanische Geheimdienste mindestens elf Japaner und Japanerinnen entführt worden seien, acht von ihnen sind inzwischen verstorben. Die Entführten mussten Agenten in Nordkorea in Japanisch und japanischen Lebensformen unterweisen. Hinterbliebene der Opfer vermuten, dass die Verstorbenen von Geheimdienstmitarbeitern liquidiert wurden, nachdem sie ihren "Zweck" erfüllt hatten - auffällig ist, dass die Toten erst zwischen 20 und 30 Jahren alt waren, als sie starben. Der nordkoreanische Machthaber entschuldigte sich ausdrücklich für diese Verbrechen, obwohl er betonte, die Entführungen seien ohne Wissen der Führung auf Initiative der Geheimdienste erfolgt.

Die wirkliche Umorientierung der japanischen Politik aber war schon im September 2001 erfolgt: Erste Reaktionen japanischer Regierungsstellen auf die Terroranschläge in den USA vom 11. September 2001 kamen vergleichsweise schnell: Die Notfallzentrale (Crisis Management Center, CMC) beim Amt des Ministerpräsidenten war in Alarmbereitschaft, weil tags zuvor ein schwerer Taifun große Überschwemmungen ausgelöst hatte. Innerhalb von Minuten informierte das CMC den Kabinett-Staatssekretär Fukuda sowie andere Politiker und Spitzenbürokraten, die für eben solche Notfälle führende Positionen einnehmen. Der Nationale Sicherheitsrat (NSR) wurde einberufen und formulierte unter Vorsitz des Ministerpräsidenten eine scharfe Verurteilung der Terrorangriffe; unmittelbar anschließend versicherte Koizumi den USA, Japan werde fest an der Seite seines Bündnispartners stehen. Diese feste Haltung wurde durch die Tatsache, dass Koizumi erst zwei Tage später mit Präsident Bush telefonierte, ein wenig entwertet. Damit wich der japanische Regierungschef deutlich von den NATO-Partnern Amerikas ab, die schon wenige Stunden nach den Anschlägen persönlich mit dem US-Präsidenten gesprochen und ihr Beileid bekundet hatten. Das lange Zögern Koizumis wurde später in der japanischen Presse scharf kritisiert. Am 14. September trat Koizumi vor dem Internationalen Presseclub auf und machte in seiner Ansprache deutlich, wie sehr die japanischen Reaktionen von verfassungsrechtlichen Einschränkungen beeinflusst seien. Diese Rückzugshaltung löste in Washington Empörung aus, die amerikanische Regierung erinnerte sich sofort an die japanische Haltung während des Golfkriegs 1991 - das "Gespenst" der japanischen Golfkriegs-Demütigung erschien in den folgenden Wochen immer wieder in Kommentaren sowohl in den USA als auch in japanischen Medien.

Schon wenige Tage nach dem Anschlag bezog die Regierung Koizumi auch militärische Maßnahmen in das Bündel denkbarer Optionen Japans ein. Der politischen Führung musste dabei klar gewesen sein, dass sie mit dieser Planung die Jahrzehnte lang unantastbare Doktrin des Verzichts auf kollektive militärische Operationen durchbrach: Die USA hatten keinen Zweifel daran gelassen, dass sie den Kampf gegen den islamischen Terrorismus als multinationale Aufgabe eines breiten internationalen Bündnisses unter amerikanischer Führung betrachteten. Koizumi kündigte am 18. September an, dass Japan Kriegsschiffe als Bündnismaßnahme entsenden würde, wenn sich die USA zu militärischen Schlägen gegen Terrororganisationen (wo auch immer) entschließen würden. Bereits zu diesem Zeitpunkt äußerte die japanische Regierung die Absicht, mindestens einen der vier Aegis-Zerstörer, über welche die japanische Marine (Maritime Self Defence Forces: MSDF) verfügt, sowie Tender und Transportschiffe in den Indischen Ozean zu beordern, um für die US-Marine Nachrichtenaufklärung und logistische Unterstützung zu betreiben.

Eine prominentere Rolle für die japanische Armee im pazifischen Raum stieß bis dahin stets auf erbitterten innenpolitischen Widerstand in Japan selbst, aber auch auf harsche Kritik aus den Nachbarländern China und den beiden Koreas. Japans militärische Teilnahme an der Anti-Terror-Allianz des US-Präsidenten Bush wurde nach den unfassbaren Ereignissen vom 11. September aber kaum kritisiert; nur in manchen südkoreanischen Medien wurde murrend festgestellt, die japanische Regierung habe es ein wenig eilig damit, eine neue militärische Rolle zu übernehmen. Nach der Verabschiedung des neuen SDF-Gesetzes warnte lediglich die (einflussreiche) Chosun Ilbo schärfer davor, dass die Gesetzesänderung eine Grundlage bilden könnte, die Friedensverfassung Japans auszuhöhlen.

Die Gesetzesänderung wird langfristig Folgen haben, die gegenwärtig noch nicht abzusehen sind: Weit über ein (möglicherweise nur symbolisches) Engagement in der Anti-Terror-Allianz hinaus könnten die USA auch eines Tages ein japanisches Eingreifen in einem denkbaren Konflikt um Taiwan einfordern - die Guidelines zur Ausfüllung des amerikanisch-japanischen Sicherheitsvertrages sind gerade in der Definition der geographischen Gültigkeitsbereiche des Vertrages äußerst vage: Zu den "(See)gebieten in der Nähe Japans", wäre von Okinawa (Ryûkyû-Inseln) aus gesehen auch die Taiwan-Straße zu zählen. Wenn sich die militärischen Auseinandersetzungen über einen längeren Zeitraum hin erstrecken, geht Koizumi auch innenpolitisch ein großes Risiko ein: Aus der grundsätzlichen Zustimmung zu seinem Vorgehen könnte schnell Ablehnung werden, wenn die Bündnisaktivitäten wirtschaftliche Erholungsstrategien gefährden. Koizumi braucht eine hohe Zustimmungsrate für sein politisches Handeln, um die versprochenen Maßnahmen zur wirtschaftlichen Gesundung umsetzen zu können. Eine einseitige Konzentration auf gesetzliche Maßnahmen zur Ausfüllung der Bündnisrolle prägte die ablaufende außerordentliche Session beider Häuser und beherrschte die darauf folgende ordentliche Sitzungsperiode.

Die US-Regierung hatte bereits kurz nach den Terrorangriffen bei der japanischen Regierung vorgefühlt, ob Tokyo bereit wäre, logistische Unterstützung zu geben, wenn die USA mit Gegenschlägen gegen Länder beginnen würden, die Terroristen beherbergen. Vize-Verteidigungsminister Richard Armitage hatte mit dem japanischen Botschafter in Washington gesprochen und dabei angeregt, Marineeinheiten der SDF könnten Versorgungsaufgaben übernehmen. Offiziell wurden die Gespräche zwischen dem japanischen Botschafter und dem stellvertretenden US-Außenminister nicht bestätigt, aus Sorge darüber, dass sie als amerikanischer Druck auf Japan ausgelegt werden könnten. "Gut informierte Kreise" wollen jedoch wissen, dass Armitage darauf gedrängt habe, Japan solle "deutlich sichtbar" seine Bündnistreue zeigen, jedoch wolle die amerikanische Regierung kein offizielles Hilfsersuchen an Tokyo richten; nachdrücklich habe Armitage aber an die demütigende Rolle Japans im Golfkrieg erinnert. Der stellvertretende Kabinett-Staatssekretär Shinzô Abe hatte schon im September betont, Japan werde an der Seite der USA als Verbündeter aktiv, im Unterschied zu z.B. Indien, Russland und China, die Unterstützung zugesichert haben, aber nicht als Verbündeter der USA agieren. Abe betonte jedoch erneut, dass die Formulierung aus den Guidelines "Gebiete, die Japan umgeben" (und in denen der Sicherheitsvertrag Anwendung findet) kein geographischer Begriff sei, Japan würde nicht "rund um die Welt gehen", um US-Militär zu unterstützen. Alle japanischen "support operations in the areas surrounding Japan" sind gedeckt durch die Guidelines, die 1997 festgelegt und 1999 im japanischen Parlament verabschiedet wurden. Die japanische Regierung machte sich damit die Auffassung des damaligen Verteidigungsministers Nakatani zu eigen, der das Bündnis mit den USA weit auslegte, nachdem er zuvor noch ausgeschlossen hatte (Koizumi), dass etwaige Krisen im Mittleren Osten oder im Indischen Ozean den Bündnisfall auslösen könnten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Kazuo Funabashi, in: Asahi Evening News vom 4. 3. 1992.

  2. Vgl. Patrick Smith, The Emperor's Same Old Clothes, in: Newsweek vom 7. 5. 2001, S. 35/36; Substance or just style?Junichiro Koizumi arouses great expectations. Expect great disappointments, in: Economist, 5. 5. 2001, S. 57.

  3. Vgl. Economist vom 27. 4. 2002, S. 58; Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 22. 4. 2002.

  4. Japan Times vom 27. 12. 2001.

  5. Vgl. Sankei vom 17. 12. 2001; Asahi shinbun vom 3. 2. 2002.

  6. Vgl. Asahi shinbun vom 13. 7. 2002.

  7. Vgl. ebd. vom 30. 7. 2002; Financial Times Deutschland, 31. 7. 2002.

  8. Vgl. Asahi shinbun vom 7. 2. 2001; Japan Times/online vom 7. 2. 2001.

  9. Diese Ausgaben wurden möglich, weil der Diplomat mit eigener Kreditkarte von dem Konto abheben konnte. Vgl. Yomiuri shinbun vom 2. 2. 2001.

  10. Vgl. Japan Times/online vom 8. 6. 2001.

  11. Vgl. Far Eastern Economic Review vom 28. 3. 2002, S. 19.

  12. Vgl. Nikkei vom 1. 3. 2002.

  13. Vgl. Financial Times Deutschland vom 27. 3. 2002.

  14. Vgl. Japan Times und Asahi shinbun vom 18. 9. 2002.

  15. Vgl. Far Eastern Economic Review vom 28. 3. 2002, S. 19.

  16. Die Wachstumsrate der japanischen Bevölkerung ist kontinuierlich rückläufig: 1950 bis 1955 lag der Zuwachs bei 0,9 bis 1,5 Prozent, zwischen 1995 und 2000 war sie auf de facto null Prozent gesunken, für 2020 bis 2025 ist mit einem Minuswachstum von - 0,6 Prozent zu rechnen. Vgl. FAZ vom 14. 6. 2002.

  17. Vgl. JSPS (Japan Society for the Promotion of Science), Newsletter, (Herbst 2002) 46, S. 4.

  18. Vgl. Masahiro Yamada, The Growing Crop of Spoiled Singles, in: Japan Echo, (2000) 6, S. 49.

  19. Vgl. ebd.

  20. Vl. Yuji Genda, Don't Blame the Unmarried Singles, in: ebd., S. 54ff.

  21. Vgl. Financial Times/Japan Times vom 19. 9. 2002.

  22. Vgl. ebd. Vom 30. 9. 2002.

  23. Vgl. Economist vom 7. 9. 2002, S. 61.

  24. Vgl. Ichiko Fuyuno, Turning the Corner, in: Far Eastern Economic Review vom 25. 7. 2002, S. 44.

  25. Vgl. Financial Times Deutschland vom 14. und 18. 6. 2002.

  26. Vgl. Eugene Matthews, Koizumi's phoney reforms, in: Financial Times vom 1. 8. 2002.

  27. Vgl. Far Eastern Economic Review vom 2. 5. 2002, S. 17/18.

  28. Vgl. Economist vom 7. 9. 2002, S. 12; Far Eastern Economic Review vom 26. 9. 2002, S. 24.

  29. Vgl. Japan Times/online vom 30. 10. 2001; Newsweek vom 15. 10. 2001, S. 47; SDF = Self Defence Forces.

  30. Vgl. Newsweek vom 15. 10. 2001, S. 47.

  31. Am 25. September stimmten 70 Prozent der Bevölkerung dem Einsatz der SDF zu; vgl. Nikkei vom 25. 9. 2001.

  32. Vgl. Far Eastern Economic Review vom 4. 10. 2001, S. 32.

  33. Vgl. Mainichi Daily News/online vom 20. 9. 2001.

  34. Vgl. Japan Times/online vom 19. 9. 2001.

  35. Vgl. ebd.

  36. Vgl. ebd. vom 17. und 19. 9. 2001; The Daily Yomiuri/online vom 17. 9. 2001; Mainichi Daily News/online vom 18. 9. 2001.

Dr. phil, geb. 1943, o. Professor an der Universität Hamburg am Asien-Afrika-Institut, Japan-Abteilung.
Anschrift: Universität Hamburg, Von-Melle-Park 6, 20146 Hamburg.
E-Mail: E-Mail Link: manfred.pohl@uni-hamburg.de

Veröffentlichungen u.a.: (Hrsg.) Japan - Politik und Wirtschaft, Hamburg: Institut für Asienkunde, seit 1976; (zus. M. Jürgen Mayer) Länderbericht Japan, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 19962; Japan, München 19983; Geschichte Japans, München 2002.